Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg | WOZ Die Wochenzeitung

2022-08-27 17:49:26 By : Ms. Chelsey Wu

Hier berichtet die WOZ-Redaktion regelmässig über den Krieg gegen die Ukraine. Der Blog bietet keine Nachrichtenübersicht, sondern behandelt Aspekte, bei denen unsere Redaktor:innen über Expertise verfügen. Auch möchten wir im Blog nach Möglichkeit Ukrainer:innen und Russ:innen das Wort geben.

Wir sind überzeugt, dass es in diesen Zeiten, in denen Nationalismus und Militarismus erstarken, in der Schweiz eine publizistische Stimme braucht, die sich konsequent für Frieden und Abrüstung einsetzt.

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«Krieg? Doch nicht in Europa». Mit diesem Titel startete am 6. März der WOZ-Blog zum Krieg gegen die Ukraine. Seither sind gut achtzig Beiträge erschienen: Reportagen, Interviews mit Linken in der Ukraine und Analysen zwischen Ost und West. Nun ist vorerst Schluss. Nicht weil wir uns an den Krieg gewöhnen wollen, sondern weil wir unsere Kräfte bündeln müssen. Wir werden nach der Sommerpause in der Zeitung weiterhin ausführlich über die Entwicklung in der Ukraine und in Russland berichten und für Aktualitäten und Vertiefungen gelegentlich auf den Blog zurückgreifen.

Ein Dankeschön gilt allen Autor:innen, die Beiträge beigesteuert, und auch Raphael Albisser, Georg Bauer, Anna Jikhareva, Kaspar Surber sowie Korrektorat, Bild- und Abschlussredaktion, die sie produziert haben. Und schliesslich dem Pro-WOZ-Recherchierfonds, der die Arbeit finanziert hat. Alle hier publizierten Beiträge können natürlich weiterhin gelesen werden. Und falls Sie unsere Arbeit unterstützen möchten, können Sie das am einfachsten mit einem Abo tun: www.woz.ch/abo.

Von Daniela Prugger (Text und Foto), Kyjiw

«Unser Bankkonto ist gesperrt, und wir haben kein Recht, zu wirtschaften»: Aliaxander Haikowitsch (Zweiter von links) und das restliche Team der Karma-Bar in Kyjiw.

Seit Kriegsbeginn wurden nicht nur die Bankkonten russischer Staatsbürger:innen in der Ukraine eingefroren. Auch Menschen, die einst vor dem belarussischen Regime flohen, sind von den Massnahmen betroffen. Nun bangt auch eine Bar in Kyjiw um ihre Zukunft.

Die Adresse der Karma-Bar sucht man im Internet vergeblich. Eine unscheinbare Kellertür, kein Hinweisschild, nur eine Sprechanlage neben der Tür. Drinnen tönt psychedelische Rockmusik aus den Boxen, in der Luft hängt der Geruch von Räucherstäbchen, weiter hinten wird geraucht. Auf der Toilettentür kleben Antifa-Sticker, darunter steht: «Migration is fancy». Mit ihren sowjetischen Möbeln, die vom Sperrmüll geholt oder im Internet zusammengesucht und restauriert wurden, wirkt die Karma-Bar wie eine x-beliebige Hipsterkneipe. 

«Wir lassen mittlerweile nur noch Freunde rein», sagt Aliaxander Haikowitsch, der Barkeeper, der im Jahr 2020 nach den Protesten gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko seine Heimatstadt Minsk verlassen und in Kyjiw neu angefangen hat. Mit einem Glas Limonade in der Hand zeigt er die Räume, die seit Monaten keine Partygäste, sondern nur noch humanitäre Hilfsgüter und freiwillige Helfer:innen gesehen haben. Obwohl das Leben langsam wieder nach Kyjiw zurückkehrt, bleibt die Karma-Bar weiterhin geschlossen. 

Auf der Suche nach Investoren

Seit Kriegsbeginn wird belarussischen und russischen Staatsbürger:innen das Betreiben von Unternehmen und gastronomischen Einrichtungen in der Ukraine erschwert, werden ihre Bankkonten eingefroren. Offiziell, um die Finanzierung terroristischer Aktivitäten zu bekämpfen, wie es in einer Erklärung der Nationalbank heisst. «Ich habe dafür Verständnis. Es herrscht Krieg. Aber das hier ist nur eine Bar, und seit mehr als vier Monaten wurden keine Mechanismen geschaffen, damit Leute wie wir aus dieser Situation herauskommen», sagt Haikowitsch. 

Der 31-Jährige ist einer von mehr als 10 000 Belaruss:innen, die in den letzten zwei Jahren in die Ukraine geflohen sind. Als er nach Kyjiw kam, wurden die geflüchteten Regimegegner:innen mit offenen Armen empfangen – in der ukrainischen Hauptstadt überwogen das Verständnis und die Sympathie füreinander. Damit sei die Eröffnung der Karma-Bar eine Formalität gewesen, so Haikowitsch. 

Doch dann griff Russland die Ukraine an, und seit dem ersten Kriegstag werden auch aus dem Gebiet der Republik Belarus Raketen auf ukrainische Städte und Dörfer abgefeuert. Nun kämpft Haikowitsch für das Überleben seiner Bar.

Für Kreative und Oppositionelle aus der belarussischen Diaspora ist die Undergroundbar noch immer einer der wichtigsten Treffpunkte in Kyjiw. Haikowitsch sucht verzweifelt nach neuen Investoren, die im Gegensatz zu ihm keinen belarussischen Pass besitzen. «Wir haben alle Lizenzen für den Ausschank von Alkohol, für die Küche. Aber wir sind nun mit der surrealen Situation konfrontiert, dass unser Bankkonto gesperrt ist und wir kein Recht haben, zu wirtschaften», sagt Haikowitsch, der die Karma-Bar gemeinsam mit Freund:innen betreibt.

Einer von ihnen ist Gleb Kowaljow. Der 30-Jährige floh am 24. Februar aus Kyjiw nach Warschau. «Wir haben die Bar im vergangenen Jahr aufgesperrt», erinnert er sich am Telefon. «Damals war es noch eine noble Sache, wenn man als Belarusse, der vor dem Lukaschenko-Regime geflohen ist, in Kyjiw etwas aufgebaut hat.»

«Lukaschenko vertritt nicht die Bevölkerung»

«Die Ukrainer wissen, dass Belarus einen selbsternannten Präsidenten hat, der ein autokratisches Regime führt», erklärt Roman Nekoliak, Experte für internationales Recht am Zentrum für bürgerliche Freiheiten in Kyjiw. Doch aus ukrainischer Perspektive sei Belarus seit Februar Teil der russischen Kriegsanstrengungen. «Lukaschenko und sein Regime vertreten nicht die belarussische Bevölkerung. Sie haben sich mit Unterstützung von Putins Russland an der Macht gehalten und das Land mit Menschenrechtsverletzungen überzogen», sagt Nekoliak. 

Im Jahr 1999 erklärten Russland und Belarus im Zuge ihrer Vereinigung zu einem Unionsstaat ihre verteidigungspolitische Integration. «Die belarussische politische Führung – nicht das belarussische Volk – hat während des russischen Einmarschs in der Ukraine nicht den Wunsch gezeigt, neutral zu bleiben», so Nekoliak. Zwar habe Kyjiw die diplomatischen Beziehungen mit Minsk noch nicht gestoppt und betreibe noch immer Handel mit dem Nachbarland, doch die Situation sei angespannt. «Durch diplomatische Beziehungen versucht die ukrainische Regierung, Belarus davon abzuhalten, seine Armee in der Nordwestukraine einzusetzen», sagt Nekoliak. 

Ein Treffpunkt für Andersdenkende

Getrieben von der Angst, erneut unter einem totalitären Regime leben zu müssen, die gewonnene Freiheit zu verlieren und im Alltag Anfeindungen vonseiten der Ukrainer:innen zu erleben, haben viele Belaruss:innen Kyjiw nach Beginn des Krieges verlassen – in Richtung Polen, Armenien oder Georgien. Kowaljow hat in Warschau mittlerweile einen Ableger der Karma-Bar eröffnet, ein weiterer soll bald in Danzig aufsperren. 

Das Konzept der Bars ist jenem der ursprünglichen Karma-Bar in Minsk nachempfunden, die vor sechs Jahren als gemütliche Kneipe für Studentinnen, Künstler, Musiker:innen startete. Das enge Kellerlokal mit den ungemütlichen Möbeln und Graffiti an den Wänden wurde schnell zum Treffpunkt für politisch Andersdenkende. So lange, bis die Spezialeinheit der belarussischen Polizei im Protestjahr 2020 auch seine Tür eintrat. 

«Wir haben die Tattoo- und Stickerkultur unterstützt und die linke Untergrundszene versammelt. Damit waren wir dem Regime ein Dorn im Auge», erzählt Kowaljow, der wegen seiner Tattoos auf Stirn, Wange und Hals in Minsk zahlreiche Male von der Polizei auf der Strasse angehalten und kontrolliert wurde. «Die Menschen in der Ukraine sind traurig. Sie sind wütend. Das verstehe ich. Sie kämpfen für ihr Land», sagt er. «Aber sie sind auch wütend auf uns Belarussen. Dafür, dass wir nicht mit Waffen gegen die Russen kämpfen.»

Bangen um den Aufenthalt 

Während Kowaljow in Polen versucht, Belarussinnen und Ukrainer im Exil wieder zusammenzubringen, an einen Tisch, vor ein DJ-Pult, blieb Aliaxander Haikowitsch mit seiner ukrainischen Ehefrau in Kyjiw. So wie viele seiner Landsleute bangt auch er um seine temporäre Aufenthaltserlaubnis, die jährlich erneuert werden muss. 

Der Sprecher des staatlichen Migrationsdiensts erklärt auf Anfrage zwar, dass es für belarussische Staatsbürger:innen seit Beginn des Angriffskriegs «keine Verbote und Einschränkungen im Bereich der Verwaltungsdienstleistungen gibt» und diese «die Ausstellung von Dokumenten in Übereinstimmung mit der geltenden Gesetzgebung der Ukraine frei beantragen können», Betroffene berichten dennoch von zahlreichen Hürden. 

«Wir können uns in der Ukraine frei auf der Strasse bewegen», sagt Haikowitsch. «Aber wir haben ständig Angst, dass wir von der Polizei kontrolliert werden und etwas mit unseren Papieren nicht in Ordnung ist.» In den nächsten Wochen entscheidet sich, ob auch er nach Warschau ziehen wird. Seine Aufenthaltsgenehmigung läuft in einem Monat aus.

Was darf noch rein nach Kaliningrad? Ein polnischer Grenzpfosten im sogenannten Suwalki-Korridor, der kürzesten Verbindung zwischen der russischen Exklave und Belarus. Foto: Kacper Pempel, Reuters

Seit Mitte Juni sperrt Litauen für bestimmte Güter den russischen Transitverkehr in die Ostseeexklave Kaliningrad. Nun hat der baltische Staat die Sanktionsliste abermals verschärft. Ein riskantes Vorgehen.

Russland kann bestimmte Hightechprodukte und Baumaterialien weder auf der Strasse noch den Schienen in seine Exklave Kaliningrad liefern. Diese faktische Blockade des russischen Transitverkehrs durch Litauen birgt gefährliches Potenzial. Der knapp drei Millionen Einwohner:innen zählende Staat im Baltikum wendet die Sperrung seit dem 17. Juni an; der Transit für Personen und manche Güter wie etwa Lebensmittel ist weiter möglich.

Russland kann die Teilblockade des rund eine Million Einwohner:innen zählenden Oblast Kaliningrad via See- und Luftweg zwar umgehen. Doch es geht auch um symbolische Faktoren – und militärische Fragen. Daher wollte die EU-Kommission vor dem 10. Juli, dem Inkrafttreten des nächsten Sanktionspakets, den Transitverkehr durch Litauen – wie vor dem 17. Juni – wieder zulassen.

Die Verhandlungen zwischen Brüssel und Vilnius sind laut Medienberichten aber vorerst gescheitert, weil Litauen nicht nachgeben will. Und so stehen seit Sonntag zusätzlich auch Stahl, Zement, Beton, Holz, Alkohol und Industriechemikalien auf Alkoholbasis auf der Liste der Sanktionsgüter. Der Kreml kündigte «harte Massnahmen» an.

Der Streit um den Kaliningradtransit ist ein Lehrstück, wie Kurzschlussreaktionen, fehlende Abstimmung und ein Mangel des Denkens «vom Ende her» zu ungewollter Eskalation beitragen. Denn laut Medienberichten wusste die EU-Spitze im Juni nicht davon, dass Litauen eine Blockade auf Basis des vierten Sanktionspakets erwogen hat. Laut Angaben der «Süddeutschen Zeitung» hatte die litauische Regierung vor dem 17. Juni die EU zwar um Weisung gebeten und als Antwort ein Ja zur Blockade erhalten – doch offenbar habe die Entscheidung «die oberste Etage der Kommission nicht erreicht, und unklar ist, ob Falken in der Kommission in Absprache mit der litauischen Regierung Fakten schaffen wollten», berichtete die Zeitung am Sonntag.

In Litauen, neben Estland und Lettland einer der drei baltischen Staaten, die sich 1990 und 1991 die Unabhängigkeit von der zerfallenden Sowjetunion erstritten und erkämpften, will die Regierung nichts von einem Ende der Transitsperre wissen. In der Öffentlichkeit dominiert die Position, man dürfe vor Russland keinen Rückzieher machen.

Politologieprofessor Andrzej Pukszto von der Vytautas-Magnus-Universität im litauischen Kaunas sagte jüngt in einem Interview für mehrere deutsche Zeitungen: «Litauen verweist auf die Sanktionsbeschlüsse der EU. Man kann sich zwar die Frage stellen, ob Litauen das nicht unter den Tisch fallen lassen könnte. Aber das würde der gesamten litauischen Politik sowie der Politik aller Länder Mittel- und Osteuropas widersprechen. Gerade diese Staaten haben die Notwendigkeit von Sanktionen gegen Russland stets betont. Litauen, ebenso wie Polen, haben sich sogar beschwert, dass die Sanktionen nicht weit genug gingen. Und jetzt soll Litauen die Sanktionen einfach vergessen? Das geht nicht.»

Nun besteht das Szenario, die Mitte-rechts-Regierung von Premierministerin Ingrida Simonyte könnte auseinanderfallen, sollte sie zum Rückzieher gegenüber Russland gezwungen werden – ein Umstand, der wohl kaum im Sinne der EU wäre. Litauens Präsident Gitanas Nauseda, im semipräsidentiellen System Litauens mit einem starken aussenpolitischen Mandat ausgestattet, befürwortet die Blockade nachdrücklich. «Wir möchten betonen, dass es keinen grünen Korridor für spezielle Waren geben sollte», sagte er Ende Juni. Als Nato-Mitglied wähne sich Litauen zudem in militärischer Sicherheit, so Nauseda.

Polens Premierminister Mateusz Morawiecki indes hat zuletzt einen «Plan zwischen Russland und der EU» über die Regelung des Transits angemahnt. Das heisst: Die polnische Regierung beharrt nicht auf der Teilblockade. Das Land grenzt auf etwa hundert Kilometern an Litauen. Diese Landgrenze zwischen den beiden Nato-Mitgliedern, der sogenannte Suwalki-Korridor, stellt gleichzeitig die kürzeste Verbindung zwischen Kaliningrad und Belarus dar. So ist sie zuletzt in den geopolitischen Fokus gerückt – als mögliches Angriffsziel der russischen Streitkräfte.

In der EU ist es die deutsche Bundesregierung, die am stärksten an einer Beendigung der Sperrung interessiert ist. Deutschland ist Führungsnation der multinationalen «Nato-Battlegroup» in Litauen und hat dort gut 1000 eigene Soldat:innen stationiert, bald sollen es 1500 werden – und die sollen möglichst nicht in Gefahr geraten.

Zugleich dürften der jüngst erfolgte Stopp der Gaslieferungen über die Nord-Stream-1-Pipeline nach Deutschland und das Katz-und-Maus-Spiel um die Wiederaufnahme der Lieferungen Teil der «praktischen Reaktion» Russlands auf die Transitbeschränkungen sein. Es verwundert daher nicht, dass Bundeskanzler Olaf Scholz für ein Ende der Transitblockade eintritt, «im Lichte der Tatsache, dass es hier um den Verkehr zwischen zwei Teilen Russlands geht», wie er beim Nato-Gipfel in Madrid sagte. Es gehe darum, «hier eine Deeskalationsdynamik zu etablieren», so Scholz.

Seine Position ist nachvollziehbar, denn die Ostsee ist ein hochexplosiver Raum. Wladimir Putin kann die strategisch wichtige Ostsee kaum aufgeben. Der Seeweg aus Russland nach Kaliningrad führt durch den Finnischen Meerbusen – und somit zwischen Nato-Mitglied Estland und Finnland durch, ebenfalls bald Nato-Territorium. Die Hafenstadt Kaliningrad ist Heimat der russischen Ostseeflotte, Moskau hat nach eigenen Angaben dort rund 50 000 Soldaten und seit 2016 atomwaffenfähige Iskander-Raketen stationiert.

«Der Wiederaufbau sollte sich nicht an den Interessen der Staaten oder Firmen ausrichten, sondern an jenen der Menschen»: Oxana Pokaltschuk im Amnesty-Büro in Lugano. Foto: Sarah Rusconi

Oxana Pokaltschuk ist Direktorin von Amnesty International in der Ukraine. In einem Interview am Rand der Lugano-Konferenz fordert sie mehr Aufmerksamkeit für die Binnenvertriebenen und spricht über die schwersten Kriegsverbrechen.

WOZ: Oxana Pokaltschuk, an der Ukrainekonferenz in Lugano letzte Woche wurde viel über den Wiederaufbau des Landes geredet, über eine blühende Ukraine der Zukunft. Die humanitäre Situation und die benötigte Hilfe waren kaum ein Thema. Ist das ein Fehler?

Oxana Pokaltschuk: Die Konferenz ist ein Anfang, ein erster Schritt hin zur Solidarität. Wir sind sehr dankbar, dass so viele Staaten und Institutionen die Ukraine unterstützen, die Infrastruktur und die Wirtschaft. Doch leider habe ich in Lugano nichts von den Menschenrechten gehört. Einzig die EU-Kommission will fünfzig Millionen Euro für die demokratische Entwicklung der Ukraine zur Verfügung stellen. Das wars dann aber auch schon. Meiner Meinung nach hätte an der Konferenz die Zivilgesellschaft weit mehr involviert und angehört werden sollen. Denn ohne einen klaren Fokus auf die Menschenrechte wird auch keine dauerhafte Stabilität des Landes erreicht werden.

Amnesty International forderte bereits vor der Konferenz, die Menschenrechte müssten im Zentrum des Wiederaufbaus stehen. Was meinen Sie damit konkret?

Dass der Wiederaufbau nicht an den Interessen des Staates oder der grossen Firmen ausgerichtet wird – sondern nach den Bedürfnissen der Individuen. Wenn wir uns überlegen, wie wir das Land wieder aufbauen sollen, müssen wir zuerst an die Leute denken, die unter dem Krieg leiden und Unterstützung brauchen. Ich bin überzeugt: Ohne einen angemessenen Einbezug der Menschenrechte in den Entwicklungsprozess werden wir in drei Jahren ohne Geld dastehen – und keine positiven Ergebnisse erzielt haben.

Die ukrainische Regierung hat in Lugano erstmals ihren Wiederaufbauplan präsentiert. War Amnesty eingeladen, Ideen zu diesem Plan beizutragen?

Wir waren nur eingeladen, an der Konferenz teilzunehmen, doch im Vorfeld wurden wir nicht angehört. Amnesty ist eine grosse, internationale Organisation und wir haben eine Menge Erfahrung mit Konflikten. Es ist schade, dass unser Know-how – wie auch das von Grassroots-Bewegungen – nicht für diesen Prozess genutzt wird.

Und was denken Sie über den Wiederaufbauplan?

Wir müssen zuerst mehr Details sehen, im Moment klingt der Plan noch sehr wolkig. Frei nach dem Motto: Gebt uns Geld, wir halten uns dafür an einige Prinzipien. Für uns ist es sehr wichtig, dass die Ukraine zuerst Hilfe für marginalisierte Gruppen erhält, besonders für die Binnenvertriebenen. Der Winter wird kommen, und wo sollen dann all die Leute wohnen? Auch die medizinische Unterstützung ist wichtig.

Können Sie die Situation der Binnenvertriebenen näher beschreiben?

Immer mehr Leute fliehen aus dem Osten ins Landesinnere und nach Westen. Die Regierung stellt ihnen temporäre Bauten zur Verfügung, sie haben also im Moment ein Dach über dem Kopf und sanitäre Anlagen, verfügen aber über keine Heizungen. Diese Bauten sind sicher das Beste, was kurzfristig möglich ist – aber sie sind nicht geeignet für den Winter. Der ist in der Ukraine sehr kalt, ohne Heizung übersteht man ihn nicht. Die grosse Frage ist also, was wir für diese Leute tun können. Sicher kann man die zerstörten Gebäude wieder aufbauen, aber das geht selbstverständlich nicht so schnell. Ich hoffe, dass die Regierung hier eine Lösung findet.

Was können internationale Organisationen oder auch Staaten wie die Schweiz tun, um Hilfe zu leisten?

Am wichtigsten sind Ideen. Es gibt bestimmt irgendwo auf der Welt Lösungen, wie diesen Menschen praktisch geholfen werden kann – vielleicht auch in der Schweiz. Ich denke, es ist im Interesse aller Beteiligten, sich um die Binnenvertrieben zu kümmern. Der Krieg wird nicht bald enden, und es ist besser, die Leute in der Ukraine zu unterstützen, als dass diese nach Westeuropa fliehen müssen.

Neben dem Bedürfnis nach einer Wohnung für den Winter: Was ist derzeit das grösste humanitäre Problem für die Menschen in der Ukraine?

Die Sicherheit. Die Raketen schlagen überall ein. Sie werden zufällig abgeschossen, können überall landen, und niemand kann sich sicher fühlen. Denken wir an den Beschuss eines Einkaufszentrums in Krementschuk Ende Juni. Was war der Grund, es zu beschiessen? Wenn da eine Nato-Basis gewesen wäre, dann könnte man das immerhin noch begründen. Aber so? Und warum haben sie am Tag angegriffen und nicht in der Nacht? Sie haben die Raketen abgefeuert, als sehr viele Leute in dem Geschäft drin waren.

Was ist das bisher schlimmste Kriegsverbrechen der russischen Armee?

Für mich ist es der Raketenangriff auf das Theater von Mariupol. Es war völlig klar, dass es sich um ein ziviles Ziel handelt. Wir von Amnesty haben in einer Untersuchung klar bewiesen, dass es sich um ein Kriegsverbrechen handelt. Überhaupt ist die Zerstörung von Mariupol ein unfassbares Verbrechen. Wir haben keine Vorstellung, was dort passiert ist. Auch nicht, wie viele Menschen getötet wurden. Wir haben Bilder von Massengräbern. Wie viele Menschen sind darin begraben?

Aufgrund des russischen Angriffs ist die Ukraine selbst zur Kriegspartei geworden. Was wissen Sie über Menschenrechtsverletzungen der ukrainischen Truppen?

Es gibt grundsätzlich keine Möglichkeit, dass eine Armee während eines Krieges keine Verbrechen begeht. Unser Problem ist derzeit, dass die Gebiete, auf denen wir solche seitens der ukrainischen Armee befürchten, besetzt sind. Man muss ins Feld gehen können, um Kriegsverbrechen zu untersuchen. Sobald es möglich ist, werden wir das auch tun.

Wie ist Ihr Verhältnis zur ukrainischen Regierung? Kann Amnesty seine Arbeit unabhängig machen?

Bisher stellt sich die ukrainische Regierung unserer Kritik. Sie fragen uns, wie sie die Menschenrechte besser garantieren können. Sie sind wirklich offen. Doch leider gibt es sehr viele aggressive Reaktionen aus der Gesellschaft auf unsere Kritik. Dieser Krieg, das muss man verstehen, hat für jede und jeden eine persönliche Dimension, jede Person ist involviert. Jede Familie hat eine Geschichte: dass jemand im Militärdienst ist, verletzt wurde oder getötet. Dass das Haus zerstört wurde. Wenn man also die Ukraine kritisiert, fühlen sich viele persönlich angegriffen. Normalerweise ist das umgekehrt: Die Regierung ist nicht glücklich, wenn man sie kritisiert. Und die Gesellschaft findet es gut.

Oxana Pokaltschuk ist seit 2016 Direktorin von Amnesty International in der Ukraine. Zuvor arbeitete die Anwältin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.

Ein Gastbeitrag von Alexander Estis*

Glücklicherweise wird er in Russland bis heute gelesen und verstanden: Büste von Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809–1852). Foto: Imago

Dogma, Ressentiment und Gerücht: Was Nikolai Gogol in der russischen Gesellschaft schon vor fast 180 Jahren beobachtete, scheint heute wirkmächtiger denn je. Und zwar gezielt kultiviert.

«Noch nie gab es in Russland eine solch unvorstellbare Vielfalt und Ungleichheit von Meinungen und Überzeugungen aller Menschen, noch nie […] solch eine Zwietracht in allen Belangen. Durch all dies weht ein Geist des Gerüchts, der leeren oberflächlichen Folgerungen, des dämlichsten Klatsches, einseitiger und nichtiger Schlüsse.»

Dies ist ein Zitat des ukrainisch-russischen Schriftstellers und Dramatikers Nikolai Gogol aus dem Jahr 1845 – und es scheint heute aktuell wie nie. Und sind nicht gerade Eris, die Zwietracht, und Ossa, die Göttin des Gerüchts, bei Homer die kriegstreibenden Kräfte? Heute wäre Ossa wohl auch die Schutzgöttin der Propaganda.

An dieses Gogol-Zitat muss ich jedenfalls denken, als ich mit einem der wichtigsten russischen Experten für Sozialpsychologie und Kriminologie über die russische Gesellschaft spreche. «Es gibt n Russlands», sagt der Experte, «also nicht das eine Russland, sondern viele. Moskau unterscheidet sich von anderen Städten. Kleine Städte unterscheiden sich von grossen. Die Reichen vom Mittelstand, der Mittelstand von den unteren Schichten. Es handelt sich nicht nur um andere Lebensformen, sondern es bestehen auch mentale Unterschiede. Diese Unterschiede sind äusserst gravierend und deshalb sehr wichtig, weil Politiker und Politologen, sowohl die westlichen als auch die russischen, hierin oft fehlgehen. Schon die Hauptstädter verstehen die Provinz nicht. Die Provinz lebt ihr eigenes Leben, und auch dort bestehen wiederum vielfache Schichtungen. Viele Studien zeigen, dass die gegenseitige Ablehnung, ja der Hass zwischen diesen Schichten zunimmt. Oft wird dabei ein potenziell gemeinsames Weltbild durch oberflächliche Losungen ersetzt. Diese kommen nicht zwingend von oben, sondern oft auch von unten. Jeder denkt, dass er alles verstehe. Es gibt endlose Spekulationen.»

Dieses Allesverstehen, der Mangel kritischer Hinterfragung der eigenen Positionen schienen mir schon immer ein Charakteristikum weiter Teile der russischen Bevölkerung zu sein. Damit will ich keinesfalls behaupten, es gebe so etwas wie eine grundlegende mentalitätsbasierte Veranlagung dieser Art. Vielmehr handelt es sich hier meines Erachtens um das Produkt zahlreicher regressiver Faktoren, die in Russland traditionellerweise – und seit mindestens zwei Jahrzehnten wieder verstärkt – kultiviert werden, weil sie den Machthabern in die Hände spielen.

Zu diesen Faktoren zählen in erster Linie diverse gefährliche Merkmale postsowjetischer Pädagogik und Bildung: Häusliche wie schulische Erziehung in Russland sind nach wie vor autoritär, rigide und neurotisierend. Über Generationen hinweg wird Aber- und Wunderglaube tradiert; die orthodoxe Kirche zwängt schon die formbare Kinderpsyche mittels Einflössung von Angst und Schuld in ein ideologisches Korsett, das keine Luft zum Zweifeln lässt. Auf diese Weise lernen die Bürger:innen schon früh, der Autorität bedingungslos zu gehorchen und blind an realitätsferne Dogmen zu glauben, was sie zu willfährigen Opfern staatlicher Propaganda formt. Nicht umsonst hat die Kirche in Putins Regierungszeit immer grössere Macht erlangt.

Das über Erziehung, Religion und Propaganda vermittelte kollektive Bewusstsein der eigenen nationalen Überlegenheit kollidiert immer wieder mit der individuellen Einsicht in Missstände der eigenen Lebensrealität – wie auch mit der Wahrnehmung, dass man vom «Westen» abgehängt worden sei. Aus dieser Kollision resultiert oft ein komplexartiger Trotz, ein unerschütterlicher patriotisch-imperialer Ersatzstolz bei gleichzeitiger Anerkennung der individuellen Nichtigkeit: Sich selbst begreift man als klein, Vater Staat mit dem Zaren hingegen als übergross. Das Ressentiment richtet sich dann schnell gegen alles, was «unrussisch» oder erst recht «antirussisch» ist – all dasjenige also, was der eigenen dogmatischen Auffassung von Russland widerspricht.

Dümmlich plump und effektiv

Ein Faktor hat diese Ressentiments wesentlich intensiviert. Wie Untersuchungen des oben zitierten Psychologen zeigen, verlieh die Covid-Pandemie der steigenden Feindseligkeit zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten einen regelrechten Schub. Heute sehen wir, dass solche primitivistischen Russlandbilder, wie das Misstrauen und die Feindseligkeit im Dienste des Krieges, nicht bloss instrumentalisiert, sondern bewusst geschürt werden, während jeglicher Widerstand im Keim erstickt wird. Gab es zu Beginn der Kriegshandlungen immerhin noch eine leise Hoffnung, dass sich zumindest stiller Widerstand durch verschiedene Schichten hindurch konsolidieren könne, kann man nunmehr beobachten, wie die Führung solche Prozesse durch Zensur, Einschüchterung und die Belohnung von Denunziantentum sabotiert.

Vor allem aber provoziert jetzt die Propaganda all die oben beschriebenen nationalistischen Komplexe und archaischen Reflexe auf mitunter überraschend effektive Art: Man findet sich in einem Horrorszenario wieder, in dem Schläferzombies per Fernsteuerung aktiviert werden, nachdem ihre Hirne über viele Jahre hinweg allmählich präpariert wurden. Die dümmliche Plumpheit dieser Propaganda, die früher an ihrer Wirksamkeit zweifeln lassen konnte, entspricht dabei dem gogolschen «Geist des Gerüchts», den «leeren oberflächlichen Folgerungen», den «einseitigen und nichtigen Schlüssen» und kann auf diese Weise organisch wirken. Glücklicherweise gibt es auch heute noch nicht wenige Russ:innen, die Gogol lesen und verstehen.

* Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lebt als freier Autor in Aarau. Letztes Jahr erschien von ihm das «Handwörterbuch der russischen Seele». Im WOZ-Blog zum Krieg gegen die Ukraine wurden bereits mehrere Texte von ihm publiziert, zuletzt eine Analyse des russischen Nazismus-Begriffs. Mehr Infos auf: www.estis.ch

Interview: Anna Jikhareva und Kaspar Surber

«Es herrscht Krieg. Danach können wir bei der grünen Wirtschaft konsequenter sein»: Herman Haluschtschenko Foto: Alessandro della Valle, EDA, Keystone

Der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko erklärt bei der Ukrainekonferenz in Lugano, wie er im Krieg die Energieversorgung sichern will. Und warum er neue Atomkraftwerke plant.

WOZ: Herr Haluschtschenko, der russische Angriff auf die Ukraine ist auch ein Krieg um Energie, der ganz Europa betrifft. Was sind für Sie als Energieminister die drängendsten Fragen?

Herman Haluschtschenko: Mit der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl und russischer Kohle sind wir schon lange konfrontiert, denn die Ukraine befindet sich seit 2014 im Krieg. Wir wissen seit Jahren, dass man gar nichts machen kann, wenn Russland von einem Tag auf den anderen plötzlich die Lieferungen stoppen sollte. Für Europa ist das aktuell die drängendste Frage. Russland versucht, durch Ressourcen wie Gas die Solidarität zwischen den europäischen Ländern zu brechen. Es gibt eine lange Geschichte dieses russischen Stils, auf andere Länder Einfluss zu nehmen. Wir haben unseren europäischen Partnern schon beim Bau der Pipeline Nord Stream 2 gesagt, dass mögliche Profite Russland nicht von einer Einflussnahme abhalten. Die Russen sind bereit, Geld zu verlieren, um politische Vorteile zu erhalten.

Was ist aus ukrainischer Sicht die grösste Herausforderung bei der Energieversorgung?

Wir bereiten uns gerade auf die nächste Heizsaison vor, was ziemlich schwierig ist. Die letzte endete im Krieg, viele Stromanlagen und die Gasversorgung sind zerstört und derzeit sehr schwierig zu reparieren. Der aktuelle Krieg ist ganz anders als jener, der 2014 begann. Heute werden alle Regionen des Landes beschossen. Das heisst, auch die Infrastruktur ist nicht sicher – ob man nun nahe der Front wohnt oder nicht. Das ist für uns eine grosse Herausforderung.

Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Menschen in der Ukraine im nächsten Winter heizen können?

Wir haben schon viele Vorkehrungen getroffen. Doch die entscheidende Frage ist natürlich, wie lange der Krieg weitergeht. Grundsätzlich weiss ich, welche Ressourcen wir haben – aber ich weiss nicht, ob sie uns im Herbst zur Verfügung stehen werden. Das AKW in Saporischschja etwa, das grösste in Europa, ist unter russischer Besetzung, aber versorgt weiterhin das ukrainische Energiesystem. Wie es auf den Winter hin sein wird, wissen wir nicht. Oder was mit den Wärmekraftwerken passiert – wir haben im Osten schon einige verloren. Oder mit der Kohleproduktion, der Situation beim Gas. All diese Fragen hängen vom Krieg ab. Ich hoffe natürlich, dass wir unsere Gebiete und Anlagen zurückerobern können und dann die besten Voraussetzungen für eine gute Versorgung haben.

Sie haben das AKW in Saporischschja angesprochen, das zu Beginn des Krieges unter Beschuss geriet. Wie ist die Situation für die Arbeiter:innen dort, wie steht es um die Sicherheit?

Nur schon daran zu denken, tut mir weh. Der Angriff war schrecklich. Ich kann nicht glauben, dass jemand im 21. Jahrhundert ein AKW angreift. Da braucht man gar keinen Atomkrieg mehr. Als die Russen Saporischschja in der Nacht vom 3. auf den 4. März beschossen, haben sie auch fast ein Lager für benutzten Kernbrennstoff getroffen. Unsere Aufsichtsbehörde hat berechnet, dass es ein Desaster hätte geben können: Eine Atomwolke hätte entstehen können, und es wäre auf den Wind angekommen, in welche Richtung sie gezogen wäre.

Im Moment arbeitet ein ukrainisches Team dort, und die Anlage liefert Strom fürs ukrainische Netz. Schwierig ist, dass die russische Armee jetzt die Leute zwingen will, für den russischen Staatskonzern Rosatom zu arbeiten. Generell ist die Stimmung in Enerhodar, wo das AKW steht, proukrainisch. Weil die Mitarbeiter nicht kollaborieren, werden sie physisch bedroht. Zehn bis zwanzig Mitarbeiter wurden mitgenommen und wochenlang versteckt. Sie wurden geschlagen und zu einer Unterschrift gezwungen, dass sie für Rosatom arbeiten wollen. Gestern wurde ein Mitarbeiter umgebracht, weil er sich geweigert hat zu tun, was sie wollten. Sie haben ihn verprügelt, woraufhin er im Spital starb: «russian style». 

Sie haben die grosse Gefahr beschrieben, die von AKWs in einem Krieg ausgeht. Dennoch haben sich vor einigen Wochen das ukrainische Staatsunternehmen Energoatom und der US-Konzern Westinghouse auf den Bau von neun neuen Atomreaktoren verständigt. Wie rechtfertigen Sie dieses Projekt vor dem Hintergrund des Angriffs auf Saporischschja?

Die heutige US-Technologie ist viel weiter als die der sowjetischen AKWs. Ein Reaktorunfall ist also beinahe unmöglich. Aber unabhängig von der Technologie, die man benutzt, kann militärische Aggression eine Gefahr darstellen.

Deswegen fragen wir: Die Gefahr einer militärischen Aggression ist real.

Die Ukraine gewinnt mehr als die Hälfte ihrer Energie aus Atomkraftwerken, wir können nicht einfach so aus der Technologie aussteigen. Und auch in der EU verändert sich die Position, Atomenergie gilt nun als nachhaltig.

Sollen die neuen AKWs primär die Ukraine mit Energie versorgen, oder wollen Sie auch Elektrizität in die EU exportieren, deren Mitglieder stark von russischem Öl und Gas abhängig sind?

Beides ist möglich. Wir haben nach Kriegsbeginn unsere Netze mit der EU synchronisiert und haben nun auch die Möglichkeit, Elektrizität zu exportieren. Wir haben bereits mit einer Startmenge von hundert Megawatt begonnen.

Wie kam es eigentlich zum Deal mit Westinghouse? Kritiker:innen bemängeln, dass die Vergabe nicht öffentlich war und das Parlament nicht mitreden durfte.

Das wird der nächste Schritt sein. Natürlich müssen wir damit noch durchs Parlament, es braucht ein Gesetz, das stimmt. Das dauert sicher eine Weile, denn wir brauchen für die neuen Reaktoren viele Papiere. Und natürlich müssen auch alle Dokumente von der Aufsichtsbehörde überprüft werden. Es heisst also nicht, dass wir direkt mit dem Bau beginnen.

Wie viel soll das Projekt kosten, und wie soll es finanziert werden?

Es ist ein Riesenprojekt, die Durchschnittskosten eines Reaktors liegen irgendwo bei fünf Milliarden US-Dollar. Wir werden wohl einen Kredit der US-amerikanischen Exim Bank brauchen, da hat es schon einige Abmachungen gegeben.

Die ukrainische Regierung ist nach Lugano gekommen, um ihren Plan für den Wiederaufbau vorzustellen. Welche Rolle spielt darin die Energieversorgung, und wie soll diese in Zukunft aussehen?

Natürlich wollen wir weg von der fossilen Energie, das ist die Hauptaufgabe. Aber wir brauchen Zeit dafür. Wir müssen die Kohleproduktion auslaufen lassen und den Anteil der erneuerbaren Energie erhöhen. Da erzielten wir schon vor dem Krieg sehr gute Ergebnisse, wegen der Angriffe haben wir allerdings bis zu neunzig Prozent der Windenergie eingebüsst, weil der Süden des Landes besetzt ist. Und wir haben vierzig bis fünfzig Prozent der Solarenergie verloren. Vor allem im Süden gibt es viel Sonne und Wind, deshalb gewannen wir viele Erneuerbare dort. Ich hoffe, dass wir diese Anlagen nach dem Sieg reparieren können. Insgesamt wollen wir gemäss unserer Strategie ein Viertel der Energiegewinnung durch Erneuerbare ersetzen. In unserem Plan ist auch die Produktion von mehr als dreissig Gigawatt für Wasserstoff vorgesehen.

Umweltorganisationen kritisieren die Politik der ukrainischen Regierung, weil diese weiterhin zu sehr auf fossile Energien setze, statt eine grüne Wirtschaft aufzubauen. Was antworten Sie auf diese Kritik?

Meine Antwort ist: Es herrscht Krieg. Danach können wir konsequenter sein. Aber jetzt ist es meine Aufgabe, dass alle heizen können, da ist es mir egal, ob die Entscheidungen populär sind oder nicht. Ich habe schon viele unpopuläre Entscheide getroffen: So habe ich etwa den Export von ukrainischem Gas und von Kohle verboten – Unternehmen haben recht viel Geld verloren, aber das ist mir egal, wir sind schliesslich im Krieg. Zurzeit denke ich darüber nach, wie ich die Kohleproduktion hochfahren kann, denn wir brauchen diese Kohle.

Wie soll es danach mit der Kohleprodukton weitergehen?

Wir hatten einen ziemlich ambitionierten Plan für einen Übergang, der auch die Situation der Minenarbeiter berücksichtigt und für sie grüne Jobs schaffen soll. Jetzt sind leider viele Minen geschlossen, wir können sie nicht reparieren oder die Produktion wiederaufnehmen. Viele stehen unter Wasser. Ich möchte nicht sagen, dass der Krieg uns bei der Energiewende geholfen hat, aber um ehrlich zu sein: Wir haben viel über die Schliessung von Minen geredet, der Krieg hat sie nun zerstört.

Als grosses Problem der ukrainischen Stromversorgung gilt die mangelhafte Energieeffizienz der Gebäude. Ihre Beheizung erfordert unnötig viel Energie – was die Kosten massiv steigert.

Sie haben recht. Natürlich müssen wir uns überlegen, welche Materialien beim Wiederaufbau verwendet werden sollen. Da viele Städte zerstört sind, können wir nach dem Wiederaufbau nicht mehr auf das alte Versorgungssystem bauen. Wir diskutieren oft mit dem Präsidenten, wie die Städte künftig energieeffizient gemacht werden können. Und noch etwas ist wichtig: Wir müssen bei den neuen Wegen der Stromversorgung auch an die Sicherheit denken, etwa an die Bedrohung durch Raketenangriffe. Wir sollten keine Überlandstromleitungen mehr verwenden. Russland bleibt leider unser Nachbar, wir können ihn nicht einfach ignorieren.

Was sind Ihre Erwartungen an die Lugano-Konferenz? Und was fordern Sie von der Schweiz und den anderen westlichen Staaten?

Mein Ziel ist es, alle davon zu überzeugen, dass man am Beispiel der Ukraine die besten Technologien im Energiesektor ausprobieren kann. Wir sind an Vorschlägen aus dem Ausland sehr interessiert. Es ist dаs Gleiche wie zum Beispiel mit den Waffenherstellern: Um ehrlich zu sein, will hier jeder zeigen, dass seine Waffe effizient ist. Ich möchte zeigen, dass im Energiebereich jeder die Ukraine als Beispiel nehmen sollte.

Was können Länder wie die Schweiz beisteuern?

Wir hatten hier bereits eine Reihe von Treffen mit Schweizer Unternehmen aus dem Energiesektor. Das Gute an meiner Arbeit ist, dass ich ein Minister bin, der eine Menge Vorschriften macht. Während des Krieges haben wir gemäss den Gesetzen zusätzliche Macht. Was ich damit sagen will: Leute, ich habe diese Macht, sagt mir, was ihr braucht! Zum Beispiel braucht es normalerweise ein langwieriges Verfahren, um eine Lizenz oder eine Genehmigung zu bekommen. Aber jetzt kann ich das Verfahren beschleunigen. Sodass wir am Tag nach dem Krieg mit dem Bau beginnen können.

Herman Haluschtschenko ist seit April 2021 ukrainischer Energieminister. Der 49-Jährige studierte Jura und International Management und arbeitet danach in Lwiw als stellvertretender Staatsanwalt. Nach Stationen im Aussen-, Justiz- und Gesundheitsministerium, dem Präsidialamt und als Universitätsdozent wechselte er zum staatlichen Energieunternehmen Energoatom, wo er Vizepräsident war. Das Gespräch wurde am ersten Tag der Konferenz in Lugano geführt.

Der ukrainische Premierminister präsentiert in Lugano einen 21-bändigen Wiederaufbauplan: Denys Schmyhal am 4. Juli mit Bundespräsident Ignazio Cassis.Foto: Michael Buholzer, Reuters

Die ukrainische Delegation überrascht bei der Wiederaufbaukonferenz in Lugano mit einem detaillierten Vorschlag.

Was war im Vorfeld nicht alles spekuliert worden: Boris Johnson könnte kommen, der britische Premier, oder Olaf Scholz, der deutsche Kanzler. Und allenfalls sogar Wolodimir Selenski persönlich, es wäre der erste Auslandsbesuch des ukrainischen Präsidenten seit dem Angriff von Russland auf sein Land gewesen.

Doch die prominenten Gäste blieben aus, bald schon war in den Medien von einem B-Anlass die Rede. Als die Ukraine-Recovery-Konferenz an diesem Montag startet, regnet es zu allem Übel auch noch ins Tessiner Ferienpanorama hinein. Es kann nur besser werden.

Nachdem sich die Staats- und Regierungschef als erste Amtshandlung zum obligaten Gruppenbild vor dem Lago di Lugano aufgereiht haben, beginnen drinnen im Saal die Reden. Ignazio Cassis startet, und man hätte ihm hier bei seinem Heimspiel wirklich etwas Glück gewünscht.

Doch Cassis bilanziert schon zu Beginn, dass die Konferenz im Rückblick ein Meilenstein gewesen sein wird. Dann zitiert er noch Hermann Hesse. Wir wissen, er hat auch einmal im Tessin gelebt. Es kann wirklich nur besser werden. Und das wird es auch.

Live aus Kyjiw zugeschaltet spricht nun Wolodimir Selenski. In seiner Rede wird schnell klar: Die Ukrainer:innen haben ihre Arbeit gemacht – und einen Plan zum Aufbau des Landes nach Lugano mitgebracht, den sie hier erstmals präsentieren.

Selenski spannt in seiner Ansprache einen grossen Bogen: «Das ist kein Krieg irgendwo im Osten. Sondern ein Angriff auf die gesamte demokratische Welt. Ein terroristischer Staat prüft das demokratische System.» Die Angriffe auf zivile Ziele, auf Schulen oder Spitäler, zeigten: «Russland will nicht nur Mauern zerstören, sondern das friedliche Zusammenleben.»

Gerade deshalb sei es wichtig, bereits jetzt den Wiederaufbau zu planen, führt Selenski aus: als Zeichen, dass eine demokratische Gesellschaftsordnung stärker sei. Dieser Wiederaufbau werde nicht nur der Ukraine helfen. «Er wird auch die Europäische Union erneuern und die freie Welt vereinen.»

Es klingt durchaus verrückt. Aber die ukrainische Regierung sieht das tatsächlich so: Aus dem Krieg heraus soll ein neues Land entstehen, eine neue Gesellschaft begründet werden, wie es sie noch nicht gibt: digital, ökologisch, gesellschaftlich der Zeit voraus. Aber auch neoliberal offen für private Investitionen und Konzerne. «Ich lade Sie alle in die Ukraine ein!», schliesst Selenski.

Premierminister Denys Schmyhal, der in Lugano zu Gast ist, erklärt darauf in groben Zügen den Plan: Zuerst soll direkte Nothilfe im Krieg geleistet werden, dann soll die zerstörte Infrastruktur wiederaufgebaut, schliesslich sollen die langfristigen Ziele für eine Reform des Staates umgesetzt werden. 21 Bände umfasst der Plan, 3000 Expert:innen im In- und Ausland haben mitgewirkt. Die Entstehungsgeschichte im Detail nachgezeichnet hat die ukrainische Ausgabe des Wirtschaftsmagazins «Forbes».

Aus Schweizer Sicht lässt vor allem ein Punkt aufhorchen: Finanziert werden soll der schätzungsweise 750 Milliarden teure Wiederaufbauplan unter anderem mit der Enteignung von russischen Oligarchen, deren Gelder im Ausland liegen. Positiv erwähnt Schmyhal in diesem Zusammenhang Grossbritannien und Deutschland. Über die Schweiz schweigt er sich aus.

In Lugano wird die ukrainische Delegation in den nächsten beiden Tagen versuchen, möglichst viele Teilnehmer:innen von ihrem Plan zu überzeugen. Dabei wird sie vor allem auch an die eigene Bevölkerung denken müssen: Die hörte heute ebenfalls zum ersten Mal von den Ansätzen des Lugano-Plans. Umwelt-NGOs und Gewerkschaften haben bereits angekündigt, dass sie längst nicht mit allem einverstanden sind.

Mit deutlichen Worten definiert die Nato in ihrem neuen Strategiekonzept Russland als Hauptgegner. Damit schliesst sich ein Kreis, wie der Blick in die Vergangenheit des Militärbündnisses zeigt – während gleichzeitig erstmals auch China als «Herausforderung» erwähnt wird.

«Russland ist die grösste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum», heisst es im neuen «Strategischen Konzept 2022», das die Staats- und Regierungschef:innen der dreissig Nato-Mitgliedstaaten am Mittwoch bei ihrem Gipfel in Madrid verabschiedet haben. Mit dieser Feststellung kehrt das Militärbündnis zu seinen Anfängen zurück.

Im Nato-Gründungsvertrag vom April 1949, sowie im ersten «Strategischen Konzept für die Verteidigung der Nordatlantikregion» vom Oktober desselben Jahres, identifizierten die anfänglich zwölf Mitgliedstaaten die damalige Sowjetunion nicht nur als grösste und unmittelbarste, sondern als einzige Bedrohung für ihre Sicherheit. Und das nicht nur wegen der aus Wahrnehmung der Nato konventionell militärischen Überlegenheit der UdSSR, sondern auch aufgrund deren kommunistischer Ideologie. «Die Hauptfunktion der Nato ist die Abschreckung eines Angriffs auf ihr Territorium, und Nato-Truppen werden nur zum Einsatz kommen, wenn die Abschreckung versagt hat und ein Angriff erfolgt ist», hiess es im ersten Strategiekonzept.

Bei dieser Aufgabenbestimmung blieb es auch in den drei weiteren «Strategischen Konzepten», die bis zum Ende des Kalten Krieges Ende der achtziger Jahre verabschiedet wurden. Für die 1952, 1957 und 1967 vorgenommenen Anpassungen gab es jeweilige Gründe: Die USA erwarteten in ihrem ab 1950 gegen die kommunistischen Staaten Nordkorea und China geführten Krieg zumindest politische und logistische Unterstützung der Nato-Verbündeten. 1955 gründete die Sowjetunion mit sechs osteuropäischen Staaten den Warschauer Pakt als militärischen Gegenblock. Im selben Jahr trat die Bundesrepublik Deutschland der Nato bei, womit die Vorverlegung von Streitkräften der USA und anderer Nato-Staaten direkt bis zur Frontlinie am Eisernen Vorhang möglich wurde. 1956 kam es anlässlich der Suezkrise zu erheblichen Differenzen zwischen den Nato-Mitgliedern Frankreich und Grossbritannien.

Mitte der sechziger Jahre veränderten die USA dann ihre Militärstrategie gegenüber der UdSSR – und in der Folge auch jene der Nato: Weg von der «massiven Vergeltung» mit strategischen Atomwaffen im Fall eines konventionellen Sowjetangriffs, hin zur «flexiblen Antwort» mit zunächst «nur» in Westeuropa stationierten taktischen Atomwaffen.

«Erweiterter Sicherheitsbegriff» nach dem Kalten Krieg

Unter westeuropäischen Regierungen und Militärs führte dieser Strategiewechsel zu erheblichen Zweifeln an den Schutzgarantien der Bündnisvormacht USA. In ihrem fünften Strategiekonzept behauptete die Nato 1991 – trotz des kurz zuvor erfolgten Endes des Kalten Krieges sowie des Zerfalls des Warschauer Paktes und der Sowjetunion – die Notwendigkeit ihrer weiteren Existenz zur «Verteidigung» des Territoriums ihrer Mitgliedstaaten.

Gegen wen oder gegen welche Bedrohungen diese Verteidigung erforderlich sei, wurde in diesem Strategiekonzept jedoch nicht gesagt. Zugleich machte die Nato den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes Angebote zur Kooperation.

Das sechste Strategiekonzept folgte 1999, nach dem völkerrechtswidrigen, als «humanitäre Intervention» gerechtfertigten Luftkrieg gegen Serbien. Darin machte sich das Militärbündnis einen «erweiterten Sicherheitsbegriff» zu eigen, der über die militärische Dimension hinaus auch «politische, wirtschaftliche, soziale und Umweltfaktoren einschliesst».

Die Nato schrieb sich das Recht zu, über die Verteidigung gegen einen militärischen Angriff auf das Territorium eines Mitgliedslands hinaus auch in einer geografisch nicht näher definierten «weiteren euro-atlantischen Region» gegen Bedrohungen und Gefahren vorzugehen, die «seit Ende des Kalten Krieges entstanden» seien. Genannt wurden «Terrorismus, ethnische Konflikte, Menschenrechtsverletzungen, politische Instabilitäten und wirtschaftliche Fragilitäten sowie die Verbreitung atomarer, biologischer und chemischer Waffen oder ihrer Trägersysteme».

Im siebten und bislang letzten Strategiekonzept von 2010 – neun Jahre nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem Beginn des «Krieges gegen den Terror» in Afghanistan – erklärte die Nato diesen Terrorismus zur Hauptbedrohung und verwies zudem auf die Gefährdungen aus dem «Krisenbogen zwischen Marokko und Pakistan». Russland hingegen wurde als «Partner» eingestuft.

Die im jüngsten Strategiekonzept erfolgte Rückstufung Russlands vom Partner zum Gegner war gemäss früheren Entwürfen bereits lange vor dem Krieg gegen die Ukraine geplant, wenn auch noch nicht mit der Formulierung «grösste und unmittelbarste Bedrohung». Neu ist, dass erstmals auch China erwähnt wird – zwar nicht als «Risiko» oder gar als «Gefahr», wie von den USA und Grossbritannien zunächst verlangt, von Deutschland und Frankreich aber verhindert wurde. Aber doch mit dem Satz: «Die von der Volksrepublik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs stellen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte vor Herausforderungen.»

Wie auf diese Herausforderungen zu reagieren ist, dürfte zu weit schwierigeren strategischen Kontroversen unter den Nato-Staaten führen als die Debatten der letzten Monate, in denen um eine gemeinsame Haltung gegenüber Russland gerungen wurde.

Von wegen selbstbestimmt: Diese Stele («Russland und DNR») nahe der Stadt Donezk zeigt, für wen zwangsrekrutierte Ukrainer in den Krieg ziehen sollen. Foto: Pavel Lisitsyn, Imago

Zehntausende Männer wurden in den ostukrainischen «Volksrepubliken» von Donezk und Luhansk bereits eingezogen, um auf russischer Seite zu kämpfen – ob sie wollten oder nicht. Mutige Bürger:innen wehren sich auf Social Media gegen die Zwangsrekrutierungen.

Hartnäckig hält sich im Osten der Ukraine eine Gruppe Aufständischer, die sich dem Zurückdrängen der russischen Sprache nicht beugen wollen und selbstbestimmt ihren eigenen Weg gehen. So lautet die offizielle Erzählung der russischen Regierung.

Spätestens mit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar ist die Legende jedoch in sich zusammengebrochen. Den «Volksrepubliken» von Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) im Donbas, wo derzeit insgesamt noch etwa drei Millionen Menschen leben, geht es nicht um einen eigenen Weg. Vielmehr sind sie Werkzeuge des Kreml, der die Ukraine als Staat vernichten oder ihm zumindest die Existenzgrundlagen entziehen möchte. Nun verschieben die russischen Truppen die Aussengrenzen dieser «Volksrepubliken» immer weiter nach Westen, um damit gewissermassen Russland zu vergrössern.

Wie wenig von einem eigenständigen und selbstbestimmten Weg dieser Gebiete die Rede sein kann, zeigt die Gewalt, mit der Menschen dort zum Militärdienst gezwungen werden. Auf dem Telegram-Kanal «Batman DNR» äusserten sich am 29. März Ehefrauen und Mütter von Männern, die in der «Volksrepublik Donezk» unter Zwang eingezogen wurden. Das Vorgehen bezeichneten sie als «Entführung», die gegen gesetzliche Bestimmungen verstosse und Menschen- und Bürgerrechte verletze. «Unsere Männer wurden buchstäblich von Vertretern der DNR-Institutionen auf dem Weg zur Arbeit, zu einem Institut oder einem Geschäft entführt, angehalten und aus Bussen, Privatwagen und einfach so auf der Strasse mitgenommen», heisst es in der Erklärung.

«Er will nicht in den Krieg!»

«Nein, mein Mann fährt nicht mit euch zur Wehrbehörde!», schreit die Frau die Männer an. «Wieso habt ihr ihm die Dokumente weggenommen? Wir haben kein Kriegsrecht, und deswegen muss er auch nicht mit euch mitgehen!» Die Szene stammt aus einem Handyvideo, das am 28. Juni in einer Ortschaft in der «Volksrepublik Donezk» aufgenommen wurde. Darauf zu sehen sind Männer, die einen Mann und eine Frau bedrängen. Einer von ihnen trägt ein T-Shirt mit Aufschrift und Flagge des «Föderativen Staats Neurussland» («Noworossija»), einer 2014 ausgerufenen Union der beiden ostukrainischen «Volksrepubliken». Den Mann wollen sie offensichtlich mitnehmen, doch die Frau kämpft um ihn. «Er will nicht mitgehen, er will nicht in den Krieg!», ruft sie und droht den Männern, die offensichtlich der Wehrbehörde angehören, mit der Polizei.

Zu viele habe man schon begraben, schimpft die Frau weiter, die augenscheinlich nicht einmal verbirgt, dass sie den Vorfall filmt. «Ihr geht uns mit diesem Krieg auf die Nerven. Mein Mann ist Bürger der Ukraine!», schreit sie weiter auf die Männer in Zivil ein, die mit einem Kleinbus vorgefahren sind. Immer wieder versucht sie, den Männern den Pass ihres Mannes zu entreissen, den diese ihm offensichtlich entwendet haben. Der Streit endet mit einem Kompromiss: Der Mann unterschreibt, dass er einer Vorladung zur Musterung Folge leisten werde – und bleibt vorerst zu Hause.

Gegenüber dem Nachrichtenportal currenttime.tv sagte der ukrainische Menschenrechtsaktivist Pawlo Lysianskyi, er schätze, dass in den beiden «Volksrepubliken» bislang zwischen 100 000 und 120 000 Männer zwangsrekrutiert worden seien. Unter diesen muss der Blutzoll hoch sein. 1536 Angehörige der «Sicherheitskräfte» allein in der «Volksrepublik Donezk» seien seit Jahresbeginn getötet worden, gab deren «Menschenrechtsbeauftragte» am 29. April an. Seither wurden keine Zahlen mehr veröffentlicht.

Wie es mit den beiden «Volksrepubliken» in der Ostukraine weitergeht, wird nicht in Donezk oder Luhansk entschieden. Wohin die Reise gehen könnte, schilderte stattdessen das kremlnahe russische Nachrichtenportal vz.ru am 23. Juni. «Das wichtigste Ziel der militärischen Sonderoperation in der Ukraine ist die Beseitigung aller militärischen und politischen Bedrohungen für die DNR, die LNR und die im ehemaligen ukrainischen Gebiet lebenden russischen Bürger», war dort zu lesen. Ein weiteres Ziel bestehe in der «Entnazifizierung» der Region. In einem ersten Schritt, erklärte der «Militärexperte» Ewgeni Krutikow gegenüber vz.ru, müssten die ukrainischen Waffen vernichtet und das Land daran gehindert werden, weitere Waffen aus dem Westen zu erhalten.

Und deswegen reiche «die Befreiung» des Donbas nicht aus. Man müsse auch Orte wie Krywyi Rih, Dnipro und Saporischschja im Zentrum des Landes einnehmen. Von besonderer Wichtigkeit sei die Einnahme des südwestlich gelegenen Odesa: Damit werde ein Landkorridor nach Transnistrien im Nachbarland Moldawien sichergestellt, so Krutikow. Gleichzeitig würde man mit der Einnahme von Odesa der «Drehscheibe der westlichen Waffenlieferungen» einen Riegel vorschieben.

Alles spricht dafür, dass dieser Krieg so schnell nicht zu Ende gehen wird. Und damit auch nicht die Zwangsrekrutierungen in den von Russland besetzten Regionen.

Der Wiederaufbau der Ukraine werde 600 Milliarden US-Dollar kosten, schätzt Präsident Wolodimir Selenski: Zerstörtes Quartier im Kyjiwer Vorort Borodjanka am 26. April. Foto: Imago

Eine 75 Jahre alte Erfolgsformel soll die Ukraine in eine europäische Zukunft führen: Wird es einen «Marshallplan» für das kriegsversehrte Land geben? Der Begriff allein garantiert jedenfalls noch keine Ergebnisse.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht in seinen fünften Monat, ein Ende ist nicht in Sicht. Dennoch machen sich die ukrainische Regierung und ihre internationalen Partner:innen bereits über den Wiederaufbau des Landes Gedanken. Eine ganze Reihe von Politikerinnen, Regierungsbeamten und Akademikerinnen haben mittlerweile einen Marshallplan für die Ukraine gefordert, etwa der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung letzte Woche.

Ein Wirtschaftswunder für Europa

Sein Besuch in der Ukraine habe ihn an die Bilder von zerstörten deutschen Städten nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, sagte Scholz, und er schlug damit einen direkten Bogen zum ursprünglichen Marshallplan. Der US-amerikanische Aussenminister George C. Marshall hatte vor ziemlich genau 75 Jahren, im Juni 1947, das European Recovery Program (ERP) vorgeschlagen, um Europa wiederaufzubauen. Im Rahmen dieses Hilfsprogramms flossen zwischen 1948 und 1952 über 13 Milliarden US-Dollar (inflationsbereinigt würde das heute etwa 160 Milliarden US-Dollar entsprechen) an sechzehn europäische Staaten: in Form von Zuschüssen, Krediten, Waren, Rohstoffen und Lebensmitteln. Unter den Empfängern waren Grossbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland. Der Marshallplan ermöglichte Europa ein Wirtschaftswunder, begünstigte den Aufbau demokratischer Strukturen – und bescherte den USA neue Absatzmärkte.

Der Begriff «Marshallplan» wird heute oft verwendet, wenn nach grossen Verheerungen riesige Aufgaben anstehen: etwa angesichts der Covid-Pandemie oder der Klimakrise. Auch während des Syrienkriegs wurde wiederholt ein Marshallplan für den Wiederaufbau gefordert, bis heute kam ein solcher jedoch nicht zustande.

Anfang Mai schätzte die ukrainische Regierung die Kosten für den Wiederaufbau auf 600 Milliarden US-Dollar. Die Summe dürfte seither noch viel grösser geworden sein. Wer aber soll die erforderlichen Hilfspakete finanzieren – insbesondere in Anbetracht der wirtschaftlichen Einbussen, die Corona auf der ganzen Welt verursacht hat, wie auch angesichts des Anstiegs der Energie- und der Lebensmittelpreise, der alle Länder betrifft? Und wie soll ein solcher Marshallplan für die Ukraine konkret aussehen?

Die Ukraine selbst kann den Wiederaufbau nicht stemmen, sie ist bankrott. Der Krieg hat zu einem Einbruch der Steuer-, der Export- und sonstiger Einnahmen geführt, während die Ausgaben für Militär und Sozialwesen in die Höhe geschnellt sind. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte in diesem Jahr um geschätzte fünfzig Prozent sinken, die Steuereinnahmen um bis zu achtzig Prozent. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass der ukrainische Staatshaushalt im Juni ein Defizit von fünfzehn Milliarden US-Dollar aufweist.

Auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski fordert eine moderne Version eines Marshallplans für die Ukraine. Für Olga Stefanishyna, die stellvertretende Premierministerin, müsste ein solcher zwei zentrale Elemente umfassen: «Einerseits benötigen wir finanzielle Unterstützung während des Krieges, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Andererseits soll der Wiederaufbau der Ukraine den Weg zum EU-Beitritt ebnen, durch Reformen und politische Integration.» Stefanishyna nahm zum Wochenbeginn an einer Paneldiskussion zum Marshallplan für die Ukraine teil, organisiert von der unabhängigen amerikanischen Stiftung The German Marshall Fund of the United States. Dort betonte auch Odile Renaud-Basso, Präsidentin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, dass der ukrainische Staat bereits jetzt Hilfe brauche, um seine Dienstleistungen finanzieren zu können. «Je besser die Wirtschaft aufrechterhalten wird, desto weniger werden wir für den Wiederaufbau benötigen», sagte Renaud-Basso.

Ein Marshallplan für die Ukraine werde viel umfangreicher ausgestaltet und viel schneller umgesetzt werden müssen als jener nach dem Zweiten Weltkrieg, sagte Renaud-Basso zudem. Und es sei zentral, dass in dessen Rahmen auch Herausforderungen bezüglich Rechtsstaatlichkeit, Korruption, Oligarchie und Justizsystem angegangen würden. «Der EU-Kandidatenstatus der Ukraine ist ein starker Anker für diese Reformagenda», hielt Renaud-Basso fest.

Das sieht die EU-Kommission genauso. Mitte Mai hat sie einen ersten Plan zum Wiederaufbau der Ukraine vorgelegt. Nach diesem soll ein Land geschaffen werden, das «in den europäischen Werten verankert» und in die europäische und die globale Wirtschaft integriert ist. Der Kommission schwebt eine enge Partnerschaft zwischen ukrainischen Behörden, der EU, den G7-, G20- und Drittstaaten sowie internationalen Finanzinstitutionen vor. Eine «Plattform für den Wiederaufbau der Ukraine» soll lanciert werden, um die Anstrengungen zu koordinieren – unter Federführung der Ukraine.

Gemäss der EU-Kommission sollen die Investitionen im Einklang mit der europäischen Klima- und Umweltpolitik stehen sowie den Digitalisierungszielen der EU entsprechen. Schlussendlich solle die Ukraine sogar gestärkt und robuster aus den Verwüstungen der russischen Invasion hervorgehen.

Bloss fragt sich, ob die genannten Akteure überhaupt dazu bereit sind, die gigantischen finanziellen Ressourcen bereitzustellen, die dafür nötig sind. Zudem bedienen Wiederaufbauprogramme immer auch Eigeninteressen; es werden immense Summen öffentlicher Gelder gesprochen, die für gewisse Industriezweige lukrative Geschäfte in Aussicht stellen. Und gleichzeitig nutzen Geberländer und -institutionen die Möglichkeit, ein Land in eine gewünschte wirtschaftspolitische Richtung zu lenken. Auch der ursprüngliche Marshallplan war letztlich vor allem ein politischer Versuch, die europäische Integration zu fördern und insbesondere den Kommunismus zurückzudrängen – ganz im Eigeninteresse der USA.

Enttäuschte Hoffnungen: Albaniens Premierminister Edi Rama (vorne links) diskutiert am EU-Gipfel mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Foto: Imago

Die Ukraine wird Beitrittskandidatin, das haben die EU-Staaten gestern Abend beschlossen. Es wäre ein guter Moment, sich das Wesen des Staatenbunds neu zu überlegen. 

Es wurde mal wieder nicht mit Superlativen gegeizt in Brüssel: Von einer «historischen Entscheidung» sprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, von einem «starken Signal der Entschlossenheit» Ratspräsident Charles Michel. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hielt sich derweil nicht gerade mit Eigenlob zurück: Mit dem Besuch in Kyjiw letzte Woche habe man «die Voraussetzung für eine mögliche Einheit geschaffen».

Und Einheit herrschte am gestrigen EU-Gipfel tatsächlich: Einstimmig beschlossen die Mitgliedsländer die Aufnahme der Ukraine und Moldawiens als Beitrittskandidaten. Grünes Licht hatten sogar ehemals skeptische Länder wie Portugal und die Niederlande gegeben sowie Ungarns Präsident Viktor Orban, der an solchen Anlässen für gewöhnlich gern für Ärger sorgt.

Wie erwartet, musste sich Georgien, das gemeinsam mit den beiden anderen einen Antrag auf Aufnahme gestellt hatte, mit einer «europäischen Perspektive» begnügen. Und auch Bosnien-Herzegowina, das schon seit Jahren auf den Kandidatenstatus wartet, ging trotz des Einsatzes von Österreich und Slowenien einmal mehr leer aus.

In Kyjiw sorgte der Entscheid für Euphorie. Und in der Tat ist der Weg, den die Ukraine damit einschlägt, historisch – war es den protestierenden Menschen doch bei der Orangen Revolution 2004 wie auch beim Euromaidan 2013/14 jeweils nicht zuletzt um den Platz des Landes in Europa gegangen. Hinzu kommt, dass Wolodimir Selenski gute Neuigkeiten dringend braucht. Gerade heute kündigte der Gouverneur der Region Luhansk den Rückzug aus dem strategisch bedeutenden Sjewjerodonezk an. Bald dürfte wohl die gesamte Region unter russischer Kontrolle sein.

Dass grosse Hoffnungen auf eine Abkürzung in die EU umsonst wären, dürfte Selenski wissen. Und er hat sicher verstanden, dass die EU-Staaten gestern nichts für die Ukraine taten, ausser eine möglichst vage Zusage abzugeben, die sie zu nichts verpflichtet.

Wie zynisch die EU bei der Osterweiterung seit Jahren agiert, was also vermutlich auch der Ukraine in Zukunft bevorsteht, hat sich gestern noch einmal eindrücklich gezeigt: So bleiben die Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien auch weiterhin blockiert, der Streit mit Serbien über die Sanktionen gegen Russland geht weiter – und der Kosovo muss weiterhin für eine Visaliberalisierung kämpfen. 

Kein Wunder, zeigten sich die Vertreter:innen der Westbalkanstaaten nicht bloss enttäuscht, sondern auch ziemlich verärgert. Sie so vor den Kopf zu stossen, zeugt nicht gerade von Weitsicht oder einer klaren Strategie in Brüssel oder den europäischen Hauptstädten. Dabei wäre eine solche gerade jetzt dringend geboten. Im besten Fall liesse sich nach dem historischen Entscheid von gestern vielleicht gar eine wirkliche Vision für die Zukunft formulieren.

Zwar hat sich das Gebilde Europäische Union in den letzten Jahrzehnten durchaus immer wieder gewandelt, sich in einigen Bereichen auch weiterentwickelt. Doch vielleicht wäre das Versprechen an die Ukraine – ein Land mit über vierzig Millionen Einwohner:innen in einem Staatenbund mit knapp 500 Millionen – ein guter Anlass, um über das Wesen des Gebildes selbst zu diskutieren: Bleibt die EU bloss ein Zusammenschluss von Staaten, der vor allem als ökonomische Union funktioniert und diesem Interesse entsprechend nach Osten expandiert? Oder lässt sich mit den vielen neuen potenziellen Mitgliedern gleich ein ganz neues, soziales Europa denken?

«Extrem gefährliche Einsätze»: Eine Ambulanz im Kriegsgebiet ausserhalb von Lyssychansk. Foto: Alex Chan Tsz Yuk, Imago

Gustavo Fernandez koordiniert für die Organisation Ärzte ohne Grenzen medizinische Einsätze im besonders umkämpften Osten der Ukraine. Ein Gespräch über unersetzbare Freiwillige, ignorierte Grundrechte und die Verzweiflung.

WOZ: Herr Fernandez, Sie koordinieren Einsätze von Médecins Sans Frontières (MSF) im Osten der Ukraine und halten sich gerade in Dnipro auf. Wie ist die Situation dort?

Gustavo Fernandez: Hier in der Stadt ist es vergleichsweise ruhig, wir sind nicht unter Beschuss. Aber unsere Teams versuchen, so nahe wie möglich an die Frontlinie zu kommen, um medizinische Unterstützung zu bieten. Dort ist die Situation eine ganz andere.

Wie sieht die Lage an der Frontlinie aus?

Vor ein paar Tagen gelang es uns, Siwersk zu erreichen, eine Stadt knapp zehn Kilometer von den aktuellen Kampfhandlungen entfernt. Der Ort ist extrem stark beschädigt und die Situation der Menschen katastrophal. In solche Gebiete kommt zum Teil gar keine Hilfe mehr. Nachbar:innen versuchen auszuhelfen und sammeln Nahrung für die Schwächsten und Verletzlichsten. Aber immer wieder zeigt sich uns das gleiche Bild: Menschen leben ohne Wasser, Essen und medizinische Versorgung.

Was können Sie da ausrichten?

In einem Keller leben etwa fünfzig ältere Frauen, die komplett ohne Wasser, Essen und Strom ausharrten. Zum Glück kümmert sich eine Krankenschwester um diese Menschen, und wir konnten ihr die wichtigste Medizin und Material bringen, damit sie die Leute weiter versorgen kann. Solche Einsätze sind extrem gefährlich. In der Ortschaft leben noch etwa 3000 bis 4000 Menschen, deren Versorgung komplett unterbrochen ist – das Spital wurde bombardiert.

Kann MSF diese Menschen irgendwie erreichen?

In diesen Gebieten sind wir komplett auf Freiwillige angewiesen. Auf kleine, lokale Organisationen, die seit Kriegsbeginn Kontakt zu den Menschen gehalten haben oder versuchen, diese irgendwie in Sicherheit zu bringen. Sie machen die «letzte Meile» der Unterstützung. Damit ist ein Korridor von etwa dreissig Kilometern bis zur Front gemeint. Wir versuchen, die Helfer:innen mit Wasser-, Essens- und natürlich Medikamentenlieferungen zu unterstützen. In diesen Gebieten ist die medizinische Versorgung, die vorher gut war, vollständig zusammengebrochen.

Was bedeutet diese Situation aus medizinischer Sicht?

Der Unterbruch von Behandlungen ist ein riesiges Problem. Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die weit verbreitet sind, können lebensbedrohlich werden. Und es ist klar, dass verschmutztes Wasser, kombiniert mit schlechter Hygiene und ungenügend Essen, genau das Rezept ist, um Krankheitsausbrüche zu begünstigen.

Sie spielen auf die Warnung vor Choleraausbrüchen an?

Cholera ist eine sogenannte wasserbürtige Krankheit, die durch verschmutztes Trinkwasser verursacht wird und starken Durchfall verursacht. Wenn sie nicht behandelt wird, ist sie lebensbedrohlich und überträgt sich. Das passiert in einem engen, feuchten Keller mit zusammengepfercht ausharrenden Menschen natürlich noch schneller.

Wissen Sie bereits von solchen Ausbrüchen?

Hier in der Gegend nicht. Doch das Risiko steigt mit jedem Tag. Ich habe aber nicht den Überblick über das ganze umkämpfte und besetzte Gebiet, das ist extrem schwierig. In Mariupol etwa haben wir leider kein Team vor Ort. Wir befürchten auch grosse Ausbrüche von resistenter Tuberkulose. Diese Krankheit war schon vor Kriegsbeginn in der Ukraine ein Problem und könnte sich durch die schlechten Lebensbedingungen unkontrolliert verbreiten.

Wie verhält es sich mit akuten Verletzungen?

Von denen gibt es natürlich auch sehr viele. Wir versuchen, mit lokalen Helfer:innen und Ärzt:innen, die am stärksten betroffenen Patient:innen aus Spitälern an der Frontlinie an sichere Orte zu verlegen, wo sie behandelt werden können. Das Gute in der Ukraine ist: Im Rest des Landes ist ein solides, funktionierendes Gesundheitssystem vorhanden. Aber die Evakuierungen dorthin sind extrem schwierig und gefährlich.

Wie unterstützen Sie die Spitäler?

Mit Medikamenten und Material. Wir und auch die ukrainischen Behörden erhalten relativ problemlos solche Lieferungen. Aber sie dorthin zu bringen, wo sie gebraucht werden, ist eine riesige Herausforderung. Diejenigen Spitäler, die wir gut erreichen, unterstützen wir auch mit Schulungen im Bereich Notfallmedizin. Wir trainieren sogenannten Advanced Life Support: Reanimationen, das Stoppen von starken Blutungen und den Umgang der Spitäler mit sehr hohen Zahlen von Opfern gleichzeitig. Die Mitarbeiter:innen sollen, so gut es geht, vorbereitet sein, wenn sie mitten in die Kämpfe geraten oder abgeschnitten werden. Wir machen auch Trainings für psychologische Betreuung, auch mit nichtmedizinischem Personal.

Welche psychischen Folgen hat der Krieg für die Menschen?

Sie sind natürlich unter extremem Stress und haben Dinge erlebt, die man sich gar nicht vorstellen kann. Monatelang ohne Tageslicht zu leben und nie richtig schlafen zu können, ist ein Horror. Wir unterstützen hier NGOs und auch Angebote der Behörden, um psychologische Hilfe für geflüchtete oder evakuierte Menschen zu leisten, etwa mobile Kliniken, die in stark betroffene Gebiete fahren, oder Hotlines, die im ganzen Land verfügbar sind. Die sind genauso wichtig wie die «traditionelle» medizinische Unterstützung.

Was beschäftigt Sie am meisten, wenn Sie sich mit den evakuierten oder geflohenen Menschen austauschen?

Ich war auch schon im Einsatz im Irak, in Syrien, Darfur oder Somalia. Und immer sehen wir das Gleiche, auch jetzt: In den akuten Kriegsgebieten werden die Bedürfnisse und die Rechte der Zivilbevölkerung mit Füssen getreten. Medizinische und humanitäre Hilfe wird nicht respektiert. Wir sind da oft völlig machtlos und müssen uns auch selbst immer wieder motivieren weiterzumachen. Das klingt simpel und banal - und genau das ist ein Riesenproblem.

Man hat sich irgendwie daran gewöhnt, dass die Zivilbevölkerung in Kriegen und Konflikten leidet. In diesen Gebieten wird einfach wahllos alles beschossen und bombardiert – auch Spitäler und Kliniken. Deshalb müssen wir uns immer wieder lautstark wehren und fordern, dass die Menschen fliehen können. Dass medizinische Güter in diese Regionen gebracht werden dürfen und dass humanitäre Hilfe überall hingelangt und sicher ist. Das alles ist zurzeit in der Ostukraine überhaupt nicht der Fall.

Gustavo Fernandez ist Notfallmediziner und Politikwissenschaftler. Seit über fünfzehn Jahren arbeitet er für MSF und hat dafür humanitäre Projekte im Irak, in Somalia, im Sudan und in Syrien koordiniert. Der in Genf lebende Arzt ist seit fünf Wochen in Dnipro und vermittelt dort zwischen MSF und lokalen Helfer:innen sowie medizinischen Einrichtungen. In der Ukraine wird MSF bleiben, solange der bewaffnete Konflikt anhält.

Keine Angst, als «Nationalverräter» zu gelten: Der ukrainische Soziologe Andrei Mowtschan schreibt an die russische Opposition. Foto: Screenshot Posle.Media

Den Krieg gegen die Ukraine analysieren und eine nachhaltige Antikriegsbewegung aufbauen: Linke russische Aktivist:innen haben im Exil die Plattform «Posle» gegründet.  Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch für die russische Opposition vieles verändert und einige alte Gewissheiten ins Wanken gebracht. Während jene Aktivist:innen, die im Land geblieben sind, sich unter immer repressiveren Bedingungen, der Zensur trotzend, gegen den Krieg engagieren, sind viele durch ihn ins Exil gezwungen worden. So auch der Politologe Ilja Matweew und der Publizist Ilja Budraitskis. Weil sie aber nicht untätig herumsitzen wollten, haben die beiden Anfang Juni gemeinsam mit anderen Kriegsgegner:innen das Medienprojekt «Posle» gegründet, was auf Deutsch so viel wie «danach» bedeutet. «Nach der russischen Invasion der Ukraine wird das Leben in beiden Ländern nie wieder dasselbe sein. Doch um weiterleben und -agieren zu können, brauchen wir Antworten auf einige zentrale Fragen: Wieso begann dieser Krieg? Wieso lässt er sich so schwer stoppen? Und wie wird die Zukunft nach dem Krieg aussehen?», erklären die Betreiber:innen ihre Motivation auf der Website des Projekts.  «Posle» ist eine Plattform, die die neue Situation – anders als viele andere russische Oppositionsmedien, die ins Exil gezwungen wurden – aus einer dezidiert linken Perspektive analysieren und kritisieren will. «Als Linke können wir den Krieg nicht unabhängig von der enormen sozialen Ungleichheit und der Machtlosigkeit der arbeitenden Mehrheit betrachten», schreiben die Macher:innen. Ebenso wenig könnten sie die «imperialistische Ideologie», die den Status quo erhalte und «Militarismus, Xenophobie und Bigotterie» fördere, ignorieren.  Fehlende Stimmen Die Texte, die bisher auf dem Portal erschienen sind, bieten entsprechend eine bunte Vielfalt an Perspektiven: Da fasst Ilja Matweew etwa alles Wissenswerte über die westlichen Sanktionen gegen Russland zusammen. Und die ukrainische Feminismusikone Irina Scherebkina, die in ihrer Heimatstadt Charkiw geblieben ist, spricht über ihre Erfahrungen im Krieg. Ilja Budraitskis analysiert das Konzept der «russischen Welt», auf das sich Wladimir Putin ideologisch abstützt. Hinzu kommen ein Text über die Erfahrungen ukrainischer Linker oder ein Interview mit dem russischen Künstler Kirill Sawtschenkow, der aus Protest gegen den Krieg seine Teilnahme an der Biennale zurückzog.  Die Beiträge bei «Posle» erscheinen auf Russisch und Englisch und richten sich somit nicht bloss an eine russischsprachige Gegenöffentlichkeit, sondern auch an ein westliches linkes Publikum – was besonders wichtig ist, da in vielen ihrer Diskussionen russische wie ukrainische Stimmen nach wie vor fehlen. Auch ein regelmässiger Podcast ist Teil des Projekts. Mit ihrer publizistischen Arbeit verfolgen Matweew, Budraitskis und ihre Mitstreiter:innen aber auch ein grösseres Anliegen: den Aufbau einer schlagkräftigen Antikriegsbewegung zu unterstützen.  Die Möglichkeit, «Posle» finanziell zu unterstützen, befindet sich derzeit noch im Aufbau. Wer mehr über das Projekt wissen will, findet hier alle Informationen. 

Den Krieg gegen die Ukraine analysieren und eine nachhaltige Antikriegsbewegung aufbauen: Linke russische Aktivist:innen haben im Exil die Plattform «Posle» gegründet. 

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch für die russische Opposition vieles verändert und einige alte Gewissheiten ins Wanken gebracht. Während jene Aktivist:innen, die im Land geblieben sind, sich unter immer repressiveren Bedingungen, der Zensur trotzend, gegen den Krieg engagieren, sind viele durch ihn ins Exil gezwungen worden. So auch der Politologe Ilja Matweew und der Publizist Ilja Budraitskis. Weil sie aber nicht untätig herumsitzen wollten, haben die beiden Anfang Juni gemeinsam mit anderen Kriegsgegner:innen das Medienprojekt «Posle» gegründet, was auf Deutsch so viel wie «danach» bedeutet.

«Nach der russischen Invasion der Ukraine wird das Leben in beiden Ländern nie wieder dasselbe sein. Doch um weiterleben und -agieren zu können, brauchen wir Antworten auf einige zentrale Fragen: Wieso begann dieser Krieg? Wieso lässt er sich so schwer stoppen? Und wie wird die Zukunft nach dem Krieg aussehen?», erklären die Betreiber:innen ihre Motivation auf der Website des Projekts. 

«Posle» ist eine Plattform, die die neue Situation – anders als viele andere russische Oppositionsmedien, die ins Exil gezwungen wurden – aus einer dezidiert linken Perspektive analysieren und kritisieren will. «Als Linke können wir den Krieg nicht unabhängig von der enormen sozialen Ungleichheit und der Machtlosigkeit der arbeitenden Mehrheit betrachten», schreiben die Macher:innen. Ebenso wenig könnten sie die «imperialistische Ideologie», die den Status quo erhalte und «Militarismus, Xenophobie und Bigotterie» fördere, ignorieren. 

Die Texte, die bisher auf dem Portal erschienen sind, bieten entsprechend eine bunte Vielfalt an Perspektiven: Da fasst Ilja Matweew etwa alles Wissenswerte über die westlichen Sanktionen gegen Russland zusammen. Und die ukrainische Feminismusikone Irina Scherebkina, die in ihrer Heimatstadt Charkiw geblieben ist, spricht über ihre Erfahrungen im Krieg.

Ilja Budraitskis analysiert das Konzept der «russischen Welt», auf das sich Wladimir Putin ideologisch abstützt. Hinzu kommen ein Text über die Erfahrungen ukrainischer Linker oder ein Interview mit dem russischen Künstler Kirill Sawtschenkow, der aus Protest gegen den Krieg seine Teilnahme an der Biennale zurückzog. 

Die Beiträge bei «Posle» erscheinen auf Russisch und Englisch und richten sich somit nicht bloss an eine russischsprachige Gegenöffentlichkeit, sondern auch an ein westliches linkes Publikum – was besonders wichtig ist, da in vielen ihrer Diskussionen russische wie ukrainische Stimmen nach wie vor fehlen. Auch ein regelmässiger Podcast ist Teil des Projekts. Mit ihrer publizistischen Arbeit verfolgen Matweew, Budraitskis und ihre Mitstreiter:innen aber auch ein grösseres Anliegen: den Aufbau einer schlagkräftigen Antikriegsbewegung zu unterstützen. 

Die Möglichkeit, «Posle» finanziell zu unterstützen, befindet sich derzeit noch im Aufbau. Wer mehr über das Projekt wissen will, findet hier alle Informationen. 

«In einem bestimmten Moment fangen sie an zu zeichnen»: Die Arttherapie hilft Kindern beim Verarbeiten des Krieges.

Hunderttausende Kinder sind aus der Ukraine nach Polen geflüchtet. Ihr psychisches Wohlbefinden hängt stark mit der Art und Weise der Aufnahme zusammen.

Irina Owchar ist voller Energie, doch sie wirkt auch angespannt. Die zweifache Mutter ist im März mit ihren beiden minderjährigen Kindern aus der Nähe von Kyjiw ins südpolnische Gliwice geflüchtet. Zuvor hatte sie mehrere Jahre als Kinder- und Familienpsychologin auf einer Privatschule in der ukrainischen Hauptstadt gearbeitet – und sie macht dies weiterhin: Im Onlinefernunterricht bespricht sie mit ihren Schüler:innen Themen wie Selbsterkenntnis, Freundschaft und psychische Probleme. Und sie unterstützt Jugendliche in Einzelgesprächen, berät auch deren Eltern. 

Neben ihrer Lehrtätigkeit arbeitet Owchar als Freiwillige mit ukrainischen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern, die nach Gliwice geflohen sind. Die polnische Therapeutin Alicja Baranek hat dafür ihre Praxisräume im Zentrum der 180 000-Einwohner:innen-Stadt zur Verfügung gestellt. Einige Dutzend Personen nehmen dort seit März an nach Alter gegliederten Gruppentreffen teil, in denen sie sich mit ihren kriegsbedingten Belastungen auseinandersetzen.

Zudem führt Owchar Einzelgespräche, bei denen Techniken der sogenannten Arttherapie zur Anwendung kommen: Malen, Zeichnen oder Gestalten mit Salzteig. «Manche Kinder wollen nichts über ihre Erlebnisse erzählen. Doch in einem bestimmten Moment fangen sie an zu zeichnen», sagt sie. «Jedes Kind hat eine eigene Psyche, einen Punkt, an dem es bereit ist zu beginnen. Ich lege also Stifte auf den Tisch und sage: ‹Ihr könnt sie benutzen, wie und wann ihr wollt.› Manche nutzen das Angebot gar nicht, andere aber schon. Sie kommen dann auf mich zu, um zu erzählen, was sie gemalt haben.»

Alicja Baranek wiederum betont, wie wichtig es für die Kinder sei, wenn ihre Unterstützer:innen Ukrainisch (oder Russisch) sprechen könnten – und wie hilfreich es sei, wenn sie selbst aus der Ukraine kämen und so besser verstünden, was dort zurzeit geschehe. So hat auch Irina Owchar bereits vor dem Kriegsausbruch am 24. Februar Erfahrungen mit Kindern gemacht, die bewaffnete Konflikte erlebt hatten: seit 2014 in den ostukrainischen «Separatistengebieten». «Jugendliche, die in den letzten Jahren aus dem Osten nach Kyjiw kamen, hatten grosse Traumata erlebt. Es machte mir schon damals Angst, zu sehen, was mit ihnen geschah, wie es sie erschütterte. Nun betrifft das Problem deutlich mehr Kinder», sagt sie. 

Ein kleines Glück für die ukrainischen Kinder ist zumindest, dass sie als Geflüchtete in Polen, aber auch in anderen Staaten Europas Zuflucht finden und dabei sowohl von den Behörden als auch von den Menschen überwiegend mit offenen Armen aufgenommen werden. So besuchen in Polen bereits mehr als 200 000 Kinder und Jugendliche öffentliche Krippen, Kitas und Schulen. Etliche Bildungsanstalten stellen ukrainische Assistenzkräfte, zumeist geflüchtete Frauen, ein.

Vereine und Privatpersonen im ganzen Land organisieren zudem Bildungs- und Freizeitangebote - denn rund eine halbe Million Kinder besuchen keine Bildungseinrichtung, weil sie etwa in ihren ukrainischen Schulen am Fernunterricht teilnehmen. Nicht zuletzt für sie gibt es in ganz Polen auch psychologische Hilfe, die wegen des überforderten staatlichen Gesundheitssystems aber meist ehrenamtlich organisiert wird – wie von Irina Owchar und Alicja Baranek in Gliwice.    

Für Psycholog:innen ist indes offensichtlich, dass jedes Kind Krieg anders erlebt – auch weil die jeweiligen Erfahrungen sehr unterschiedlich sind: Manche haben Bombenangriffe und Tod ganz nah erfahren, während andere den Verlust ihrer Heimat und die Flucht ohne unmittelbare Lebensgefahr erlebten. Auch reagieren die Kinder unterschiedlich auf die ihnen angebotene Hilfe: Manche wollen zuerst niemanden treffen und sprechen, wollen allein sein, keine Aktivitäten unternehmen.

Sie hätten Angst, etwas Neues zu beginnen, berichtet Owchar, weil sie ihre vertraute Umgebung, ihre Freunde verloren hätten. Viele hätten allerdings schnell Vertrauen gefasst – und fühlten sich dann sicher. «Ich hatte einen Sechsjährigen in der Gruppe, der mit seiner Mutter nach Gliwice kam. Vor ein paar Wochen musste sie in die Ukraine zurück, weil sie sonst ihren Job verloren hätte. Ihr Sohn wollte aber nicht mehr zurück.»

Inzwischen kehren täglich Tausende in die Ukraine zurück, vor allem in die von den Kriegshandlungen weitgehend verschonten Gebiete. Dass viele Kinder in jenen Ländern bleiben wollen, in denen sie Zuflucht fanden, hängt auch damit zusammen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sie akzeptiert. Anders ergeht es indes Geflüchteten, die in den Aufnahmeländern Ablehnung und Misstrauen erleben. Die Erfahrung des Willkommenseins oder der Feindseligkeit aber hat einen enormen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden, zumal bei Kindern. 

An der polnisch-belarussischen Grenze etwa erleben Geflüchtete keine offenen Arme, sondern brutale Pushbacks. Dorota Przygucka koordiniert das psychologische Team der polnischen Stiftung Ocalenie (deutsch: Rettung), die seit Jahrzehnten Geflüchteten hilft. Seit dem letzten Sommer engagieren sich die Mitarbeiter:innen der Stiftung und Freiwillige auch an der Grenze zu Belarus. 

«Die Menschen, die es nach Polen schaffen, betrachten unsere staatlichen Flüchtlingslager als Gefängnisse», erzählt Przygucka am Telefon. «Wenn ein Kind mit seiner Familie in eine solche Einrichtung kommt, sind die Möglichkeiten der rechtlichen Hilfe, aber auch der ärztlichen oder psychologischen Betreuung sehr begrenzt. Nach Erlebnissen wie jenen an der Grenze zu Belarus besteht ein hohes Risiko für posttraumatische Belastungsstörungen.»

Kinder seien dafür noch anfälliger als Erwachsene – besonders wenn sie nicht wüssten, wie lange sie in den Lagern bleiben würden. Hinzu komme, dass sie fast ausschliesslich von Kindern mit ähnlichen Erfahrungen umgeben seien. «Der damit verbundene Mangel an Normalität kann zu einer Retraumatisierung führen», so die Psychologin. 

Im Gegensatz zu diesen Kindern aus dem Irak, Afghanistan oder Ghana, deren Flucht oft nicht in Sicherheit endet, verringert die Ankunft der ukrainischen Geflüchteten in Polen ihr psychisches Leiden. «Es ist bedeutend, wenn aus der Perspektive der Kinder eine gefährliche Situation endet», sagt Psychotherapeutin Baranek. «Die Gefahr kann mit der Flucht aus der bombardierten Zone aufhören oder mit dem Verlassen des Landes. Das Trauma kann jedoch weitergehen, wenn sich die Kinder weiterhin unsicher fühlen.» Deshalb hätten die Behörden und die Organisationen eine grosse Verantwortung, ein sicheres Umfeld zu schaffen.

Informationen zu und eine Spendemöglichkeit für die Arbeit der Stiftung Ocalenie gibt es hier.

Von Kaspar Surber und Jan Jirát

Warum die Schweiz bei Waffenexporten in eine verzwickte Lage kam. Wieso der Bundesrat richtig handelt. Und wie ein Befreiungsschlag aussehen könnte.

Gesetze legen üblicherweise Regeln fest. Nicht so bei der Ausfuhr von Rüstungsgütern. Dort definiert ein Konvolut von Gesetzen möglichst viele Ausnahmen, damit an den Zollstellen der Exportnation Schweiz nur wenige gewinnträchtige Produkte blockiert werden. Die Gesetze sind eine Wissenschaft für sich: Es gibt das Kriegsmaterial- und das Güterkontroll­gesetz, und diese haben entsprechende Anhänge mit zahlreichen Kategorien.

So findet sich in der Verordnung zum Kriegsmaterialgesetz in Anhang 1, Kategorie 6, Anmerkung 1, Absatz a die Definition, dass Panzerfahrzeuge mit oder ohne Bewaffnung zum Kriegsmaterial zählen. Etwa Radpanzer des Typs Piranha der Thurgauer Mowag. Das ist noch ein einfacherer Fall im Vergleich zum 1,5-Bis(2-chlorethylthio)-n-pentan, dessen Ausfuhr in der Verordnung zum Gü­ter­kon­troll­ge­setz in Anhang 3, Kategorie 7, Anmerkung b, Punkt 2, Absatz a, Punkt 7 der chemischen Agenzien geregelt ist.

Kein Wunder, verlieren auch Po­li­ti­ker:in­nen schnell den Durchblick. So meinte die Grünliberale Tiana Angelina Moser, immerhin Mitglied der Aussenpolitischen Kommission, auf Twitter, der Bundesrat solle beim Rüstungsexport seine «bisherige Praxis» überdenken. Bloss geht es eben nicht um die Praxis, sondern um Gesetze, und die Medien, die dem Bundesrat jetzt Schlaumeierei vorwerfen, machen es sich etwas einfach: Bei allen Entscheiden, die der Bundesrat bisher zu Exporten bezüglich Ukraine gefällt hat, hielt er sich an die Gesetze und berücksichtigte Ausnahmen.

Dass die Regierung nur über wenig Spielraum verfügt, hat zwei Gründe. Erstens berühren Waffenexporte in die Ukraine die Grundsätze der Gesetzgebung sowie die Neutralität der Schweiz. Zweitens ist der Bundesrat selber schuld, dass ihm die Hände gebunden sind.

Bei allen komplizierten Details sind die Exportgesetze aus klaren Grundsätzen abgeleitet. So liefert die Schweiz keine Rüstungsgüter in ein Bestimmungsland, das in einen «internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt» ist. Historisch begründet liegt dieses Prinzip in der Haager Konvention von 1907. Demnach ist es neutralen Staaten verboten, kriegsführenden Truppen aus staatseigenen Beständen Kriegsmaterial zu liefern.

Zu den Grundsätzen zählt weiter, dass Exporte in Länder verboten sind, in denen «die Menschenrechte schwerwiegend und systematisch verletzt» werden. Deshalb werden seit 2009 keine neuen Waffenexporte nach Saudi-Ara­bien mehr bewilligt. Ersatzteile für frühere Lieferungen allerdings werden toleriert.

Um die Grundsätze tobte in den letzten Jahrzehnten eine heftige Auseinandersetzung. Auf der einen Seite fand eine globale Verrechtlichung der Rüstungskontrolle statt. Die Schweiz spielte dabei eine aktive Rolle. So unterzeichnete sie 1996 als Gründungsmitglied zusammen mit 33 anderen Staaten das Wassenaar-Abkommen. Es regelt die Ex­port­kon­trol­len von konventionellen Waffen und sogenannten Dual-Use-Gütern, die militärisch wie zivil genutzt werden können.

Exporte werden von der Schweiz nur bewilligt, wenn eine Bestätigung der Nichtwiederausfuhr vorliegt. Das soll verhindern, dass Rüstungsgüter über einen friedlichen Staat doch in einem Kriegsgebiet landen.

Auf der anderen Seite hat die Politik wiederholt Ausnahmen beschlossen. So konstruierte man 1997, also kurz nach der Unterzeichnung des Wassenaar-Abkommens, für den Flugzeugbauer Pilatus in Stans die Bestimmungen über die «besonderen militärischen Güter». Obwohl die Trainingsflugzeuge weltweit in bewaffneten Konflikten auftauchten, gelten sie seither nicht mehr als Kriegsmaterial. Es sollte nicht das letzte erfolgreiche Lobbying der Waffenfirmen für ihre Interessen bleiben.

2014 ermöglichte der Bundesrat, dass Rüstungsgüter in Staaten ausgeliefert werden, wenn nur ein geringes Risiko bestehe, dass sie für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt würden. Und 2018 forderten Rüstungskonzerne wie die Mowag vom Bundesrat, dass sie auch in Länder exportieren dürfen, in denen Bürgerkriege toben. Die damaligen Bundesräte von FDP und SVP – Johann Schneider-Ammann, Ignazio Cassis, Ueli Maurer und Guy Parmelin – knickten ein.

In der Bevölkerung brach ein Sturm der Entrüstung los, die «Korrekturinitiative» wurde lanciert. Sie wurde für den Bundesrat zum Bumerang: Das Parlament schrieb die Grundsätze der Rüstungsexporte nicht mehr auf Verordnungs-, sondern neu auf Gesetzesebene fest. Der Bundesrat kann deshalb keine neuen Ausnahmen mehr beschlies­sen. Er braucht dazu das Parlament.

In Kraft trat das neue Gesetz im Mai 2022 – nur wenige Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. So weit die Situation nach allen Regeln der Exportwissenschaft.

Will die Schweiz nun also Waffen in die Ukraine liefern, muss sie demokratisch die Gesetze ändern. Das kann der Bundesrat in die Wege leiten – oder das Parlament selbst. FDP-Präsident Thierry Burkart will das tun: Er möchte es Staaten erlauben, Rüstungsgüter, die sie einst mit einer Nichtwiederausfuhrbestätigung erhalten haben, in Kriegsgebiete zu exportieren. Sofern diese Staaten «unsere Werte teilen». In einem konkreten Fall hat Dänemark die Schweiz angefragt, ob man Mowag-Piranhas an die Ukraine weitergeben dürfe.

Burkarts Vorstoss zeigt bereits alle Schwierigkeiten. Ohne Nichtwiederausfuhrbewilligung kann die Schweiz nicht mehr kontrollieren, wohin ihre Waffen gehen. So wie einst eine Lieferung von Ruag-Handgranaten an die Vereinigten Arabischen Emirate ausser Kontrolle geriet. Wenn zudem Dänemark die Panzer an die Ukraine weitergeben dürfte, warum sollte sie dann die Mowag nicht gleich direkt liefern?

Spätestens an diesem Punkt beginnt die grosse Neutralitätsdiskussion. Müsste die Mowag aus Gründen der Gleichbehandlung am Ende auch Russland beliefern? Und was sollen überhaupt Staaten sein, die «unsere Werte» teilen?

Die Korrekturinitiative wollte anfänglich – etwas weniger schwammig – festschreiben, dass Rüstungsgüter in «demokratische Rechtsstaaten» geliefert werden sollen, auch wenn sie sich im Krieg befinden. Wohlweislich kamen die Ini­tian­t:in­nen von dieser Formulierung ab: Als demokratischer Rechtsstaat hätte nicht nur die Ukraine gegolten, sondern auch die Türkei, trotz des schmutzigen Krieges gegen die ­Kurd:innen.

Aus all dem lässt sich folgern: Wenn die Schweiz den Grundsatz lockert, dass sie Waffen an eine Kriegspartei liefert, auch wenn diese völkerrechtswidrig angegriffen wird, zieht sie jene Karte, die das ganze Regelwerk der Rüstungskontrolle zum Einstürzen bringt.

Weil eine Gesetzesänderung dauert, weil die USA die Ukraine mit viel leistungsfähigeren Waffen unterstützen können, weil Staaten wie Deutschland wohl auch deshalb in der Frage Druck auf die Schweiz machen, um von der eigenen Zögerlichkeit bei Waffenexporten abzulenken, und weil die Schweizer Rüstungsindustrie volkswirtschaftlich vernachlässigbar ist, drängt sich ein anderer Schluss auf: Die Schweiz liefert am besten gar keine Waffen mehr ins Ausland.

Und nutzt ihren regulatorischen Eifer und das Kontroll-Know-how des Seco besser dort, wo sie der Ukraine wirklich helfen kann: bei der Suche nach den russischen und ukrainischen Oligarchengeldern. Das wäre ein echter Befreiungsschlag.

Die WOZ-Redaktoren Kaspar Surber und Jan Jirát haben zusammen den Rüstungsreport der WOZ erarbeitet.

Ein Schweisser repariert eine zerstörte Brücke über den Irpin in der Region Kyjiw. Foto: Imago

Ein neues Gesetz soll den ukrainischen Arbeitsmarkt deregulieren. Dagegen gibt es breiten Protest – auch vom Schweizer Gewerkschaftsbund.

Die grössten Frechheiten verbergen sich oft hinter unscheinbaren technisch-bürokratischen Begriffen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist etwa der Entwurf für das «Gesetz Nr. 5371» zur «Vereinfachung der Arbeitsbeziehungen in kleinen und mittleren Unternehmen». Mitte Mai passierte das Ansinnen in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, die Erstlesung; nun soll es in der zweiten Lesung endgültig verabschiedet werden. Schon im März hatte der Gesetzgeber eine Arbeitsmarktreform verabschiedet, in deren Folge unter anderem der Kündigungsschutz gelockert und die maximale Arbeitszeit erhöht wurde.  

Die «Vereinfachung» der Beziehungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten bedeutet indes nichts anderes als maximale Flexibilisierung und die vollkommene Deregulierung des Arbeitsmarkts. Im Kern zielt das Gesetz Nr. 5371 nämlich darauf ab, alle Beschäftigten in Betrieben mit bis zu 250 Personen – also einen Grossteil der ukrainischen Arbeiter:innen – ihrer Rechte zu berauben: Statt der aktuell noch geltenden, aus der Sowjetzeit stammenden Gesetze sollen inskünftig individuell mit den Unternehmen geschlossene Verträge die Arbeitsbedingungen und Löhne definieren. 

Die Reform käme einem gefährlichen Paradigmenwechsel gleich. Während die Befürworter:innen behaupten, die aktuellen Bestimmungen würden «die Entwicklung der Firmen behindern», befürchten die Gegner:innen des Vorhabens eine starke Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, etwa die Erleichterung fristloser Kündigungen. 

Der Entwurf stammt aus der Feder einer NGO des ehemaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, der die ukrainische Regierung gemeinsam mit der US-Behörde USAid und dem Arbeitgeberverband beraten hat. Ins Parlament gebracht wurde es von einer Gruppe um die Abgeordnete Halina Tretjakowa von der Selenski-Partei «Diener des Volkes», die den parlamentarischen Ausschuss für Sozialpolitik leitet. Als das Projekt vor rund einem Jahr auf den Weg gebracht wurde, übten ukrainische und internationale Gewerkschaften harsche Kritik an dem Entwurf, der daraufhin in der Schublade verschwand. Unter dem Eindruck des russischen Krieges gegen die Ukraine wurde er nun wieder hervorgekramt und als «Antikrisenmassnahme» für den gebeutelten Arbeitsmarkt verkauft. 

Weil unter dem Kriegsrecht Demonstrationen und Streiks verboten sind, befürchten die Gegner:innen nun, dass die Kritik diesmal ungehört verhallt – an ihrer Ablehnung hat sich indes nichts geändert. Der Gewerkschaftsbund FPU warnt davor, dass eine Annahme bloss den Interessen der Unternehmen diene. Und auch die linke Organisation Sozialnyi Ruch mobilisiert gegen das arbeiter:innenfeindliche Projekt. So lancierte die Gruppe unter anderem eine Petition, die Tretjakowas Enthebung ihrem Amtes an der Spitze des sozialpolitischen Ausschusses fordert. Sie ist der Meinung, dass das Kriegsrecht der Regierung bloss als Vorwand diene, lang geplante, neoliberale Reformen durchzudrücken. 

Nicht mit EU-Gesetzen vereinbar 

International ist die Kritik an Gesetz Nr. 5371 ebenfalls nicht ausgeblieben. Ein offener Brief, den auch Pierre-Yves Maillard, der Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, unterzeichnet hat, fordert die ukrainischen Parlamentarier:innen auf, dem umstrittenen Gesetz nicht zuzustimmen. «Wir sind besorgt, dass die sogenannte Vereinfachung die Abschaffung wichtiger Rechte und der letzten übrig gebliebenen Massnahmen zum Schutz der Arbeiter zur Folge hat», heisst es darin. Zudem würden die Beschäftigten ihrer Möglichkeiten zur gewerkschaftlichen Organisation beraubt. «Das Gesetz würde die Ungleichheit bloss weiter verstärken und den sozialen Dialog erschweren. Und es würde die Perspektive auf einen EU-Beitritt unterminieren.» Auch der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EPSU) hat dem ukrainischen Parlament einen Protestbrief geschickt. 

Schon vor einem Jahr hatte der parlamentarische Ausschuss zur EU-Integration festgestellt, dass das geplante Gesetz nicht mit dem EU-Assoziierungsabkommen und den Bestimmungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vereinbar sei, weil es gegen Richtlinien wie auch die Grundrechtecharta der EU verstosse. Gerade jetzt, wo die ukrainische Regierung auf eine rasche Beitrittsperspektive drängt, dürfte dieser Punkt für reichlich Zündstoff sorgen. 

«Warum müssen wir jedesmal betteln?»: Anna Dovha (am Mikrofon) und ihre Mitstreiter:innen vom Klimastreik.

Ukrainische und Schweizer Klimaaktivist:innen erklären, wie sich der Krieg auf die Umwelt auswirkt. Sie fordern ein vollständiges Embargo für russisches Öl und Gas.

Wasser, Kekse und Kopien ihrer Personaldokumente hatte die Ukrainerin Anna Dovha bereits im Januar 2022 in ihre «Notfalltasche» gepackt. Auch die Luftschutzbunker in ihrer Stadt Charkiw im Osten der Ukraine hatte sie ausgekundschaftet. Denn die Angst vor einer möglichen russischen Invasion hatte seit Wochen in der Luft gelegen.

Kurz bevor es am 24. Februar so weit war, hatte sich die junge Studentin in Ungarn befunden. Statt in die Ukraine zurückzureisen, brachte sie sich zuerst in Belgien in Sicherheit, zwei Wochen später kam sie für die Weiterführung ihres Studiums in die Schweiz.

«Ich hätte nicht gedacht, dass die Invasion eine solche Zerstörung bringen könnte. Ich habe nicht geglaubt, dass eine Person, mit der ich in der Vergangenheit zusammengearbeitet habe, von einer russischen Rakete getötet werden könnte. Oder dass meine Fakultät komplett niedergebrannt werden würde», sagt Dovha.

Am 31. Mai tritt Anna Dovha in Zürich bei einer Pressekonferenz vom Klimastreik Schweiz, von Fridays for Future Ukraine und Fridays for Future Russland auf. Mit dabei ist auch Anastasiia Onufriv, die vor zweieinhalb Monaten vor russischen Bombenangriffen in der Region Lwiw nach Deutschland geflohen ist. Beide Frauen waren bis zur Invasion für den ukrainischen Klimastreik – Fridays for Future Ukraine –  aktiv.

Onufriv betont die Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt. «Spätestens seit die russische Armee Schützengräben in der Sperrzone von Tschernobyl aushob, wurde klar, dass der Krieg eine Bedrohung für die Umwelt ist», sagt  Onufriv. Ein weiteres Beispiel sei die Bombardierung des Asow-Stahlwerks in Mariupol, aufgrund derer gefährliche Chemikalien ins Asowsche Meer fliessen und die dortige Flora und Fauna vernichten könnten.

Die Bedrohung der Umwelt durch den russischen Angriff ist nicht neu: Der britische Thinktank Royal United Services Institute (RUSI) schreibt, dass der seit acht Jahren anhaltende Beschuss der stark industrialisierten Donbasregion, die Hunderte von Bergwerken, Kohleminen und Chemiebetrieben beherbergt, zur Freisetzung gefährlicher Abfälle und zur Verseuchung von Wasser, Boden und Land geführt habe.

In der Ukraine lässt sich zudem ein Drittel der Biodiversität Europas nachweisen. Diese Artenvielfalt ist durch Militäraktionen bedroht, die Landschaften zerstören. Andere Berichte erwähnen die Luftverschmutzung durch die Bombardierung von Infrastruktur und Ölbasen, die Emissionen von Militärfahrzeugen sowie die Verschmutzung von Böden und Wasser durch detonierte Munition oder giftige Minen und nicht explodierte Sprengkörper.

«Der durch den Konflikt verursachte Schaden bleibt nicht auf die ukrainischen Grenzen beschränkt», schreibt RUSI. Aufgrund gemeinsamer Ökosysteme und Wasserwege wirke er sich auch auf Nachbarländer aus.

Die Botschaft der ukrainischen Klimaaktivistinnen ist klar: Es braucht ein EU-weites Embargo für russisches Öl und Gas, um die Verbrechen zu stoppen. «Dieser Krieg wird durch Ihr Geld angeheizt», sagt Onufriv. «Es ist eine sehr unangenehme Wahrheit, wenn man erkennt, dass man Teil des Systems ist, das das Töten, Vergewaltigungen und den Völkermord finanziert.»

Um die Abhängigkeit zu reduzieren, hat sich die EU diese Woche auf ein Verbot aller Importe von russischem Öl bis Ende 2022 als Teil der neuen Sanktionen gegen Russland geeinigt. Das Verbot betrifft jedoch nur die zwei Drittel des importierten Öls, das auf dem Seeweg eintrifft. Pipelineöl kann weiterhin eingeführt werden. Um den Bezug von russischem Gas zu minimieren, ziehen EU-Länder auch den Import von Energie aus Golfländern wie beispielsweise Katar in Betracht.

Für die Klimaaktivist:innen ist es jedoch keine Lösung, fossile Brennstoffe aus anderen Staaten zu importieren, die Menschenrechte verletzen. Sie fordern einen sofortigen Stopp jeglicher Investitionen, Kredite und Versicherungsleistungen für fossile Projekte und Unternehmen. «Von der Förderung über den Handel bis zur Verbrennung führen fossile Brennstoffe zu Zerstörung und Leid», sagt Cyrill Hermann vom Klimastreik Schweiz. Nicht nur in der Ukraine, sondern beispielsweise auch in Nigeria oder Libyen.

Die  Beschaffung dieser Brennstoffe wird dabei aktiv von europäischen Militärs unterstützt. Fast zwei Drittel aller europäischen Militäreinsätze würden dazu genutzt, die Förderung und den Transport von Öl und Gas nach Europa zu überwachen und zu sichern, besagt eine Studie von Greenpeace vom Dezember 2021. Auch die Nato lässt sich die Sicherung von Öl- und Gasimporten etwas kosten: Mehr als 33 Milliarden Euro waren es im Zeitraum 2018 bis 2020.

Die Milliarden von Euro würden besser für den Ausbau erneuerbarer Energien verwendet, findet Greenpeace. Auch der Klimastreik Schweiz sagt, es gebe nur einen Ausweg aus diesem Teufelskreis: einen Systemwandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. «Warum müssen wir eigentlich jedesmal, wenn Menschen bedroht werden, betteln und Massnahmen fordern? Das gilt sowohl für die Ukraine als auch für die Reaktion der Regierungen auf die Klimakrise», sagt Anna Dovha.

Die Beweise für systematisch ausgeübte sexuelle Gewalt durch russische Soldaten in der Ukraine häufen sich. Doch viele Überlebende erstatten keine Anzeige.

Sexuelle Überfälle mit vorgehaltener Waffe, Vergewaltigungen vor den Augen von Kindern oder von Kindern selbst: Ermittler:innen von Kriegsverbrechen in der Ukraine haben grausame Zeugnisse von sexueller Gewalt zusammengetragen.  

Sie stammen von Menschen, die fliehen konnten, und von Überlebenden aus den von russischen Truppen befreiten Gebieten. Hinweise liessen sich auch in den sozialen Medien finden oder in Gesprächen zwischen russischen Soldaten und Verwandten oder Freunden in Russland, die vom ukrainischen Geheimdienst abgefangen wurden.

Die Vorfälle sind nichts Neues: Die ukrainische Völkerrechtsspezialistin Kateryna Busol schrieb bereits 2020 in einem Expertenkommentar für den britischen Thinktank Chatham House, dass eine von drei Frauen und einer von vier Männern in den seit 2014 umkämpften Gebieten in der Ostukraine konfliktbezogene sexuelle Gewalt erlebt oder miterlebt häten.

Geschlechtsspezische Gewalt ist in der Ukraine generell ein Problem. Laut einer Studie des Bevölkerungsfonds der Uno (UNFPA) aus dem Jahr 2019 gab eine von drei Frauen über fünfzehn Jahren an, sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren zu haben. Der Krieg setzt sie nun einem noch höheren Risiko von sexueller Gewalt und Missbrauch aus.

Das Sammeln von Beweisen ist zentral, um die Täter strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen. Sowohl die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft als auch das Team des Internationalen Strafgerichtshofs haben Untersuchungen lanciert.

Eindeutige Beweise dafür, dass Sexualverbrechen als Kriegstaktik begangen wurden, sind jedoch selten, und die Fälle sind schwer zu beweisen. Auch weil viele Betroffene aus Angst vor Ablehnung und Stigmatisierung sich weigern, über ihre Erlebnisse zu sprechen und Anzeige zu erstatten.

In vielen Ländern werden Frauen, Kinder und Männer, die sexuelle Gewalt erlebt haben, als entehrt und beschmutzt wahrgenommen und ausgegrenzt. Sie führt zu Entfremdung und hat das Potenzial, Familien, Gemeinschaften und Gesellschaften langfristig zu zerstören. Auch in der Ukraine werden Überlebende stark stigmatisiert, und Tabu und Scham im Zusammenhang mit dem Thema sind weitverbreitet.

Yosch, die ihren Nachnamen nicht in den Medien veröffentlichen möchte, leitet den ukrainischen Feminist Workshop, eine Organisation in Lwiw, die sich seit 2014 für die Rechte von Frauen einsetzt. Seit der russischen Invasion organisieren die Mitarbeitenden vor allem Unterkünfte, psychologische Betreuung und Kinderbetreuung für geflüchtete Frauen in der Westukraine.

Yosch bestätigt, dass Sexualität im Allgemeinen und sexuelle Gewalt in der Ukraine gesellschaftlich stark tabuisiert sind. Ein Problem sei vor allem, dass es an der notwendigen Infrastruktur fehle, um Überlebende sexueller Gewalt zu schützen.

Zum Beispiel gibt es nur wenige ausgebildete Fachleute, die psychologische Hilfe leisten können, und es fehlt an staatlichen Unterkünften für Überlebende. Auch die Mehrheit der ukrainischen Polizist:innen sei nicht im sensiblen Umgang mit Überlebenden sexueller Gewalt geschult, sagt Yosch. All diese Einschränkungen tragen dazu bei, dass Betroffene die Straftaten in vielen Fällen nicht melden.

Eine neue Studie von UN Women, der Uno-Agentur zur Stärkung der Stellung der Frauen, sowie der NGO Care International bestätigt: Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt in der Ukraine haben einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie zu Meldemechanismen. Zudem sei die geschlechtsspezifische Gewalt aufgrund des Krieges allgemein gestiegen.

UN Women sagt, dass in gewissen Krisengebieten über siebzig Prozent aller Frauen und Mädchen geschlechtsspezifische Gewalt erlebt hätten. Global gesehen suchen jedoch weniger als vierzig Prozent aller gewaltbetroffenen Frauen Hilfe. Die meisten wenden sich dabei an Freunde und Familie.

Nur zehn Prozent aller Betroffenen melden sich bei staatlichen Behörden. Dies auch, weil die meisten Strafverfahren langwierig sind und enorme emotionale, mentale, physische oder finanzielle Ressourcen erfordern und zu einer erneuten Traumatisierung der Betroffenen führen können. «Für zahlreiche Geflüchtete und Vertriebene sind Strafanzeigen oftmals nicht die erste Priorität. Sie wollen als Erstes überleben und sich ein neues Leben aufbauen», sagt Yosch.

«Ich konnte nicht glauben, dass es Wirklichkeit ist, es sah vielmehr aus wie in einem postnuklearen Computerspielszenario»: Serhij Mowtschan (links) und Yurij Tschernata von Operation Solidarity. Foto: Anna Jikhareva

Die ukrainische Freiwilligengruppe Operation Solidarity unterstützt Aktivist:innen, die gegen die russische Invasion kämpfen, und bringt humanitäre Hilfe zur notleidenden Bevölkerung. Serhij Mowtschan und Yurij Tschernata über Pazifismusdiskussionen in ihrem Milieu, ihre Wut auf Teile der westlichen Linken – und die Heuchelei der Schweiz.  WOZ: Serhij Mowtschan, Yurij Tschernata, wie haben die Anarchist:innen und die Linken in der Ukraine auf die russische Invasion reagiert? Yurij Tschernata: Mit Mobilisierung. In den letzten Jahren war die Bewegung eher inaktiv; es gab zwar kleine Gruppen und Initiativen, aber nichts Organisiertes. Im Februar kamen wir zusammen, weil wir aktiv werden wollten.  Serhij Mowtschan: Vor dem Krieg fand ein Treffen verschiedener antiautoritärer Gruppen statt – und sie beschlossen, dass sich im Kriegsfall manche den Bataillonen der sogenannten Territorialverteidigung anschliessen würden, während andere humanitäre Hilfe aufgleisen würden. So ist es dann auch passiert. Haben sich jene, die kämpfen wollten, einer bestehenden Einheit angeschlossen oder eine eigene gebildet? Tschernata: Es kommt drauf an, ob man Kontakte zum Militär hat. Doch grundsätzlich bildet man keine eigene Einheit, sondern schliesst sich einer bestehenden an. Mowtschan: Aber wenn es eine Einheit ist, die komplett aus Freunden besteht, ist es ja quasi eine eigene Einheit. Es kann sein, dass auch andere Mitglied sind, aber das Image richtet sich nach der Einstellung des grössten Teils. Es gibt Einheiten, in denen die meisten Rechtsextreme sind und die entsprechende Social-Media-Kampagnen machen. Das Gleiche gilt für unsere antiautoritäre Einheit: Einige Mitglieder posten etwa Bilder mit der anarchistischen Flagge, was aber nicht heisst, dass es eine komplett anarchistische Einheit ist. Wir helfen auch Einheiten, die kein solches Image haben, in denen aber einzelne Aktivisten aus unserem Umfeld dabei sind. Im Moment versorgen wir insgesamt rund hundert Personen, doch wir wollen unsere Hilfe nun auch auf Mitglieder der Gewerkschaften ausweiten: ganz gewöhnliche Arbeiter, die ebenfalls kämpfen, aber praktisch nichts haben.  Tschernata: Sie erhielten bisher nicht so grosse Unterstützung wie unsere Leute.   Mowtschan: Sehr viele Leute wollen uns helfen – nicht bloss Anarchist:innen, sondern auch Marxisten, Trotzkistinnen oder Gewerkschaften. Für viele Linke ist es wichtig zu sehen, dass die Verteidigung der Ukraine nicht bloss die Agenda der Nationalisten ist, sondern auch aller anderen. Gab es in Ihrem Milieu viele Diskussionen darüber, ob man zur Waffe greifen oder lieber auf andere Weise gegen die russische Invasion kämpfen soll? Tschernata: Nein, das war kein grosses Thema. Was die Invasion angeht, haben wir einen Konsens: sie nicht bloss zu verurteilen, sondern auch Widerstand dagegen zu leisten. Natürlich ist nicht jeder bereit, zur Waffe zu greifen, und das ist auch kein Problem. Aber der militärische Widerstand ist zurzeit die wichtigste von allen Formen des Aktivismus: Wenn wir eine militärische Niederlage einstecken müssen, wird alles andere keinen Sinn mehr ergeben, ein politisches Leben wie bisher wird dann nicht mehr möglich sein, es wird weder links noch rechts geben. Wir wissen schliesslich, wie es in Russland, Belarus oder in den besetzten Gebieten zugeht.  Mowtschan: Manche von uns sind Antimilitaristen, aber im Moment verstehen wir, dass wir unsere Vorstellungen an die Realität anpassen müssen.  Tschernata: Wir haben nicht den Luxus, unter diesen Umständen hundert Prozent pazifistisch bleiben zu können.  Mowtschan: Hinzu kommt aber noch etwas anderes: Nach 2014 erhielten die Nationalisten viel soziales Kapital und Popularität, sie kehrten als Helden aus dem Krieg im Donbas zurück. Das ist auch ein Grund, warum wir aktiv sein müssen. Sind wir es nicht, werden die Rechten nach dem Krieg sagen können: «Wir haben gekämpft, wo wart ihr? Während wir an der Front waren, habt ihr euch im Bunker versteckt. Also haltet den Mund!» Ich weiss, dass das kein wirkliches Argument ist, sondern ein emotionales, aber es funktioniert. Sich dem Widerstand anzuschliessen, ist für uns sehr wichtig: nicht bloss, um die Ukraine vor der russischen Aggression zu beschützen, sondern auch aus politischen Gründen. So wird unsere heutige Arbeit zumindest nach dem Krieg eine Wirkung für die Linke haben.  Viel zu reden gibt im Westen das rechtsextreme Asow-Bataillon. Werden Sie oft nach dessen Rolle gefragt? Und was antworten Sie?  Tschernata: Bekäme ich jedes Mal einen Dollar, wenn jemand nach dem Asow-Bataillon fragt … (Lacht.) Es wäre genug, um ein paar schusssichere Westen mehr zu kaufen. Meine persönliche Meinung ist: Das Gerede darüber hat keine Bedeutung mehr, seit wir von den Taten russischer Soldaten wissen. «Apolitische» russische Streitkräfte haben Massaker begangen, wie man sie sich in den Reihen des Asow gar nicht vorstellen könnte.  Mowtschan: Vor dem Krieg war ich Teil eines Projekts, das die Aktivitäten von rechten Gruppen dokumentiert, und kenne mich deshalb recht gut aus. Wenn westliche Linke die tatsächliche Situation verstehen wollen, wäre das Erste, was sie tun sollten, uns zu fragen. Wir wissen, was abgeht, und wollen es auch nicht beschönigen, wie die Liberalen es tun, wenn sie sagen, es gebe keine Nazis in der Ukraine. Natürlich stimmt das nicht – wir wissen, dass sie existieren. Aber die russische Propaganda lügt ebenfalls, bläht die Bewegung zu monströser Grösse auf – sie ist weder so gross noch so einflussreich; und natürlich ist auch der Präsident kein Nazi. Wenn ihr also mehr wissen wollt, fragt uns, wir können euch die Zahlen zeigen. Aber wiederholt nicht einfach propagandistische Klischees. Wenn wir die Zahl rechtsextremer Angriffe mit auch nur einem Tag im Krieg vergleichen: In den dreissig Jahren ukrainischer Unabhängigkeit haben die Nazis nicht einmal ein Prozent davon begangen. Sie sind beide aktiv in der Freiwilligengruppe Operation Solidarity. Was machen Sie genau, und wie finanziert sich die Gruppe? Tschernata: Wir machen viel Medienarbeit und sammeln so Geld. Einen Teil treiben aber auch anarchistische Gruppen in Deutschland, Polen und anderen Ländern auf. Viele Menschen aus Westeuropa helfen uns auch mit der Logistik, unsere Genoss:innen betreiben etwa ein Lagerhaus in Polen. Die Sachen gelangen erst dorthin und werden dann weiter nach Lwiw oder Kyjiw gebracht.  Mowtschan: Viele linke Gruppen organisieren Soli-Kampagnen in ihren Ländern, schicken uns entweder Geld oder bringen Hilfsgüter nach Polen oder direkt in die Ukraine. Wir haben Leute, die Kontakt zur Territorialverteidigung halten und notieren, was dort an Gütern benötigt wird. Sie schicken die Infos dann an jene weiter, die für den Kauf der Güter zuständig sind. Welche Güter werden am meisten gebraucht? Mowtschan: Unsere erste Aufgabe war es, schusssichere Westen zu kaufen. Schliesslich haben wir hundert davon besorgen können, was 60 000 Euro gekostet hat, damals fast unser ganzes Geld. Wir brauchen aber dringend Helme, weil nicht jede:r einen hat, Medikamente, Tourniquets, um Blutungen zu stoppen, Patronentaschen und technische Geräte wie Entfernungsmesser, Drohnen oder Wärmebildkameras. Bekommt die Territorialverteidigung all diese Sachen nicht vom Staat? Mowtschan: Manches bekommen sie schon, aber es sind ja gewöhnliche Leute, die zu Beginn des Kriegs nichts hatten als die Kleider der Armee und vielleicht ein paar einfache Geräte. Es gibt sehr viele Freiwilligenorganisationen, und manche Bataillone werden von ihnen gut versorgt; dann aber gibt es Einheiten, einige davon sogar an der Front, die keine solchen Verbindungen haben und deshalb praktisch nichts bekommen.  Tschernata: In den ersten Tagen der Invasion begann sich die Territorialverteidigung erst aufzubauen, das entsprechende Gesetz wurde erst letztes Jahr erlassen, und es musste schnell gehen. Meine Wohnung in Kyjiw liegt unweit der Einberufungsstelle, und ich habe gesehen, wie sehr viele Freiwillige kamen und einfach Kalaschnikows in die Hand gedrückt bekamen, die meisten noch in ziviler Kleidung. Später hat sich die Situation dann verbessert, so viel ich weiss. Gibt es im Moment auch Raum für politische Projekte, die nicht direkt mit dem Krieg zu tun haben? Mowtschan: Neben unseren Lieferungen für die Territorialverteidigung bekommen wir auch sehr viele Hilfsgüter. Wir haben damit begonnen, Güter in die befreiten Städte zu liefern, die von der russischen Armee stark zerstört wurden, und in den Osten und Süden des Landes. Ich mache zurzeit nichts anderes als diese Freiwilligenarbeit, aber ich denke darüber nach, auch wieder journalistisch tätig zu werden. Wenn wir in den zerstörten Orten sind, reden wir mit den Bewohner:innen – es könnte nützlich sein, der Welt ihre Geschichten zu erzählen. Sie waren auch in Butscha und Irpin. Was waren Ihre Eindrücke? Mowtschan: Zuweilen konnte ich nicht glauben, dass es Wirklichkeit ist, es sah vielmehr aus wie in einem postnuklearen Computerspielszenario: die Zerstörung, das kaputte Glas, die Geschosse. Es ist wahnsinnig. Überall zerstörte Militärkonvois – ein sehr beliebtes Fotomotiv übrigens – und zerstörte Panzer. Manchmal scheint es sogar ein cooles Bild zu sein. Aber wenn du mit den Menschen zu reden beginnst, verstehst du, was für eine Tragödie dahintersteckt. Alle in Butscha oder Irpin haben Geschichten von «35 Tagen Hölle» zu erzählen, wie sie es nennen. Es ist schon sehr seltsam, wenn ich höre, dass das alles vom CIA inszeniert sein soll, wie die russische Propaganda behauptet. Es ist völlig unmöglich, jede Person in diesen Städten müsste perfekt schauspielern können.  Ich war auch in Borodjanka, einem anderen Symbol des Kriegs, wo riesige Gebäude von Raketen getroffen wurden. In den Überresten ihrer Wohnungen haben die Leute versucht, zumindest irgendwas zu finden, was noch ganz ist, einen Staubsauger etwa. Ein Mann erzählte mir, er habe nur überlebt, weil er zehn Minuten vor dem Angriff in die Garage gegangen sei. Und dann sagte er: «Aber meine Frau war in der Wohnung.» Und dann begreifst du, dass seine Frau nicht mehr lebt! Dort, wo seine Wohnung gewesen war, ist nichts mehr übrig, er konnte in den Trümmern nicht einmal nach den Überresten seines Besitzes suchen. In den kleinen Dörfern rund um Irpin oder Borodjanka ist die Situation noch schlimmer. Schon vor dem Krieg waren es sehr arme, landwirtschaftlich geprägte Orte. Jetzt ist jedes zweite Haus beschädigt oder zerstört. Wenn Sie solche Dinge sehen und westliche Linke Ihnen dann nicht glauben oder Ihre Berichte anzweifeln: Sind Sie dann enttäuscht? Mowtschan: Ich kann schon verstehen, woher dieses Denken kommt; ich kenne all die Theorien und weiss, wie sie von diesen Theorien zu ihren Positionen kommen.  Tschernata: Aber es macht dich wütend, nicht? Mowtschan: Wenn ich in einer Onlinediskussion einem westlichen linken Publikum von diesen Dingen erzähle, und jemand zieht das in Zweifel, werde ich sehr wütend, ja.  Tschernata: An einem der ersten Kriegstage sass ich im Flur meiner Wohnung, weil Luftalarm war, und nahm an einer Onlineveranstaltung teil. Dann trat eine Frau ans Mikro und fragte: «Aber was ist mit der Nato?» Ja, was ist damit? Sag es mir! Mowtschan: Ich habe an einer Veranstaltung in Barcelona gesprochen und ein Stalinist erklärte uns, was wir tun sollten: nicht die Ukraine unterstützen, sondern die Idee propagieren, dass Soldaten ihre Waffen gegen die eigene Regierung richten sollen. Ja, tolle Idee, danke! Und ich sagte: «Gut, fangen wir mit dir an. Unternimm doch etwas, damit russische Soldaten ihre Waffen gegen den Kreml richten.» Einige Linke sehen im Krieg gegen die Ukraine vor allem einen Konflikt zwischen zwei imperialistischen Blöcken. Was denken Sie? Mowtschan: Es ist interessant, wie Leute, die der Ukraine ihre Subjektivität absprechen, gleichzeitig meinen, die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk hätten eine eigene Subjektivität und seien nicht nur russische Stellvertreter. Wenn du wirklich ein Linker bist, versuch den Leuten vor Ort zuzuhören und zu verstehen, dass die Ukraine ihre eigene Subjektivität besitzt. Natürlich hat jedes Land, jeder geopolitische Block eigene Interessen, die Nato ebenso wie die USA oder Deutschland. Der Krieg hat aber nicht wegen der Nato begonnen, sondern wegen Putin und weil dieser die Region unter Kontrolle bringen, ein lokaler Imperialist sein will. Natürlich steht er dem Westen konfrontativ gegenüber, denn der will ihn nicht als lokalen Imperialisten sehen. Aber das ändert nichts an Putins ursprünglicher Idee, alle Gebiete um Russland herum kontrollieren zu wollen. Kommen wir zum Schluss noch auf die Schweiz zu sprechen, die zwar offiziell neutral ist, aber zugleich als Drehscheibe für den Ölhandel und als Hort für Oligarchengelder dient. Welche Forderungen sollte die Linke in der Schweiz stellen? Tschernata: Vielleicht für den Anfang, dass diese ganzen Konten mit dem geklauten Geld geschlossen werden? Die Neutralität finde ich heuchlerisch. Der Ehemann meiner Tante ist Schweizer und er hat die Neutralität über Jahre verteidigt, sagte, dass ihn der Krieg in Syrien nichts angehe. Doch, das tut er! Er ist einer der Gründe, warum er komfortabel leben und all die teuren Dinge kaufen kann. In einer modernen, globalisierten Welt gibt es keine echte Neutralität.  Serhij Mowtschan koordiniert das Projekt «Violence Marker», das rechte Gewalt in der Ukraine dokumentiert, und lebt in Kyjiw. Zudem ist er für die linke Zeitschrift «Politychna Krytyka» tätig. Yurij Tschernata arbeitet im Nationalen Historischen Museum der Ukraine in Kyjiw und ist ebenfalls Teil der Redaktion von «Politychna Krytyka». Die beiden sind bei der Freiwilligengruppe Operation Solidarity aktiv. Die Organisation sammelt Geld- und Materialspenden für Geflüchtete und Aktivist:innen in Not, lokale antiautoritäre Initiativen und die Territorialverteidigung und organisiert die Verteilung. Mehr über die Operation Solidarity und Möglichkeiten zur Unterstützung finden sich auf ihrer Website: www.operation-solidarity.org.   

Die ukrainische Freiwilligengruppe Operation Solidarity unterstützt Aktivist:innen, die gegen die russische Invasion kämpfen, und bringt humanitäre Hilfe zur notleidenden Bevölkerung. Serhij Mowtschan und Yurij Tschernata über Pazifismusdiskussionen in ihrem Milieu, ihre Wut auf Teile der westlichen Linken – und die Heuchelei der Schweiz. 

WOZ: Serhij Mowtschan, Yurij Tschernata, wie haben die Anarchist:innen und die Linken in der Ukraine auf die russische Invasion reagiert?

Yurij Tschernata: Mit Mobilisierung. In den letzten Jahren war die Bewegung eher inaktiv; es gab zwar kleine Gruppen und Initiativen, aber nichts Organisiertes. Im Februar kamen wir zusammen, weil wir aktiv werden wollten. 

Serhij Mowtschan: Vor dem Krieg fand ein Treffen verschiedener antiautoritärer Gruppen statt – und sie beschlossen, dass sich im Kriegsfall manche den Bataillonen der sogenannten Territorialverteidigung anschliessen würden, während andere humanitäre Hilfe aufgleisen würden. So ist es dann auch passiert.

Haben sich jene, die kämpfen wollten, einer bestehenden Einheit angeschlossen oder eine eigene gebildet?

Tschernata: Es kommt drauf an, ob man Kontakte zum Militär hat. Doch grundsätzlich bildet man keine eigene Einheit, sondern schliesst sich einer bestehenden an.

Mowtschan: Aber wenn es eine Einheit ist, die komplett aus Freunden besteht, ist es ja quasi eine eigene Einheit. Es kann sein, dass auch andere Mitglied sind, aber das Image richtet sich nach der Einstellung des grössten Teils. Es gibt Einheiten, in denen die meisten Rechtsextreme sind und die entsprechende Social-Media-Kampagnen machen. Das Gleiche gilt für unsere antiautoritäre Einheit: Einige Mitglieder posten etwa Bilder mit der anarchistischen Flagge, was aber nicht heisst, dass es eine komplett anarchistische Einheit ist. Wir helfen auch Einheiten, die kein solches Image haben, in denen aber einzelne Aktivisten aus unserem Umfeld dabei sind. Im Moment versorgen wir insgesamt rund hundert Personen, doch wir wollen unsere Hilfe nun auch auf Mitglieder der Gewerkschaften ausweiten: ganz gewöhnliche Arbeiter, die ebenfalls kämpfen, aber praktisch nichts haben. 

Tschernata: Sie erhielten bisher nicht so grosse Unterstützung wie unsere Leute.  

Mowtschan: Sehr viele Leute wollen uns helfen – nicht bloss Anarchist:innen, sondern auch Marxisten, Trotzkistinnen oder Gewerkschaften. Für viele Linke ist es wichtig zu sehen, dass die Verteidigung der Ukraine nicht bloss die Agenda der Nationalisten ist, sondern auch aller anderen.

Gab es in Ihrem Milieu viele Diskussionen darüber, ob man zur Waffe greifen oder lieber auf andere Weise gegen die russische Invasion kämpfen soll?

Tschernata: Nein, das war kein grosses Thema. Was die Invasion angeht, haben wir einen Konsens: sie nicht bloss zu verurteilen, sondern auch Widerstand dagegen zu leisten. Natürlich ist nicht jeder bereit, zur Waffe zu greifen, und das ist auch kein Problem. Aber der militärische Widerstand ist zurzeit die wichtigste von allen Formen des Aktivismus: Wenn wir eine militärische Niederlage einstecken müssen, wird alles andere keinen Sinn mehr ergeben, ein politisches Leben wie bisher wird dann nicht mehr möglich sein, es wird weder links noch rechts geben. Wir wissen schliesslich, wie es in Russland, Belarus oder in den besetzten Gebieten zugeht. 

Mowtschan: Manche von uns sind Antimilitaristen, aber im Moment verstehen wir, dass wir unsere Vorstellungen an die Realität anpassen müssen. 

Tschernata: Wir haben nicht den Luxus, unter diesen Umständen hundert Prozent pazifistisch bleiben zu können. 

Mowtschan: Hinzu kommt aber noch etwas anderes: Nach 2014 erhielten die Nationalisten viel soziales Kapital und Popularität, sie kehrten als Helden aus dem Krieg im Donbas zurück. Das ist auch ein Grund, warum wir aktiv sein müssen. Sind wir es nicht, werden die Rechten nach dem Krieg sagen können: «Wir haben gekämpft, wo wart ihr? Während wir an der Front waren, habt ihr euch im Bunker versteckt. Also haltet den Mund!» Ich weiss, dass das kein wirkliches Argument ist, sondern ein emotionales, aber es funktioniert. Sich dem Widerstand anzuschliessen, ist für uns sehr wichtig: nicht bloss, um die Ukraine vor der russischen Aggression zu beschützen, sondern auch aus politischen Gründen. So wird unsere heutige Arbeit zumindest nach dem Krieg eine Wirkung für die Linke haben. 

Viel zu reden gibt im Westen das rechtsextreme Asow-Bataillon. Werden Sie oft nach dessen Rolle gefragt? Und was antworten Sie? 

Tschernata: Bekäme ich jedes Mal einen Dollar, wenn jemand nach dem Asow-Bataillon fragt … (Lacht.) Es wäre genug, um ein paar schusssichere Westen mehr zu kaufen. Meine persönliche Meinung ist: Das Gerede darüber hat keine Bedeutung mehr, seit wir von den Taten russischer Soldaten wissen. «Apolitische» russische Streitkräfte haben Massaker begangen, wie man sie sich in den Reihen des Asow gar nicht vorstellen könnte. 

Mowtschan: Vor dem Krieg war ich Teil eines Projekts, das die Aktivitäten von rechten Gruppen dokumentiert, und kenne mich deshalb recht gut aus. Wenn westliche Linke die tatsächliche Situation verstehen wollen, wäre das Erste, was sie tun sollten, uns zu fragen. Wir wissen, was abgeht, und wollen es auch nicht beschönigen, wie die Liberalen es tun, wenn sie sagen, es gebe keine Nazis in der Ukraine. Natürlich stimmt das nicht – wir wissen, dass sie existieren. Aber die russische Propaganda lügt ebenfalls, bläht die Bewegung zu monströser Grösse auf – sie ist weder so gross noch so einflussreich; und natürlich ist auch der Präsident kein Nazi. Wenn ihr also mehr wissen wollt, fragt uns, wir können euch die Zahlen zeigen. Aber wiederholt nicht einfach propagandistische Klischees. Wenn wir die Zahl rechtsextremer Angriffe mit auch nur einem Tag im Krieg vergleichen: In den dreissig Jahren ukrainischer Unabhängigkeit haben die Nazis nicht einmal ein Prozent davon begangen.

Sie sind beide aktiv in der Freiwilligengruppe Operation Solidarity. Was machen Sie genau, und wie finanziert sich die Gruppe?

Tschernata: Wir machen viel Medienarbeit und sammeln so Geld. Einen Teil treiben aber auch anarchistische Gruppen in Deutschland, Polen und anderen Ländern auf. Viele Menschen aus Westeuropa helfen uns auch mit der Logistik, unsere Genoss:innen betreiben etwa ein Lagerhaus in Polen. Die Sachen gelangen erst dorthin und werden dann weiter nach Lwiw oder Kyjiw gebracht. 

Mowtschan: Viele linke Gruppen organisieren Soli-Kampagnen in ihren Ländern, schicken uns entweder Geld oder bringen Hilfsgüter nach Polen oder direkt in die Ukraine. Wir haben Leute, die Kontakt zur Territorialverteidigung halten und notieren, was dort an Gütern benötigt wird. Sie schicken die Infos dann an jene weiter, die für den Kauf der Güter zuständig sind.

Welche Güter werden am meisten gebraucht?

Mowtschan: Unsere erste Aufgabe war es, schusssichere Westen zu kaufen. Schliesslich haben wir hundert davon besorgen können, was 60 000 Euro gekostet hat, damals fast unser ganzes Geld. Wir brauchen aber dringend Helme, weil nicht jede:r einen hat, Medikamente, Tourniquets, um Blutungen zu stoppen, Patronentaschen und technische Geräte wie Entfernungsmesser, Drohnen oder Wärmebildkameras.

Bekommt die Territorialverteidigung all diese Sachen nicht vom Staat?

Mowtschan: Manches bekommen sie schon, aber es sind ja gewöhnliche Leute, die zu Beginn des Kriegs nichts hatten als die Kleider der Armee und vielleicht ein paar einfache Geräte. Es gibt sehr viele Freiwilligenorganisationen, und manche Bataillone werden von ihnen gut versorgt; dann aber gibt es Einheiten, einige davon sogar an der Front, die keine solchen Verbindungen haben und deshalb praktisch nichts bekommen. 

Tschernata: In den ersten Tagen der Invasion begann sich die Territorialverteidigung erst aufzubauen, das entsprechende Gesetz wurde erst letztes Jahr erlassen, und es musste schnell gehen. Meine Wohnung in Kyjiw liegt unweit der Einberufungsstelle, und ich habe gesehen, wie sehr viele Freiwillige kamen und einfach Kalaschnikows in die Hand gedrückt bekamen, die meisten noch in ziviler Kleidung. Später hat sich die Situation dann verbessert, so viel ich weiss.

Gibt es im Moment auch Raum für politische Projekte, die nicht direkt mit dem Krieg zu tun haben?

Mowtschan: Neben unseren Lieferungen für die Territorialverteidigung bekommen wir auch sehr viele Hilfsgüter. Wir haben damit begonnen, Güter in die befreiten Städte zu liefern, die von der russischen Armee stark zerstört wurden, und in den Osten und Süden des Landes. Ich mache zurzeit nichts anderes als diese Freiwilligenarbeit, aber ich denke darüber nach, auch wieder journalistisch tätig zu werden. Wenn wir in den zerstörten Orten sind, reden wir mit den Bewohner:innen – es könnte nützlich sein, der Welt ihre Geschichten zu erzählen.

Sie waren auch in Butscha und Irpin. Was waren Ihre Eindrücke?

Mowtschan: Zuweilen konnte ich nicht glauben, dass es Wirklichkeit ist, es sah vielmehr aus wie in einem postnuklearen Computerspielszenario: die Zerstörung, das kaputte Glas, die Geschosse. Es ist wahnsinnig. Überall zerstörte Militärkonvois – ein sehr beliebtes Fotomotiv übrigens – und zerstörte Panzer. Manchmal scheint es sogar ein cooles Bild zu sein. Aber wenn du mit den Menschen zu reden beginnst, verstehst du, was für eine Tragödie dahintersteckt. Alle in Butscha oder Irpin haben Geschichten von «35 Tagen Hölle» zu erzählen, wie sie es nennen. Es ist schon sehr seltsam, wenn ich höre, dass das alles vom CIA inszeniert sein soll, wie die russische Propaganda behauptet. Es ist völlig unmöglich, jede Person in diesen Städten müsste perfekt schauspielern können. 

Ich war auch in Borodjanka, einem anderen Symbol des Kriegs, wo riesige Gebäude von Raketen getroffen wurden. In den Überresten ihrer Wohnungen haben die Leute versucht, zumindest irgendwas zu finden, was noch ganz ist, einen Staubsauger etwa. Ein Mann erzählte mir, er habe nur überlebt, weil er zehn Minuten vor dem Angriff in die Garage gegangen sei. Und dann sagte er: «Aber meine Frau war in der Wohnung.» Und dann begreifst du, dass seine Frau nicht mehr lebt! Dort, wo seine Wohnung gewesen war, ist nichts mehr übrig, er konnte in den Trümmern nicht einmal nach den Überresten seines Besitzes suchen. In den kleinen Dörfern rund um Irpin oder Borodjanka ist die Situation noch schlimmer. Schon vor dem Krieg waren es sehr arme, landwirtschaftlich geprägte Orte. Jetzt ist jedes zweite Haus beschädigt oder zerstört.

Wenn Sie solche Dinge sehen und westliche Linke Ihnen dann nicht glauben oder Ihre Berichte anzweifeln: Sind Sie dann enttäuscht?

Mowtschan: Ich kann schon verstehen, woher dieses Denken kommt; ich kenne all die Theorien und weiss, wie sie von diesen Theorien zu ihren Positionen kommen. 

Tschernata: Aber es macht dich wütend, nicht?

Mowtschan: Wenn ich in einer Onlinediskussion einem westlichen linken Publikum von diesen Dingen erzähle, und jemand zieht das in Zweifel, werde ich sehr wütend, ja. 

Tschernata: An einem der ersten Kriegstage sass ich im Flur meiner Wohnung, weil Luftalarm war, und nahm an einer Onlineveranstaltung teil. Dann trat eine Frau ans Mikro und fragte: «Aber was ist mit der Nato?» Ja, was ist damit? Sag es mir!

Mowtschan: Ich habe an einer Veranstaltung in Barcelona gesprochen und ein Stalinist erklärte uns, was wir tun sollten: nicht die Ukraine unterstützen, sondern die Idee propagieren, dass Soldaten ihre Waffen gegen die eigene Regierung richten sollen. Ja, tolle Idee, danke! Und ich sagte: «Gut, fangen wir mit dir an. Unternimm doch etwas, damit russische Soldaten ihre Waffen gegen den Kreml richten.»

Einige Linke sehen im Krieg gegen die Ukraine vor allem einen Konflikt zwischen zwei imperialistischen Blöcken. Was denken Sie?

Mowtschan: Es ist interessant, wie Leute, die der Ukraine ihre Subjektivität absprechen, gleichzeitig meinen, die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk hätten eine eigene Subjektivität und seien nicht nur russische Stellvertreter. Wenn du wirklich ein Linker bist, versuch den Leuten vor Ort zuzuhören und zu verstehen, dass die Ukraine ihre eigene Subjektivität besitzt. Natürlich hat jedes Land, jeder geopolitische Block eigene Interessen, die Nato ebenso wie die USA oder Deutschland. Der Krieg hat aber nicht wegen der Nato begonnen, sondern wegen Putin und weil dieser die Region unter Kontrolle bringen, ein lokaler Imperialist sein will. Natürlich steht er dem Westen konfrontativ gegenüber, denn der will ihn nicht als lokalen Imperialisten sehen. Aber das ändert nichts an Putins ursprünglicher Idee, alle Gebiete um Russland herum kontrollieren zu wollen.

Kommen wir zum Schluss noch auf die Schweiz zu sprechen, die zwar offiziell neutral ist, aber zugleich als Drehscheibe für den Ölhandel und als Hort für Oligarchengelder dient. Welche Forderungen sollte die Linke in der Schweiz stellen?

Tschernata: Vielleicht für den Anfang, dass diese ganzen Konten mit dem geklauten Geld geschlossen werden? Die Neutralität finde ich heuchlerisch. Der Ehemann meiner Tante ist Schweizer und er hat die Neutralität über Jahre verteidigt, sagte, dass ihn der Krieg in Syrien nichts angehe. Doch, das tut er! Er ist einer der Gründe, warum er komfortabel leben und all die teuren Dinge kaufen kann. In einer modernen, globalisierten Welt gibt es keine echte Neutralität. 

Serhij Mowtschan koordiniert das Projekt «Violence Marker», das rechte Gewalt in der Ukraine dokumentiert, und lebt in Kyjiw. Zudem ist er für die linke Zeitschrift «Politychna Krytyka» tätig. Yurij Tschernata arbeitet im Nationalen Historischen Museum der Ukraine in Kyjiw und ist ebenfalls Teil der Redaktion von «Politychna Krytyka». Die beiden sind bei der Freiwilligengruppe Operation Solidarity aktiv. Die Organisation sammelt Geld- und Materialspenden für Geflüchtete und Aktivist:innen in Not, lokale antiautoritäre Initiativen und die Territorialverteidigung und organisiert die Verteilung. Mehr über die Operation Solidarity und Möglichkeiten zur Unterstützung finden sich auf ihrer Website: www.operation-solidarity.org.   

Ein russischer Diplomat quittiert öffentlich seinen Dienst aus Protest gegen den Krieg. Dass ihm viele folgen werden, glaubt er aber nicht.

Mit scharfen Worten des Protests gegen Russlands Überfall auf die Ukraine hat am Montag erstmals seit Kriegsbeginn vor drei Monaten ein ranghoher Diplomat der Regierung Wladimir Putins mit einer öffentlichen Erklärung seinen Posten quittiert.

Boris Bondarew, seit 2019 bei der russischen Uno-Mission in Genf zuständig für die Verhandlungen in der Uno-Abrüstungskonferenz, erklärte in seinem Rücktrittsbrief an seinen Vorgesetzten, Moskaus Uno-Botschafter Gennadi Gatilow, er habe sich in den zwanzig Jahren seiner diplomatischen Laufbahn noch nie so für sein Land geschämt wie am 24. Februar dieses Jahres, als der Überfall auf die Ukraine begann.

«Der von Putin angezettelte Angriffskrieg gegen die Ukraine, ja gegen die gesamte westliche Welt, ist nicht nur ein Verbrechen gegen das ukrainische Volk, sondern vielleicht auch das schwerste Verbrechen gegen das russische Volk, dem ein fettes Z alle Hoffnungen und Aussichten auf eine blühende und freie Gesellschaft in unserem Land durchkreuzt», schrieb der 41-jährige Diplomat in Anspielung auf das Symbol, das die russische Invasion sichtbar begleitet.

Diejenigen, die diesen Krieg geplant hätten, wollten «ewig an der Macht bleiben, in geschmacklosen Palästen leben und auf Jachten segeln», kritisierte Bondarew. «Dafür sind sie bereit, so viele Leben zu opfern wie nötig.»

Im russischen Aussenministerium hätten Desinformation und Propaganda ein Ausmass erreicht, das an die Sowjetzeit der 1930er Jahre erinnere, schrieb er in Anspielung auf die Herrschaft unter Diktator Josef Stalin.

Namentlich kritisierte Bondarew Aussenminister Sergei Lawrow. Dieser habe sich «in seinen achtzehn Amtsjahren von einem professionellen, gebildeten und bei seinen Kollegen hochangesehenen Intellektuellen zu einem Mann gewandelt, der ständig einander widersprechende Äusserungen verbreitet sowie die Welt (und damit auch Russland) mit atomaren Waffen bedroht». Im Aussenministerium gehe es heute nicht um Diplomatie. «Es geht nur um Kriegstreiberei, Lügen und Hass».

Auf Nachfrage verschiedener Medien teilte Bondarew mit, er habe nicht nur seinen Genfer Posten aufgegeben, sondern werde vollständig aus dem diplomatischen Dienst seines Landes ausscheiden. Seit dem 24. Februar habe er seine Besorgnis über den Krieg gegen die Ukraine mehrmals gegenüber leitenden Botschaftsmitarbeitern geäussert, berichtet Bondarew. Doch ihm sei gesagt worden, er solle den Mund halten, um Konsequenzen zu vermeiden.

Er habe schliesslich keine Alternative mehr zu einem Rücktritt gesehen, erwarte allerdings nicht, dass viele seiner bisherigen Kolleg:innen seinem Beispiel folgen würden. Zunächst hätten diese in der Botschaft beim Kriegsausbruch «glücklich, erfreut und euphorisch reagiert, dass Russland jetzt radikale Massnahmen ergreift», berichtet Bondarew.

Inzwischen seien sie allerdings «weniger glücklich, weil wir nun einige Probleme haben, vor allem wirtschaftliche». Doch er erwarte nicht, dass viele seiner Exkolleg:innen ihre Haltung bereuen und ändern würden. «Sie werden vielleicht ein bisschen weniger radikal und viel weniger aggressiv, aber nicht friedlich.»

An der Genfer Uno-Mission Russlands waren bislang 66 Diplomat:innen akkreditiert. Gerüchte über weitere Rücktritte konnten zunächst nicht bestätigt werden. Aus anderen Vertretungen Russlands weltweit sind bislang zumindest keine Diplomat:innenrücktritte öffentlich bekannt geworden. Eine von Moskau angekündigte Stellungnahme zum Rücktritt Bondarews erfolgte bis zum Montagabend nicht.

Nationalisten in trauter Zweisamkeit: Der kroatische Präsident Zoran Milanovic und sein türkischer Kollege Recep Tayyip Erdogan am 21. September 2021. Foto: Kroatisches Präsidentenbüro/Dario Andrišek

Die Einsprüche der Türkei und Kroatiens gegen eine Aufnahme Finnlands und Schwedens sind nichts anderes als eine Erpressung.

Die Nato, derzeit engagiert in der Unterstützung der Ukraine gegen Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, bezeichnet sich selber gerne als «Wertegemeinschaft». Ihre Mitglieder sind laut der Gründungsakte von 1949 «der Uno-Charta  verpflichtet» und darüber hinaus «den Prinzipien der Demokratie, der individuellen Freiheiten und der Rechtsstaatlichkeit», wie Generalsekretär Jens Stoltenberg bei jeder sich bietenden Gelegenheit betont.

Einmal abgesehen von den vergangenen Völkerrechtsverstössen der Nato oder einzelner Mitgliedstaaten in Exjugoslawien, Irak, Afghanistan, Libyen und anderswo, sah und sieht die Realität auch im Inneren der Allianz in den letzten 73 Jahren anders aus, als die hehre Selbstbeschreibung vorgibt.

Dies gilt vor allem mit Blick auf die beiden 1952 beigetretenen südosteuropäischen Mitgliedstaaten Türkei und Griechenland. Die blutigen Militärputsche und nachfolgenden faschistischen Dikaturen in der Türkei 1960 und 1980 sowie in Griechenland 1967 wurden von den USA und anderen Nato-Mitgliedstaaten nicht nur geduldet, sondern sogar unterstützt.

Dasselbe lässt sich über die seit 1976 anhaltende völkerrechtswidrige Besatzung Nordzyperns durch die Türkei sowie für die anhaltenden kriegerischen Interventionen der Türkei im Irak und in Syrien sagen. Auch die Unterdrückung der Kurden in der Türkei sowie der Abbau von Demokratie und Rechtsstaat durch den zunehmend diktatorischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan waren bislang kein Anlass für die übrigen Nato-Mitglieder, diesen schwerwiegenden Verstössen gegen die «Prinzipien der Demokratie, der individuellen Freiheiten und der Rechtsstaatlichkeit» auf irgendeine Weise entgegenzutreten.

Im Nato-Vertrag seien «keine Sanktionsmöglichkeiten gegen Mitglieder vorgesehen», wird diese Untätigkeit in der Brüsseler Zentrale der Allianz entschuldigt. Doch der eigentliche Grund ist, dass sich die Nato seit vielen Jahren von Ankara durch die Drohung erpressen lässt, die Nato-Basis Incirlik in der Südosttürkei zu schliessen. Die Basis ist die für die Nato und für die USA wichtigste Militärinfrastruktur für sämtliche Luftoperationen im Nahen Osten. Zudem sind in Incirlik US-amerikanische Atomwaffen stationiert.

Mit dem Widerspruch Ankaras gegen einen Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens, die sämtliche zitierten Prinzipien der Nato-Gründungsakte besser erfüllen als irgendein anderes Land, ist in der Nato eine noch nie da gewesene Kontroverse entstanden. Hätte Erdogan seinen Einspruch damit begründet, dass diese Erweiterung sicherheitspolitisch falsch und eine unnötige, gefährliche Provokation Russlands und seines Halbverbündeten Putin sei, hätte daraus eine politisch relevante, längst überfällige Nato-interne Debatte entstehen können.

Doch den Einspruch mit der Forderung zu begründen, dass die Regierungen in Helsinki und Stockholm ihre Schutz- und Asylverpflichtungen für verfolgte türkische Kurd:innen aufgeben, die von Erdogan systematisch als «Terroristen» diffamiert werden, ist schiere Erpressung. Sie zielt ganz offensichtlich darauf ab, die USA zur Lieferung von Kampfflugzeugen an die Türkei zu nötigen, die Washington nach Ankaras Kauf russischer Boden-Luft-Raketen storniert hatte.

Eine ähnlich miese Erpressung wie Erdogan versucht der irreführenderweise als «Sozialist» firmierende nationalistische Präsident Kroatiens, Zoran Milanovic. Er fordert, dass das Wahlgesetz im benachbarten Bosnien-Herzegowina zugunsten der dort lebenden Kroat:innen geändert wird, bevor das kroatische Parlament den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands ratifiziert. Dahinter steht das seit Anfang der 1990er Jahre von den Nationalist:innen in Zagreb wie in Belgrad unverändert verfolgte Ziel, den souveränen Staat Bosnien-Herzegowina zwischen Kroatien – Nato-Mitglied seit 2009 – und Serbien aufzuteilen.

Dieses Ziel des kroatischen Präsidenten stellt die Existenzberechtigung des souveränen Staates Bosnien-Herzegowina in ähnlich völkerrechtswidriger Weise infrage, wie Putin das mit Blick auf die Ukraine macht. Bleibt zu hoffen, dass die USA und alle anderen Nato-Staaten ebenso wie Finnland und Schweden den Erpressern in Ankara und Zagreb keinen Zentimeter entgegenkommen.

Ein Debattenbeitrag von Gilbert Achcar

Die Ukrainer:innen müssen selber entscheiden dürfen, welches Ziel sie im Abwehrkrieg gegen Russland verfolgen. Aber vor allem die britische Regierung übt sich in ungezügelter Kriegstreiberei.

Die Ukrainer:innen führen einen gerechten Krieg gegen eine imperialistische Invasion und verdienen deshalb Unterstützung. Ihr Recht auf Selbstverteidigung ist nicht nur gegenüber Russland von Bedeutung, sondern überhaupt für ihre Entscheidung, zu kämpfen. Sie alleine sollen entscheiden, ob sie weiterkämpfen oder einen Kompromiss eingehen wollen.

Sie haben allerdings kein Recht, andere direkt in ihre nationale Verteidigung hineinzuziehen: kein Recht darauf, dass die Nato-Mächte eine Flugverbotszone über ihrem Land verhängen oder Waffen und Ausrüstung schicken, was die Tragweite des Krieges vergrössern könnte. Sie verdienen Unterstützung, aber einzig aufgrund einer moralischen Pflicht.

Die Nato-Staaten haben ihrerseits kein Recht, den Ukrainer:innen die Bedingungen eines Friedensvertrags mit Russland zu diktieren und sie zu einer Kapitulation zu nötigen. Und umgekehrt haben sie kein Recht, die Aussicht auf einen Kompromiss zu sabotieren und die Ukrainer:innen unter Druck zu setzen, bis zur Erschöpfung zu kämpfen und sie dadurch zu einem Nato-Stellvertreter zu machen.

Die Aussage, die US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am 25. April in Polen gemacht hat, erregte erwartungsgemäss viel Aufmerksamkeit: «Wir wollen Russland in einem Mass geschwächt sehen, das es ihm unmöglich macht zu tun, was es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat.»

In den kommenden Wochen werden wir an der Haltung der US-Regierung ablesen können, ob sie maximalen Druck für ein möglichst baldiges Kriegsende ausübt und dadurch das Leiden der Ukrainer:innen verkürzt und den Schaden begrenzt, den der Krieg den USA und der Weltwirtschaft zufügt. Oder ob sie weiterhin gefährlich mit dem Feuer spielt.

Rüge für den Premierminister

Im Fall der britischen Kriegstreiberei ist die Sache viel deutlicher. Boris Johnson hat sich kopfüber in die Kriegsdiskussion gestürzt in der Hoffnung, mit diesem Knall den Lärm der vielen von ihm losgetretenen Skandale zu übertönen. Abgesehen davon haben sich der Premierminister und sein Kabinett auf ein hochgefährliches Spiel des gegenseitigen Ausstechens eingelassen.

Anders als etwa die französische und die deutsche Regierung, die diskret Waffen an die Ukraine liefern, haben sie öffentlich geprahlt mit jedem einzelnen Gut, das sie geliefert hatten, und jeder Form der Militärhilfe, die sie dem angegriffenen Land hatten zukommen lassen. Johnson hat sich gar die vernichtende Rüge eines ehemaligen polnischen Armeechefs eingehandelt, der ihm vorwarf, «das Böse zu verführen», nachdem er sich gebrüstet hatte: «Wir bilden derzeit Ukrainer in Polen in der Luftabwehr aus.»

Die Aussagen von britischen Regierungsangehörigen waren weit provokanter als jene, die in Washington gemacht wurden, von den EU-Staaten ganz zu schweigen. James Heappey, Minister für die britischen Streitkräfte, gab eine verblüffende Antwort, als er auf dem Radiosender BBC4 gefragt wurde, ob es für die Ukrainer:innen zulässig sei, britische Waffen gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet zu verwenden. Er versicherte, es sei «vollkommen legitim, militärische Ziele tief im gegnerischen Territoriums anzugreifen, um Logistik und Nachschublinien zu unterbrechen». Dann fuhr er fort: «Um ehrlich zu sein», sei es genauso «für die Russen vollkommen legitim, Ziele in der Westukraine anzugreifen, um ukrainische Nachschublinien zu unterbrechen. Vorausgesetzt, sie zielen nicht auf Zivilisten, worauf sie bisher leider nicht allzu viel Rücksicht genommen haben.»

Selbstverständlich ist es für ein Land, dessen Territorium angegriffen wird, «vollkommen legitim», Ziele auf dem Territorium des Invasors anzugreifen. Aber ist es klug, das zu tun? Und ist es vor allem klug für einen britischen Minister, dazu zu ermutigen? Natürlich nicht – nicht zuletzt, weil dies den russischen Aggressor dazu anstacheln könnte, seine Bombardements auf dem gesamten ukrainischen Territorium auszuweiten.

Wohl weil er seinen Fehler realisierte, versuchte Minister Heappey seine ursprüngliche Erklärung wiedergutzumachen, indem er dem Invasor ein gleichermassen «vollkommen legitimes» Recht zusprach, exakt das zu tun, was die Ukrainer:innen zu befürchten haben, wenn sie seinem Rat folgen.

In einer pathetischen Rede mit dem pompösen Titel «Die Rückkehr zur Geopolitik» erklärte am 27. April die britische Aussenministerin Liz Truss – deren Vorbild Margaret Thatcher ist und die den Ukrainekrieg mit dem Falklandkrieg zu verwechseln scheint: «Der Krieg in der Ukraine ist unser Krieg – er ist unser aller Krieg, denn der Sieg der Ukraine ist eine strategische Notwendigkeit für uns alle. Schwere Waffen, Panzer, Flugzeuge – wir müssen tief in unsere Bestände greifen, die Produktion hochfahren. Wir müssen all das tun», sagte Truss.

Und weiter: «Wir doppeln nach. Wir werden weiter und schneller vorgehen, um Russland aus der gesamten Ukraine zu vertreiben.» Sofern die britische Regierung nicht beschliesst, Russlands Annexion der Krim anzuerkennen, verspricht die Aussenministerin somit, sich an einer Verlängerung des Krieges zu beteiligen. Und zwar nicht nur bis die Ukrainer:innen die russischen Streitkräfte aus jenen Gebieten zurückgedrängt haben, die diese nach dem 24. Februar besetzt haben. Das wäre an sich schon waghalsig genug. Stattdessen verspricht Truss eine britische Beteiligung, bis die Ukrainer:innen Russland von der Krim und aus den Regionen Donbas und Luhansk vertrieben haben – was völlig unverantwortlich ist, sowohl für die Ukraine als auch für Grossbritannien selbst.

Der Premierminister muss begriffen haben, wie gefährlich die Worte der Aussenministerin waren. In seiner Ansprache vor dem ukrainischen Parlament am 3. Mai legte er besonderen Wert darauf, den Eindruck zu korrigieren, den ihr Statement hinterlassen hatte. «Kein Aussenstehender wie ich kann leichtfertig darüber sprechen, wie der Konflikt beigelegt werden könnte», betonte Johnson. «Niemand kann oder sollte den Ukrainern irgendetwas aufzwingen.»

Der Labour-Vorsitzende Keir Starmer blieb gegenüber der Angeberei des Johnson-Kabinetts zustimmend still. Starmers einzige Obsession besteht darin, sich innerhalb seiner Partei als Anti-Corbyn darzustellen. Damit bricht er sein Versprechen einer programmatischen Kontinuität, das er einst gegeben hat, um zum neuen Vorsitzenden gewählt zu werden.

Tatsächlich ist Starmer seit seiner Wahl vor allem damit beschäftigt, die Konservativen in ihren Pro-Nato- und Pro-Israel-Standpunkten zu übertrumpfen. So herrscht im britischen Parlament ein Klima der Pro-Nato-Einigkeit, das es Johnson erlaubt, weiterhin alle anderen in gefährlicher Kriegstreiberei in den Schatten zu stellen.

Gilbert Achcar (71) ist Professor für Entwicklungsforschung und Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der Universität London. Der marxistische Intellektuelle ist Autor zahlreicher Bücher und war langjähriger Experte von «Le Monde diplomatique». Dieser leicht gekürzte Artikel erschien zuerst am 7. Mai in der sozialistischen US-Zeitschrift «New Politics».

Aus dem Englischen von Raphel Albisser.

Von Annalisa Camilli (Text) und Valerio Muscella (Fotos), Saporischschja

Verbrachten zwei Monate in den Bunkern von Asowstal: Tania und Ihor Trotsak, Sergei Tsybultschenko, Larissa Yurkina.

Vier Zivilist:innen, die aus dem Asow-Stahlwerk in der belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol evakuiert worden sind, berichten von den schrecklichen Wochen in den Katakomben.

«Einen Monat lang hatten wir jeden Tag gehofft, dieser Hölle zu entkommen, aber nach den ersten dreissig Tagen im Bunker haben wir die Hoffnung verloren.» Ihor Trotsak hat es immer noch im Kopf, das unaufhörliche Getöse der Bomben, die über ihm explodierten, die zitternden Wände, das Gefühl, dass von einem Moment auf den anderen alles über ihm zusammenbrechen kann. Der 27-jährige Elektronikingenieur hat mit seiner Frau Tania, seinen Schwiegereltern und dem Hund Daisy zwei Monate lang in den Katakomben des Asow-Stahlwerks in Mariupol ausgeharrt – zusammen mit Hunderten Zivilist:innen und einigen Einheiten des ukrainischen Heeres.

«Wir waren in einem Gang, drei Meter unter der Erde, es war sehr feucht, kalt, die Kleider waren immer nass und die Luft schlecht. Zwei Monate lang haben wir kein Tageslicht gesehen», erzählt Tania. Im Stahlwerk schliefen sie auf dem Boden, einmal am Tag gab es eine Dose Thunfisch oder Sardinen, und sie erhielten keinerlei Informationen darüber, was ausserhalb des Bunkers und im Rest des Landes passierte. «Irgendwann haben wir ein Radio gefunden, und damit bekamen wir dann einige Informationen», berichtet Tania weiter.

Sie und ihre Familie wurden am 3. Mai mit weiteren 101 Personen in einem humanitären Konvoi evakuiert. Das Rote Kreuz und die Uno hatten ihn nach langen Verhandlungen mit der russischen Regierung organisieren können. Auch Uno-Generalsekretär António Guterres hatte sich dafür starkgemacht. Mittlerweile sind alle Zivilist:innen, die im Asowstal-Werk ausharren mussten, in Sicherheit.

Die aktuelle Situation der mehr als 2000 ukrainischen Soldat:innen im Stahlwerk hingegen ist derzeit unübersichtlich. Der «Guardian» berichtet aktuell unter Berufung auf russische Quellen, dass sich seit Anfang der Woche 1730 ukrainische Soldat:innen ergeben hätten, darunter 80 Schwerverletzte.

Die evakuierten Zivilist:innen aus dem Stahlwerk haben noch Extremeres durchgemacht als die anderen Menschen aus Mariupol. In der von russischen Truppen bombardierten und besetzten Hafenstadt am Asowschen Meer im Süden der Ukraine hat es nach Schätzung der ukrainischen Regierung bis zu 20 000 Tote gegeben. Tania und Ihor Trotsak waren am 2. März in die Luftschutzbunker des Stahlwerks geflüchtet, die noch aus der Sowjetzeit stammen. Sie wussten davon, weil Tanias Mutter früher im Werk gearbeitet hatte – wie fast alle, die dort Zuflucht suchten. «In unserem Tunnel waren wir ungefähr vierzig Personen», sagt Tania, die während des Gesprächs im Sessel eines Hotelzimmers in Saporischschja sitzt, einer Grossstadt im Süden der Ukraine, etwa dreissig Kilometer hinter der Front. Mit nervösen Händen hält sie das Halsband von Daisy fest, die unter dem Tisch aus ihrem Napf frisst.

«Wir hatten einen weiteren Hund dabei, einen Cockerspaniel, der schon sehr alt war, fünfzehn Jahre. Er war nicht mehr bei guter Gesundheit», sagt Tania. «Nach den ersten Wochen im Bunker ging es ihm zu schlecht, und wir haben die Soldaten gebeten, ihn einzuschläfern», erzählt sie weiter, während sie Fotos des Hundes zeigt. «Er hiess Jerry, wie bei ‹Tom und Jerry›.»

Die Frauen und Kinder verliessen die Bunker nie, während die Männer abwechselnd einige Stunden lang hinausgingen, um Essen und Wasser zu besorgen. Aber das war sehr gefährlich. «In den letzten zwei Wochen war die Bombardierung so heftig, dass keiner mehr die Bunker verliess und wir Angst hatten, dass alles zusammenbricht und wir unter den Trümmern begraben werden», erzählt Tania.

«An die Angst gewöhnt man sich nicht»

Auch die 57-jährige Larissa Yurkina hat zwei Monate in den Bunkern von Asowstal verbracht, zusammen mit ihrem Mann, ihrer 24-jährigen Tochter und deren 4-jährigem Sohn. Ihren Tunnel teilten sie sich mit weiteren 72 Personen, darunter 16 Kinder unterschiedlichen Alters. «Jedes Mal, wenn wir etwas assen, dachten wir, es könnte das letzte Mal sein», sagt sie. Zuerst durften die Kinder essen, dann die Frauen, zuletzt die Männer. «Ich habe acht Kilo abgenommen, mein Mann sechzehn», erklärt sie. Yurkina war Lehrerin in Mariupol. Sie trägt lange, zusammengebundene schwarze Haare, und ihr Blick ist immer noch glanzlos, als sie sagt: «Angst ist etwas, woran man sich nicht gewöhnt.»

Ins Stahlwerk haben sich neben den Zivilist:innen auch verschiedene ukrainische Militäreinheiten zurückgezogen, darunter das Asow-Regiment. Dieses wurde 2014 als Freiwilligenbataillon gegründet und ist mittlerweile Teil der ukrainischen Nationalgarde. Die genaue Grösse des Regiments ist nicht bekannt, Schätzungen gehen von ein paar Tausend Mitgliedern aus. Das Regiment hat rechtsextreme Wurzeln, und gemäss Sicherheitsforscher:innen gibt es nach wie vor – auch ranghohe – Mitglieder, die eine rechtsextreme Gesinnung aufweisen, auch wenn es heute weit heterogener aufgestellt ist als 2014.

«Wir hatten keinen direkten Kontakt zu den Soldaten», sagt Sergei Tsybultschenko. «Sie brachten uns Essen oder Wasser, aber es gab keine Beziehung zu ihnen», fährt der 65-jährige Ingenieur fort. «Wir haben uns dort hineingeflüchtet, weil die Bombardierungen zu Beginn des Krieges so massiv waren – das Feuer kam vom Himmel, vom Meer, von überallher.» Der einzige Gedanke, der ihn am Leben gehalten habe, sei die Hoffnung gewesen, herauszukommen. «Der Lärm der Bombardements war unerträglich, wir fragten uns jeden Moment: Wann wird das ein Ende haben?» Sie hätten verschiedene Male versucht, vom Gelände zu fliehen, aber rund um das Stahlwerk seien Dutzende von Minen gelegt worden.

Die humanitäre Aktion, mit der am 3. Mai 101 Personen aus dem Stahlwerk befreit werden konnten, war sehr kompliziert. Die Verhandlungen dauerten fünf Tage, obwohl es eine Vereinbarung zwischen Kyjiw und Moskau über die Evakuierung gab. «Als man uns gesagt hat, dass wir den Bunker verlassen könnten, haben wir es nicht geglaubt. Wir dachten, es stimmt nicht», sagt Tsybultschenko. Die russischen Truppen inspizierten und verhörten die Evakuierten aus dem Stahlwerk und versuchten, sie zu überzeugen, nach Russland oder in die russisch besetzten Gebiete der Ukraine auszureisen; ausserdem hatten die Helfer:innen der Uno und des Roten Kreuzes keinen Zugang zum Werk und konnten daher nicht feststellen, wie viele Zivilist:innen dort noch eingeschlossen waren und in welchem Gesundheitszustand sie waren.

«Die Soldaten kamen und sagten uns, wir sollten uns bereit machen», erzählt Ihor Trotsak. Zuerst jedoch handelte es sich um «falschen Alarm», alle hätten sich vorbereitet, doch die Evakuierung konnte nicht stattfinden. Dann kamen die Soldaten noch einmal, und diesmal klappte es. Draussen hätten sie nur Ruinen gesehen. «Alles in Trümmern», wiederholen Tania und Ihor Trotsak im Chor, wenn sie an den Anblick zurückdenken, der sich ihnen bot, als sie den Bunker verliessen. Einige hätten das Stahlwerk verlassen, dann aber Angst bekommen und lieber zurückgewollt. 32 der Geretteten entschieden sich, im russisch besetzten Gebiet zu bleiben. «Wir haben das Stahlwerk am 1. Mai verlassen, sind aber erst am 3. Mai in Saporischschja angekommen, zwei Tage lang wurden wir immer wieder kontrolliert», erzählt Sergei Tsybultschenko. «Nach den ersten vierzig Kilometern hat man uns gestoppt, wir waren noch auf von Russland besetztem Gebiet.»

«Vor dem Krieg hatten wir ein normales Leben», sagen Ihor und Tania Trotsak, seit sieben Jahren sind sie ein Paar, seit fünf Jahren verheiratet. «Wir waren glücklich. Jetzt brauchen wir nur Ruhe und Frieden. Wir gehen in die Karpaten, dort ist die Situation ruhig und einige Freunde werden uns aufnehmen. «Wir besitzen nichts mehr; was wir am Leib tragen, bekamen wir geschenkt. Wir müssen ganz von vorn anfangen. Und das wird seine Zeit dauern. Aber wir haben Glück, dass wir leben», schliesst Tania mit feuchten Augen ihre Erzählung.

Aus dem Italienischen von Elke Mählmann.

«Der Staat schiebt alles auf lokale Behörden ab»: Gewerkschafter Aleksandr Skyba in Lwiw. Foto: Sebastian Bähr

Der ukrainische Eisenbahngewerkschafter Aleksandr Skyba über Privatisierungsbestrebungen bei der Bahn, abgezweigte Hilfslieferungen und akute Güterknappheit. 

WOZ: Herr Skyba, welche Rolle spielt die Eisenbahn im Krieg?

Aleksandr Skyba: Eine Schlüsselrolle. Wir befördern nicht nur Menschen, sondern auch alle möglichen Hilfsgüter und militärisches Material. Die Bahn ist die wichtigste Form der Mobilität im Land, ohne sie wären viele Städte isoliert – gerade jetzt, wo es Probleme mit der Benzinversorgung gibt. Wir Eisenbahner tragen eine grosse Verantwortung. Zu Beginn des Kriegs waren wir am Anschlag, Schichten von bis zu dreissig Stunden, ohne Essen oder Schlaf, an der Tagesordnung. Mit unseren Evakuierungszügen wurden Millionen Geflüchtete in den Westen des Landes gebracht, wir versorgten die Territorialverteidigung, brachten Lebensmittel und Medikamente in die umkämpften Gebiete. Wir kümmerten uns um alles, wofür der Staat nicht sorgen konnte. 

Immer wieder greifen die russischen Streitkräfte Bahnhöfe und Zugstrecken an. In welchem Zustand befindet sich die Infrastruktur?

Ja, es gab Zerstörungen, auch einige andere Unwägbarkeiten. Die Arbeiter sind aber rund um die Uhr damit beschäftigt, die Strecken wieder instandzusetzen. Es gibt zwar Verspätungen, aber die Züge fahren. Ich denke, dass alles bald wieder ganz normal funktioniert. 

Sie sind bei der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner aktiv. Welche Fragen beschäftigen Sie da gerade am meisten?

Im Moment sind zwei Themen besonders wichtig: die Ausstattung unserer Mitglieder, die in den Reihen der Armee sind, mit Helmen, schusssicheren Westen und Erste-Hilfe-Kits, und die Unterstützung jener Kolleg:innen, deren Häuser durch Bomben und Artilleriebeschuss zerstört wurden. Sie haben Schwierigkeiten, für ihre Verluste entschädigt zu werden. Der Staat schiebt alles auf lokale Behörden ab, die aber wohl kein Geld für Kompensationszahlungen haben. Die Regierung wird also sagen, sie habe alles getan, und die Gemeinden werden sagen, sie hätten kein Geld, weil sie von der Regierung keines erhalten haben. Ich will den Kampf mit den Behörden aufnehmen, damit meine Kolleg:innen Unterstützung erhalten. Ein weiteres Problem ist aus unserer Sicht, dass die humanitäre Hilfe, die massenweise ins Land kommt, mutmasslich in den Regalen der Supermärkte landet. 

Wie gelangen die Hilfslieferungen denn in die ukrainischen Supermärkte?

Die Güter werden am Zoll abgewickelt, landen dann in Lagerhäusern, wo sie lizenziert werden, und schliesslich in den Läden. Man sieht das an den Verpackungen von Konserven oder Duschgel, die auf Deutsch, Polnisch oder Finnisch angeschrieben sind. Ich habe auch schon Fotos von Armeeuniformen gesehen, die für Soldaten eigentlich gratis wären: Im Supermarkt waren sie mit einem Etikett versehen, auf dem «Nicht für den Verkauf bestimmt» stand – und trotzdem standen sie zum Verkauf. Wir konnten allerdings bisher nicht beweisen, dass das auf illegalem Wege geschieht – wir haben uns an die lokalen Behörden gewandt, aber noch keine Antwort erhalten. Würde man die humanitäre Hilfe an die kleinen Gewerkschaften schicken, bei denen eine Person ihre Kontaktdaten hinterlässt und unterschreibt, würden die Güter nicht in kriminelle Hände gelangen, sondern dort landen, wo sie gebraucht werden.

Vor dem Krieg war die Privatisierung der ukrainischen Bahn ein grosses Thema. Wie hat sich diese Debatte inzwischen verändert? Und welche Zukunft erwartet die Bahn?

Die Zukunft vorauszusagen, traue ich mich zurzeit nicht. Aber zumindest im Moment wird nicht über die Privatisierung geredet, die Oligarchen bewerten solche Investitionen offenbar als zu riskant. Vor dem Krieg lagen uns Insiderinformationen vor, dass sie den gewinnbringendsten Teil – die Lokomotiven und Waggons, alles, was den Gütertransport betrifft – kaufen wollten, während das verlustreiche Passagiergeschäft dem Staat geblieben wäre. 

Der Staat war vor dem Krieg also bereit, die profitablen Teile zu verkaufen?

Man hat die Bahn so betrieben, dass es ein verlustreiches Geschäft war. Einige gute Projekte wurden nicht realisiert, Zubehör und Kohle wurden zu überteuerten Preisen gekauft. Es gab Korruptionsfälle, die aber juristisch nicht weiterverfolgt wurden. Im Vorstand oder in den Aufsichtsbehörden sassen Leute, die sehr weit von der Eisenbahn weg waren und für ihre Entscheide nie Verantwortung übernehmen mussten. Ich kann mich zwar auch an gute Leute erinnern, aber in der Regel wurden sie unter dem Einfluss der Oligarchen von ihren Posten entfernt. Ich vermute, dass die Diskussion um die Privatisierung nach dem Krieg wieder aufkommt.

Was würde eine solche Privatisierung für die Arbeiter:innen bedeuten?

Weil die Bahn nicht mehr staatlich wäre, würden viele Gesetzesartikel nicht mehr gelten. Ich sehe keine positiven Veränderungen, zumindest langfristig nicht. Möglicherweise steigen kurzfristig die Löhne, dann aber würden sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern – und vor allem die Sicherheit. Für einen privaten Eigentümer stünde der Profit an erster Stelle, dabei muss die Bahn doch den sicheren Transport von Menschen und Waren garantieren. Ich möchte aber noch etwas anderes ansprechen.

Wisst ihr in Europa eigentlich, dass eine Hungerkrise droht? Bis zum Krieg gab es drei Möglichkeiten, an Düngemittel zu kommen: Eine Produktionsstätte war die Fabrik Stirol in Horliwka, die aber inzwischen auf besetztem Gebiet steht und nicht mehr in Betrieb ist. Hinzu kamen die Lieferungen aus Belarus sowie jene aus Russland in die Häfen von Odesa und Mikolajiw, die nun ebenfalls nicht mehr stattfinden können. Diesen Frühling kamen keine Dünger ins Land – es wird also eine gravierende Unterversorgung mit Getreide geben, und das im globalen Massstab. Aus den besetzten Gebieten wird Getreide im grossen Stil herausgeschafft, während die Ukraine weiterhin Getreide exportiert. Hinzu kommt, dass der Vormarsch der russischen Armee wohl verhindern wird, dass geerntet werden kann.

Die Ankündigung des ukrainischen Präsidenten, ganz Europa ernähren zu wollen, halte ich deshalb für völlig unrealistisch – es kann sein, dass wir in der Ukraine im Herbst nichts mehr zu essen haben. Bisher habe ich keine ernsthaften Massnahmen gegen diese drohende Krise gesehen. Zudem exportieren Russland und die Ukraine bis zu siebzig Prozent des weltweiten Pflanzenöls, unter anderem nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz. Wie wir dieses wichtige Produkt weiter liefern können und in welcher Menge, lässt sich zurzeit nicht sagen. Wir steuern auf eine Katastrophe zu. 

Werden auch andere Güter knapp?

Ein Problem wird es auch bei der Versorgung mit Eisenerz geben. Die russische Armee versucht offenbar gerade, die Eisenbahnverbindung nach Krywyj Rih zu kappen, Anfang Mai wurden die Bahnhöfe der Orte Dolynska und Tymkowe beschossen. Und aus dem Eisenerzbassin bei Krywyj Rih gingen riesige Lieferungen über Uschhorod in die Slowakei oder in die Häfen am Schwarzen Meer. Ein weiterer Gigant in Sachen Metallurgie und Verarbeitung von Koks ist Saporischschja, von wo aus zurzeit ebenfalls keine Güter geliefert werden können. Das wird die europäische Wirtschaft wohl bedeutend treffen, vor allem im Automobil- und Schiffsbau. Mir scheint, als würde im Ausland kaum jemand diese Vorgänge wahrnehmen. 

Wir sprechen hier am Rand einer Solidaritätskonferenz mit ukrainischen Linken und Gewerkschafter:innen in Lwiw. Was würden Sie den Schweizer Gewerkschaften gern als Botschaft mitgeben – was können sie tun, um die Arbeiter:innen in der Ukraine zu unterstützen?

Ich wünsche ihnen viel Erfolg in ihrem Kampf für die Rechte der Arbeiter:innen in der Schweiz! Dieser Kampf braucht in jedem Land Kraft und Geduld, wir müssen unsere Rechte überall verteidigen und dürfen uns nirgendwo zurücklehnen. Was die Hilfe angeht, brauchen wir folgende Dinge: Unterstützung für unsere Soldat:innen und Medikamente für die besetzten Gebiete.

Aleksandr Skyba ist in der südukrainischen Stadt Melitopol geboren, die zurzeit unter russischer Besetzung ist. Seit 2007 lebt er in Kyjiw und arbeitet als Lokführer. Skyba ist bei der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner (VPZU) aktiv, die rund 50 000 Mitglieder hat. Insgesamt arbeiten im ukrainischen Eisenbahnsektor rund 240 000 Personen. Einen Bericht über die Konferenz in Lwiw lesen Sie hier. 

Vor der Invasion hatte Putins Regime grossen Rückhalt in der russischsprachigen Community von Charkiw. Mittlerweile ist in der fast leer gefegten Grossstadt aber alles anders.

In Saltiwka, einem Vorort am nordöstlichen Rand von Charkiw, ist der Krieg weiterhin nah. Noch am Donnerstag, dem 5. Mai, ist hier eine Rakete in ein Wohnhaus eingeschlagen, und auch wenige Tage später sind aus dem Norden Schüsse zu hören. Nicht einmal dreissig Kilometer sind es von hier bis zur russischen Grenze. Seit Kriegsbeginn am 24. Februar war Saltiwka Ziel massiver Bombardements.

«Mein Vater ist krank, und ich konnte nicht fliehen, aber meine Tochter habe ich ins Ausland schicken können», erzählt Irina Papowa, eine Einwohnerin Saltiwkas. Sie blieb hier, obwohl alle Geschäfte schlossen und die Bomben viele Gebäude schwer beschädigten. «Wir leben weiter zu Hause und haben Angst», sagt Papowa.

Mittlerweile aber kommen positive Nachrichten von der Front: Am letzten Wochenende hat das ukrainische Militär verkündet, dass es im Zuge einer breit angelegten Gegenoffensive Dutzende Vororte in der nördlichen und östlichen Peripherie Charkiws von der russischen Besatzung befreien konnte.

Zweitausend Gebäude zerstört

Für die zweitgrösste Stadt der Ukraine bedeutet das eine grosse Erleichterung. Am 3. Mai schlugen fünf Raketen im Gorki-Park ein, der nur drei Kilometer nördlich vom Charkiwer Stadtzentrum liegt; ein Mensch wurde getötet, mehrere wurden verletzt. «Wir haben die Überreste der Raketen eingesammelt, es waren viele kleine Eisenteile darin, vermutlich wollten sie möglichst viele Menschen töten oder verletzen», sagt ein Mann, der sich als Sergei vorstellt. Er ist zur Freizeitanlage gekommen, um zu sehen, welchen Schaden die Raketen hier angerichtet haben.

Aufgrund seiner strategischen Lage als Verkehrsknotenpunkt war das mehrheitlich russischsprachige Charkiw seit Kriegsbeginn eines der Hauptangriffsziele der Invasion, wohl auch deshalb, weil man auf die Unterstützung der russischsprachigen und traditionell prorussischen Bevölkerungsteile im Osten der Ukraine hoffte.

Eine Rechnung, die so nicht aufgegangen ist. Als am 1. März unzählige Bomben auf Charkiw niedergingen und sogar das Rathaus der Stadt und der zentrale «Platz der Freiheit» zerstört wurden, schlossen sich Hunderte Bewohner:innen als Freiwillige der militärischen Verteidigung des Landes an. Charkiw, das vor dem Krieg über 1,4 Millionen Einwohner:innen zählte, ist heute halb leer gefegt, zirka 2000 Gebäude wurden zerstört, die Zahl der zivilen Opfer der Bombardements liegt bei etwa 500. Die Menschen harrten zum Teil in U-Bahn-Stationen aus, andere forderten das Schicksal heraus und blieben zu Hause.

Die in Charkiw Verbliebenen sind auf die Stadtverwaltung und ehrenamtliche Helfer:innen angewiesen, die Lebensmittel und Medikamente verteilen. «So lange unter den Bombenangriffen aushalten zu müssen, war wirklich schrecklich, aber jetzt ist die Lage besser», sagt Mahmed Sakim. Er kommt ursprünglich aus Russland, aus der Republik Dagestan, aber seit 42 Jahren lebt er in Charkiw.

«Ich habe im Fernsehen gehört, dass die ukrainische Armee einige Orte befreit hat, aber meine Nachbarn können immer noch nicht nach Hause zurück», sagt Sakim. Er berichtet von den schlimmsten Tagen der Besatzung, während er in einer Schlange steht, um von freiwilligen Helfer:innen eine Lebensmittelration zu beziehen.

Vor dem Krieg hat die grosse russischsprachige Community in der Stadt das Regime in Moskau unterstützt, aber seit der Invasion ist alles anders. «Ich bin Ausländer, aber ich fühle mich als Ukrainer, ich bin für die ukrainische Armee», stellt Sakim klar. «Was das angeht, kenne ich kein Pardon.» Zu Sowjetzeiten war Charkiw zeitweise sogar Hauptstadt der Sowjetrepublik Ukraine, von 1920 bis 1934. Die Beziehungen zu Russland waren stets gut – aufgrund der räumlichen Nähe, aber nicht nur. Viele Lokalpolitiker:innen waren Russland zugeneigt.

Bezeichnenderweise floh Wiktor Janukowitsch, der damalige prorussische Präsident der Ukraine, während des Maidan-Aufstands im Februar 2014 von Kyjiv zunächst nach Charkiw, bevor er nach Russland ging, um von dort aus Proteste gegen die neue ukrainische Regierung zu organisieren.

Später im selben Jahr übernahmen dann von Russland unterstützte Separatist:innen die Kontrolle über die östlich und südlich von Charkiw gelegenen Oblaste Luhansk und Donezk. Eine bewaffnete Gruppe besetzte auch das Rathaus von Charkiw und rief die «Volksrepublik Charkiw» aus, die dann aber nicht von Dauer war.

Der Krieg hat die Dinge nun vollends verändert: Am 17. April wurde in Charkiw die Statue von Georgi Schukow abgerissen, des berühmten sowjetischen Marschalls im Zweiten Weltkrieg. Schon lange war die Büste ein umkämpftes Symbol, und jahrelang hat die Stadtverwaltung den Antrag von ukrainischen Nationalist:innen und Rechtsextremen, das Denkmal zu beseitigen und russische Strassennamen aus dem Stadtbild zu entfernen, abgelehnt.

Das Schlimmste könnte vorbei sein

Walentina Basuzenko steht in der Schlange vor einem Laden, in dem es Brot zu kaufen gibt. Sie ist Russin und spricht Russisch, entschuldigt sich aber dafür, dass sie nicht gut Ukrainisch spricht: «Ich bin Russin, aber ich fühle mich ukrainisch», sagt Basuzenko, «mein Sohn ist in Dnipro zur Welt gekommen und spricht sowohl Ukrainisch als auch Russisch.» Zwei Monate nach Kriegsbeginn sei sie noch immer geschockt: «Ich verstehe einfach nicht, wie es möglich ist, dass Russland die Ukraine und meine Stadt angegriffen hat.»

Zuerst habe sie gedacht, es stimme nicht, erinnert sie sich. «Ich habe sogar auf Social Media gepostet, dass ich es nicht glaube.» Basuzenko hat Verwandte auf der anderen Seite der Grenze, in Russland, aber seit Beginn des Krieges habe sie sich nicht mehr getraut, mit ihnen zu sprechen.

Charkiw sei die schönste Stadt der Ukraine, findet Walentina Basuzenko. Sie ging seit Kriegsbeginn nie weg. Und sie ist überzeugt, dass das Schlimmste nun vorbei sei und ihre Stadt bald schon wieder frei.

Aus dem Italienischen von Elke Mählmann.

Nicht bloss den Imperialismus der USA, sondern auch den von Russland in den Blick nehmen: Nationalrätin Stéfanie Prezioso im Bundeshaus. Foto: Thomas Kern

Die Genfer Nationalrätin Stéfanie Prezioso hat letzte Woche Lwiw besucht. Sie findet, die Linke müsse ihren Internationalismus überdenken.

WOZ: Frau Prezioso, Sie haben die Reise einer internationalen linken Delegation in die Ukraine mitorganisiert. Was hat Sie dazu motiviert?

Stéfanie Prezioso: Ich bin Teil einer europäischen Plattform für die Solidarität mit der Ukraine. Irgendwann wollten wir nicht mehr bloss über den Krieg debattieren und uns gegenseitig Artikel zum Thema zuschicken, sondern auch konkret helfen. Da bot sich die Möglichkeit, mit Vertreter:innen von Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenzukommen, um unsere Solidarität auszudrücken. Auch den Linken in der Ukraine bedeutet diese direkte Form der Solidarität viel. Wichtig ist die Reise für uns auch, um ukrainische Stimmen hörbarer zu machen.

Was war Ihre Erwartung an die Konferenz – und welche Lehren ziehen Sie daraus?

Für Teile der westlichen Linken scheint Osteuropa gar nicht zu existieren, was für Internationalistinnen wie mich sehr seltsam wirkt. Ich denke, diese Leute sollten ihre Art des Internationalismus überdenken. Schon allein, dass wir unsere Verbindungen festigen konnten, ist ein Erfolg. Aber wir haben auch über konkrete Dinge gesprochen: wie man den Gewerkschaften helfen kann etwa. Natürlich ist es wichtig, jetzt mit der ukrainischen Linken, aber auch mit linken osteuropäischen Parteien wie Razem aus Polen ins Gespräch zu kommen, aber wir müssen auch daran denken, was nach dem Krieg kommt. Auf den Verbindungen, die wir jetzt etablieren, können wir nachher aufbauen. Ich glaube, dass der Krieg gegen die Ukraine ein Wendepunkt für die Welt ist, aber besonders auch für die Linke. 

Der Krieg revidiert einige Analysen von Teilen der westeuropäischen Linken. Wichtig zu verstehen ist, dass es nicht bloss den US-Imperialismus gibt, dass man auch den russischen in den Blick nehmen muss. Wir sollten aber auch die Analyse vieler Ukrainer:innen diskutieren, die sagen, es ginge ihnen um nationale Emanzipation. In der Schweiz stellen sich viele Linke als Universalist:innen dar, die Nationen im Allgemeinen und deshalb auch die Präsenz der ukrainischen Flagge ablehnen. Ich denke aber, die russische Aggression macht die nationale Frage zu einer emanzipatorischen. Bei den Kurd:innen haben wir das Thema unter den Teppich gekehrt. Aber wir sollten das global ansehen: Unterstützen wir die Ukrainer:innen in ihrem Kampf, helfen wir damit vielleicht auch dem Widerstand der Kurdinnen und Palästinenser.

Gibt es auch Themen, bei denen Sie sich in der Analyse bestärkt fühlen?

Ein Wendepunkt ist der Krieg sicher auch in der Klimapolitik. Die Abhängigkeit von Russland beim Öl und beim Gas macht deutlich, dass wir nicht nur aus den fossilen Energien aussteigen sollten – sondern auch, dass wir das dringend müssen. Machen wir uns nicht die Mühe, die Ereignisse genau zu verstehen, können wir auch andere Kämpfe wie jenen gegen die Klimakrise nicht effizient führen.

Was haben Sie zur spezifischen Situation der Frauen im Krieg erfahren?

Frauen stehen im Krieg vor besonderen Problemen, sind nicht nur als Geflüchtete oder Binnenvertriebene Gewalt ausgesetzt. Aus den besetzten Gebieten gibt es beispielsweise immer wieder Berichte über Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Aber Gewalt erfahren die Frauen auch am Arbeitsplatz. Manche werden einfach entlassen, erhalten keinen Lohn – und weil ihre Partner an der Front sind, können sie nicht mehr für sich und ihre Kinder sorgen. Ihre Perspektiven und jene der LGBTIQ*-Community müssen wir in den Blick nehmen. So traurig es ist, das zu sagen: Die Ukraine bietet die Möglichkeit dazu. Die feministische Bewegung in der Schweiz sollte den feministischen Kampf in der Ukraine unterstützen, ob ihn die Frauen bewaffnet oder friedlich führen.

Welche Rolle kommt in dieser Gemengelage der Schweiz zu?

Was die Sanktionen angeht, spielt die Schweiz eine wichtige Rolle. Es ist eine Schande, dass die Behörden ihre Arbeit nicht machen. Das Gleiche gilt für die Rohstofffrage: Wir stehen einfach abseits, und das kann nicht sein. Die andere Diskussion ist jene um die Neutralität. Wie mein alter Professor Hansueli Jost in einem Interview so schön sagte, ist sie dehnbar wie Kaugummi. Ich finde es heuchlerisch, auf der Neutralität zu beharren – denn schliesslich nehmen wir es auch nicht so genau, wenn es um wirtschaftliche Vorteile geht, das haben wir in der Geschichte immer wieder gesehen. 

Was wäre aus Ihrer Sicht das Wichtigste, was der Bundesrat nun tun könnte?

Ich sehe vor allem zwei Dinge: Die Schweiz sollte mit dem Schutz russischer Oligarchen aufhören und endlich richtig nach deren Geldern und Immobilien suchen. Macht sie das nicht, werden die anderen Länder Mühe haben, ihre Sanktionen voll umzusetzen. Und sie sollte sich unverzüglich aus der Abhängigkeit von Russland lösen, aber auch allgemein aus der Abhängigkeit von fossilen Energien. Und auch wenn das nicht Ihre Frage war: Ein weiteres wichtiges Kampffeld ist die Asylpolitik. Man darf Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, nicht je nach Herkunft unterschiedlich behandeln. 

Stéfanie Prezioso (53) von der linksradikalen Koalition Ensemble à Gauche sitzt seit 2019 als Teil der grünen Fraktion im Nationalrat. An der Universität Lausanne unterrichtet die Historikerin und Tochter italienischer Immigrant:innen internationale Zeitgeschichte. Einen Bericht über die Konferenz in Lwiw lesen Sie hier. 

Von Katja Woronina, St. Petersburg

Die Repressionswelle gegen Kriegsgegner:innen in Russland rollt weiter. Das zeigt das Beispiel von Palladija Baschurowa.

«Tag des Unheils»: Unter diesem Motto führte die feministische Bewegung Widerstand gegen den Krieg (FAS) zum «Tag des Sieges» letzten Montag kreative symbolische Antikriegsaktionen durch. Am 9. Mai feiert Russland alljährlich den Sieg über den Faschismus, auch in diesem Jahr, während russische Truppen Krieg gegen die Ukraine führen. Auch die demokratische Jugendorganisation Vesna («Frühling») kündigte zu diesem Anlass landesweite Aktionen an und wählte dafür den Slogan «Nicht dafür haben sie gekämpft».

Bereits am Vorabend des «Tags des Sieges» gingen Sicherheitskräfte gegen beide Gruppierungen vor. Palladija Baschurowa, eine der Koordinatorinnen der FAS in St. Petersburg (siehe WOZ Nr. 17/22), wurde direkt aus einer Bar abgeführt und in Polizeigewahrsam genommen. Bereits seit zwei Monaten läuft gegen sie ein Strafverfahren wegen «Telefonterrorismus», nun gilt sie als Verdächtige in einem zweiten Ermittlungsverfahren.

Eine unbekannte Person, die in Verbindung zu den ukrainischen Streitkräften stehe, habe im April damit gedroht, eine Bombe in einer Hochschule zu zünden, sollte ihrer Forderung nach der Zahlung einer hohen Geldsumme nicht entsprochen werden. So steht es in den Akten. Gegen einige weitere Feministinnen und eine Vesna-Aktivistin wird in diesem Zusammenhang ebenfalls ermittelt.

Drei Vesna-Mitglieder wurden öffentlichkeitswirksam aus St. Petersburg und Nowgorod zum Verhör nach Moskau überstellt und dort dem Haftrichter vorgeführt. Gegen sie und weitere Moskauer Aktivist:innen läuft ein Strafverfahren wegen Beteiligung in einer NGO, die auf einen «Eingriff in Bürgerrechte» abziele. Darauf stehen zwei Jahre Haft. Der entsprechende Paragraf fand im letzten Jahr erstmals Anwendung, und zwar gegen den prominenten Oppositionellen Alexei Nawalny.

Nach den Feierlichkeiten vom Montag wurden alle Betroffenen wieder aus dem Gewahrsam entlassen – die Vesna-Aktivist:innen jedoch nur unter gerichtlich verfügten Auflagen. Palladija Baschurowa vermutet, die Polizei habe beabsichtigt, «gefährliche» Elemente vor dem grossen Feiertag aus dem Verkehr zu ziehen und gleichzeitig potenzielle Nachahmer:innen einzuschüchtern.

Von rechts: Anna Jikhareva, Michail Schischkin, Kaspar Surber und Marta Havryshko (daneben Übersetzerin Franziska Meister). Foto: Tatjana Rüegsegger

Ein Podium am WOZ-Fest eröffnete drei Perspektiven auf den Krieg: von der geflüchteten Geschlechterforscherin, vom Schriftsteller im Exil, von der Reporterin.

Wer bezahlt diesen Krieg? Diese weitreichende Frage brachte die WOZ-Reporterin Anna Jikhareva direkt aus der westukrainischen Stadt Lwiw mit in die Rote Fabrik nach Zürich. Zum nachdenklichen Auftakt des Fests zum 41. Geburtstag der WOZ wurde letzten Samstag über den Ukrainekrieg diskutiert.

Auf dem Podium sassen die ukrainische Holocaust- und Geschlechterforscherin Marta Havryshko, die in Moskau geborene WOZ-Reporterin Anna Jikhareva und der russische Schriftsteller Michail Schischkin, der seit vielen Jahren in der Schweiz lebt. WOZ-Koredaktionsleiter Kaspar Surber führte durch das Gespräch.

Wer bezahlt diesen Krieg? Vorläufig scheint die Antwort klar: Die Ukrainerinnen und die Ukrainer – mit ihrem Leben, mit der Zerstörung ihrer Städte, mit dem Verlust ihrer Vorkriegsexistenz. Marta Havryshko betonte auch, dass einmal mehr die Frauen zusätzlich einen hohen Preis zahlten; weil der Krieg alte Geschlechterstereotype neu verschärfe, vor allem aber, weil sexuelle Gewalt auch in diesem Krieg gezielt als Waffe eingesetzt werde.

Aus einer linken Perspektive muss die Beantwortung der Frage zwingend mit politischen Forderungen verknüpft werden: Nicht die Arbeiter:innen sollten diesen Krieg am Ende bezahlen müssen, sondern die Oligarchen, zusammen mit anderen Mächtigen und Superreichen.

Eine weiteres Anliegen, das Anna Jikhareva vom Kongress in Lwiw mitbrachte, wo ukrainische Gewerkschafter:innen, Aktivistinnen und Anarchisten mit Delegationen aus anderen Ländern zusammengekommen waren: Der Westen sollte der Ukraine die Staatsschulden erlassen, humanitäre Hilfe leisten – aber auch schwere Waffen liefern.

Unter den in Lwiw versammelten Linken habe es in dieser Frage keine Zweifel gegeben: Der Krieg gegen Putin müsse unbedingt gewonnen werden. Dabei stehe nichts weniger auf dem Spiel als die Verteidigung der Freiheit und der Zukunft von uns allen. Das war auch Marta Havryshkos klare Botschaft.

Der international bekannte Autor Michail Schischkin vertrat ebenso deutliche Positionen: «Das Russland Putins muss aufhören zu existieren.» Bedingung für einen Neuanfang in Russland sei eine «Stunde null», zu der eine kollektive Schuldanerkennung gehöre. Putin erteile zwar die Befehle, an ihrer Ausführung seien jedoch sehr viele Russ:innen beteiligt: die Generäle und die Soldat:innen im Krieg natürlich, aber auch zahlreiche Bürger:innen im Land selber, weil sie die Kremlpropaganda unhinterfragt glaubten und weiterverbreiteten.

Bezüglich der Erfüllung seiner Forderungen blieb Schischkin pessimistisch – wofür er sich entschuldigte. Russland werde den Krieg am Ende verlieren, so viel sei für ihn klar. Eine erfolgreiche «Entputinisierung» Russlands sei trotzdem nicht zu erwarten. Es gebe schlicht nicht genug progressive politische Kräfte im Land, um Kriegsverbrecher konsequent zu verfolgen und ein neues Russland aufzubauen.

Was Schischkin ebenfalls beschäftigt: dass der 9. Mai als wichtiger historischer Symboltag für den Sieg über Nazideutschland nun mit dem verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine überblendet werde.

«Lasst uns in Frieden»

Was tun? Der kommende Wiederaufbau sollte nach neuen Regeln vonstatten gehen: Der erdölgetriebene Kapitalismus sei in keinerlei Hinsicht ein Zukunftsmodell, sondern vielmehr ein Garant für weitere Kriege. Dies eine weitere Erkenntnis aus Lwiw.

Und was ist eigentlich mit der eidgenössischen Taskforce, die Oligarchengelder aufspüren sollte? Marta Havryshkos emotionaler Appell: Schweigen sei eine Form von Komplizenschaft. Und an die Adresse der russischen Armee: «Ihr müsst uns nicht befreien, lasst uns in Frieden. Unternehmt besser etwas gegen euren Diktator.»

Michail Schischkin wiederum betonte die kleinen Gesten: Jeder und jede müsse das tun, was er oder sie halt könne. So würden im Alltag viele kleine und doch entscheidende Siege gegen Putin errungen. Etwas Hoffnung lag damit am Schluss doch noch in der Luft.

Die Reportage von Anna Jikhareva aus Lwiw findet sich hier.

Was es braucht, damit humanitäre Korridore für Zivilpersonen funktionieren. Und warum sie kein Allheilmittel sind.

Seit Wochen harren Menschen im Azovstal-Werk in Mariupol unter Dauerbeschuss in Bunkern, Tunnels und Kellern aus. Sie haben Hunger und Durst, ihnen fehlen Medikamente, es gibt keine Toiletten, sie frieren. In der ersten Maiwoche konnten erstmals über 550 Personen aus dem belagerten Stahlwerk sowie aus der zerstörten Stadt Mariupol mit Hilfe der Uno, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und in Absprache mit den Kriegsparteien evakuiert werden. Die Evakuierung der Zivilist:innen gelang nach wochenlangen Verhandlungen und stellt einen seltenen Erfolg im seit bald drei Monaten anhaltenden Krieg dar.

Humanitäre Korridore sind organisierte, sichere Fluchtwege für Zivilist:innen aus den gefährlichsten Kriegsgebieten. Damit sie funktionieren, brauche es ganz spezifische logistische Vereinbarungen zur Route, dem genauen Zeitrahmen des für eine sichere Evakuierung nötigen Waffenstillstandes sowie zum Start- und Endpunkt des Korridors, sagt Crystal Wells, Sprecherin des IKRK in Genf. «Es ist absolut zentral, dass die getroffenen Vereinbarungen nach oben und unten in der militärischen Befehlskette weitergegeben werden. Es sind schlussendlich die Streitkräfte vor Ort, die dafür verantwortlich sind, dass der Waffenstillstand hält.»

Gemäss internationalem Völkerrecht sind Zivilist:innen in Konfliktgebieten immer vor Angriffen geschützt – ob sie zu Hause sind, in der Schule, im Bus oder eben in einem humanitären Korridor. Doch humanitäre Korridore seien kein Allheilmittel, führt Wells aus. «Solche Korridore sind eine verzweifelte Massnahme in wirklich verzweifelten Zeiten.»

Auch Maelle L’Homme von der Forschungsstelle für humanitäre Angelegenheiten der Organisation Médecins Sans Frontières in Genf warnt vor falschen Illusionen: Humanitäre Korridore seien nicht die ideale Lösung für Menschen, die in den von russischen Streitkräften umzingelten Städte gefangen sind.

«Sie sind ein notwendiger Kompromiss, besser als nichts. Aber es ist heikel, zu viel Hoffnung in ein zeitlich begrenztes und eingeschränktes Durchgangsrecht zu setzen, dessen Einhaltung vom fragilen guten Willen der Konfliktparteien abhängt. Der Schutz ist nie zu hundert Prozent garantiert.» Das habe man in der Ukraine und in anderen Kriegen oft gesehen. «Menschen dachten, ein Fluchtweg sei vereinbart worden. Dann ging etwas schief und sie starben oder wurden verletzt, weil sie ihr Haus oder ihren Keller verlassen hatten.»

Konfliktparteien würden zudem humanitäre Korridore oftmals für politische oder militärische Zwecke missbrauchen. «Man muss immer auch bedenken, was der Zusatznutzen für die Konfliktparteien ist», sagt L’Homme. Armeen könnten Feuerpausen zum Beispiel dazu nutzen, um Streitkräfte zu verlegen. Oder die politische Führung instrumentalisiere die Korridore, um ihr Image aufzupolieren.

Oft gehe dabei vergessen, warum Menschen sich überhaupt in einer auswegslosen Situation befinden: weil dieselben Konfliktparteien Zivilist:innen und Spitäler angreifen und ganze Städte von Strom, Wasser, Lebensmitteln und dem Zugang zu humanitärer Hilfe abschneiden würden.

Humanitäre Korridore dürfen also nicht als Schutzmassnahme, losgelöst von der eigentlichen Bedrohung – dem Krieg – betrachtet werden. Vorrangig muss es immer darum gehen, wahllose Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu verhindern.

Innenpolitische Beschwichtigung statt aussenpolitische Provokation: Wladimir Putin gibt sich bei der Militärparade zum 9.  Mai zurückhaltender als erwartet.

Während zehn Minuten hatte Wladimir Putin die gebannte Aufmerksamkeit der gesamten Welt. Und dieser erklärte er dann auf dem Roten Platz in Moskau, dass sich Russland heute in einer vergleichbaren Situation befinde wie damals vor 77 Jahren, am Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. «Die Verteidigung des Vaterlands zu einem Zeitpunkt, an dem dessen Schicksal in der Schwebe hängt, ist immer heilig», sagte er.

Den Angriffskrieg gegen die Ukraine schilderte er als präventiven Erstschlag, als Verteidigungsmassnahme gegen eine bevorstehende US-Aggression. «Die Gefahr stieg von Tag zu Tag», sagte Putin, und der Kampf gegen «die Neonazis» in Kyjiw sei folglich unausweichlich gewesen.

«Notwendig, rechtzeitig und die einzig richtige Lösung» sei deshalb die Offensive am 24. Februar gewesen. Im Vergleich mit den vielen Szenarien für den 9. Mai, über die in den letzten Tagen und Wochen spekuliert worden war, wirken diese Worte defensiv, fast schon rechtfertigend. Schon früh war dieser «Tag des Sieges» über Nazi-Deutschland als eine Art Stichdatum gehandelt worden. Putin müsse bis dahin einen Sieg vorzuweisen haben, um diesen mit militärischem Pomp zelebrieren zu können. Als der Tag schliesslich da war, der militärische Erfolg hingegen nicht, wurde umso intensiver debattiert: Was wird Putin jetzt tun?

Er werde die Gebietsgewinne im Osten und Süden des Landes als erreichtes militärisches Hauptziel verkaufen, lautete eine der Mutmassungen. Er werde in den besetzten Regionen eine neue «Volksrepublik» nach Vorbild von Luhansk und Donetsk ausrufen, lautete eine andere. Er werde eine neue Kriegsphase einläuten, hiess es auch, wobei er sich direkt an die Nato richten und ihr mit Atomangriffen drohen könnte. Putin werde eine offizielle Kriegserklärung aussprechen, so eine weitere Befürchtung: gegen die Ukraine, oder auch gegen bestimmte Nato-Mitgliedsstaaten. Ein solcher Schritt, weg von der «militärischen Spezialoperation» hin zum erklärten Kriegszustand, würde eine Generalmobilmachung und die Einziehung Hunderttausender Reservist:innen ermöglichen.

Nun scheinen jene richtig gelegen zu haben, die zu einer anderen Einschätzung gekommen waren: Der Druck, heute Siegesreden halten und Ankündigungen machen zu müssen, sei für Wladimir Putin gar nicht gross gewesen. Weil er mit seiner Propagandamaschinerie ohnehin über das Wahrheitsmonopol in Russland verfüge, sei die Haltung der Bevölkerung formbar, auch entgegen einer enorm verlustreichen Realität.

Tatsächlich klang Putins Rede auf dem Roten Platz eher nach innenpolitischer Beschwichtigung denn nach aussenpolitischer Provokation. Die Form, in der die Feierlichkeiten zum 9. Mai in Russland heute begangen werden, hat er massgeblich selbst geprägt: Er war es, der den «Tag des Sieges» verstärkt politisierte, der ihn zum Tag militärischer Machtdemonstration modellierte, und der ihn letztlich als Projektionsfläche für erinnerungspolitische Verdrehungen und Verkehrungen nutzt.

Dem Selbstverständnis nach befindet sich Putin auf einer historischen Mission, er will eine nationale Kränkung heilen, Russland den einstigen Platz in der Ordnung der Weltmächte wieder verschaffen. In diesen weltgeschichtlichen Dimensionen ist die Bezugnahme auf den 9. Mai von zentraler Bedeutung: Das Ende des «Grossen Vaterländischen Kriegs» im Jahr 1945 dient als überaus grobe Schablone, um alles seither Geschehene einzuordnen – wodurch sich alle als «Nazis» zeichnen lassen, die in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs und darüber hinaus als «Feinde Russlands» in Erscheinung traten.

Das spiegelt sich in der imperialen Machtprojektion wider, die im Überfall auf die Ukraine am 24. Februar mündete. Die abtrünnige einstige Sowjetrepublik solle «entnazifiziert» werden, so die innenpolitische Legitimationsgrundlage: Putin als Vollbringer einer unvollendeten historischen Mission. Gerade die Verunglimpfung der Ukraine als Nazi-Hort ist besonders bizarr; die damalige Sowjetrepublik war einer der schlimmsten Schauplätze des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, in dem auch mehrere Vorfahren des heutigen Präsidenten Wolodymyr Selenski ermordet wurden.

Nun waren es russische Einheiten, die in den ersten Kriegstagen die Holocaustgedenkstätte Babyn Jar in Kyjiw beschossen. Und es war der russische Aussenminister Sergei Lawrow, der sich letzte Woche antisemitisch äusserte. In seiner Rede zum 9. Mai sagte Putin nun, man ehre in Russland «alle, die den Nazismus und den Militarismus bekämpft haben», um sich dann an die russischen Truppen in der Ukraine zu wenden, die für die Zukunft Russlands kämpften, und folglich «dafür, dass es keinen Platz gibt für Nazisten und Verräter auf der Welt».

Die erwarteten Siegeserklärungen und Ankündigungen blieben hingegen aus. Angesichts der vielen Eskalationsszenarien ist das fürs Erste eine Erleichterung – insbesondere für die kriegsbetroffenen Menschen in der Ukraine. Gleichzeitig haben die letzten Wochen aber auch gezeigt: Genauso wie das Spiel mit Erinnerungen und Symbolik beherrscht Wladimir Putin auch das Spiel mit Aufmerksamkeit und Erwartungen. Dieses wird er weitertreiben, genau wie auch den Krieg gegen die Ukraine.

Der Bundesrat empört sich über Kritik aus den USA wegen der Schweizer Geschäfte mit Wladimir Putin. Die Vergangenheit zeigt: Schneller handeln wäre besser.

Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu. Zuerst verteidigt die Schweiz die schmutzigen Geschäfte ihres Finanzplatzes; und wenn die USA dann den Zweihänder auspackt, reagiert man mit moralischer Empörung – die man sonst gerne denjenigen vorwirft, die diese Geschäfte seit Jahren anklagen.

Das war bei den jüdischen Vermögen in den neunziger Jahren so, beim Bankgeheimnis in der Finanzkrise nach 2008 und nun wieder beim Geschäft mit Putin: Erst vor einem Jahr hatte sich die bürgerliche Parlamentsmehrheit geweigert, die globalen Geldwäschereistandards zu übernehmen; seit Wochen sträubt sich der Bundesrat dagegen, eine Taskforce einzusetzen, um die sanktionierten Oligarchengelder aktiv aufzuspüren.

Und nun, da gestern eine Kommission in Washington die Schweiz in die Zange nahm, teilt Aussenminister Ignazio Cassis seinem Amtskollegen Antony Blinken das «Erstaunen» und die «Unzufriedenheit» der Schweiz mit.

Bald auf der schwarzen Liste?

Die Helsinki-Kommission setzt sich nebst Kongressmitgliedern aus Mitgliedern der US-Regierung zusammen, ist jedoch von dieser unabhängig; entsprechend undiplomatisch sind ihre Worte: Die Schweiz sei «ein führender Wegbereiter des russisschen Diktators Wladimir Putin und von dessen Kumpanen», heisst es in der Einaldung zu einem Webinar, dass am Donnerstag stattfand.

Der Schweizer Korruptionsexperte Mark Pieth legte an diesem nochmals dar, wie dank der Hilfe des Parlaments Anwält:innen ohne jegliche Geldwäschereiregeln für Oligarchen Firmenstrukturen errichten könnten, um deren Geld dahinter zu versteken.

Der US-Unternehmer Bill Browder wiederholte im Webinar seine bekannten Vorwürfe, wonach der ehemalige Bundesanwalt Michael Lauber im Fall des Kremlkritikers Sergeij Magnitski eigene Untersuchungen hintertrieben haben soll. Wie Pieth kritisierte Browder zudem, dass die Schweiz zu wenig tue, um die sanktionierten Oligarchengelder aufzuspüren. Die gefundenen sieben Milliarden US-Dollar, so Browder, seien geradezu «beleidigend».

Brisant sind vor allem die am Webinar geäusserten Vorschläge, wie die USA Druck auf die Schweiz ausüben könnten: Browder sprach von einer «schwarzen Liste», auf der das Land landen könnte. Pieth schlug zudem vor, auch Anwält:innen, die mit Oligarchen zusammenarbeiteten, auf die Sanktionslisten zu setzen.

Zudem unterstützte Pieth Browders Vorschlag, dass die USA ihre Kooperation in Sachen Strafverfolgung mit den Schweizer Behörden überdenken sollen. Insbesondere, so Pieth, wenn der neue Bundesanwalt Stefan Blättler «die Botschaft aus dem Fall Magnitski nicht verstehen sollte».

Ob der US-Kongress und Joe Bidens Regierung die Kritik der Helsinki-Kommission aufgreift, wird sich erst zeigen. Der republikanische Senator Roger Wicker fragte zum Schluss des Webinars allerdings bereits interessiert nach, wie die Kooperation mit der Bundesanwaltschaft überarbeitet werden könnte – und versprach, die Sache bei seinem Besuch am Weltwirtschaftsforum (Wef) in Davos in zwei Wochen zu verfolgen.

Sicher, die Kritik war scharf: Doch Cassis Empörung ändert wenig daran, dass die Schweiz erneut in einen Sturm zu geraten droht, wenn sie nicht bald handelt. Zu erwarten wäre von der offiziellen Schweiz etwas mehr Realpolitik statt Moralin.

«Bei den Fensterproduzenten in der Ukraine läuft nichts mehr»: Barbara Buser begutachtet Bauteile auf ihre Wiederverwendbarkeit hin.

Mit dem Krieg in der Ukraine geht eine immense Zerstörung der Infrastruktur einher. Die Architektin Barbara Buser will beim Wiederaufbau mit Bauteilen aus der Schweiz helfen.

WOZ: Frau Buser, warum braucht die Ukraine alte Fenster aus der Schweiz?

Barbara Buser: Der Wiederaufbau in der Ukraine hat bereits begonnen. Nur fehlt es beim Baumaterial an vielem. Durch den Krieg sind zahlreiche Fabriken beschädigt worden und mussten ihren Betrieb einstellen. So läuft etwa bei den Fensterproduzenten im Land nichts mehr. Gleichzeitig werden hierzulande bei Abrissen täglich Tausende qualitativ hochwertige Fenster achtlos verschrottet. Diese wollen wir stattdessen in die Ukraine schicken.

Wie soll Ihr Projekt «Rebuild Ukraine» funktionieren?

Wir sammeln hierzulande das Baumaterial zur Wiederverwendung. In der Ukraine arbeiten wir mit einer NGO, Architekt:innen und Bauspezialist:innen zusammen, die Listen mit den Bauteilen erstellen, die sie benötigen. Ich konnte soeben auch eine Forscherin für das Projekt gewinnen, die sich mit der Wiederverwendung von Bauteilen beschäftigt und aus der Ukraine kommt – eine perfekte Kontaktperson also. Zudem helfen Leute aus der hiesigen Baubranche wie auch geflüchtete Personen aus der Ukraine mit. Wir sind zwar noch in der Aufbauphase, aber es ist toll zu sehen, wie jeden Tag mehr Leute am Projekt mitarbeiten!

Werden die gesammelten Fenster überhaupt in die noch bestehenden Gebäudewände passen?

Damit das funktioniert, müssen wir hier in der Schweiz ein gutes Inventar der gesammelten Bauteile erstellen und diese katalogisieren. Wir suchen Räumlichkeiten, wo wir die Fenster dafür temporär lagern und dann für den Transport vorbereiten können. Im Notfall können die Fenster aber in der Ukraine auch eingepasst werden, das haben wir abgeklärt. Es geht übrigens nicht nur um Fenster, sondern auch um Bauteile wie Waschbecken, Wasserhähne oder Duschen, die wir in die Ukraine schicken wollen.

Macht es energetisch Sinn, diese Bauteile so weit zu transportieren?

Speziell die genannten Bauteile brauchen in der Herstellung sehr viel Energie, sodass es sich lohnt, diese für eine Wiederverwendung auch weit zu transportieren – vor allem bei grossen Mengen gleichzeitig. Wir versuchen, so viel wie möglich mit dem Zug zu transportieren, werden aber wohl teilweise auch Lastwagen benötigen.

Ist das Ihre erste Hilfsaktion?

Ein ähnliches Projekt für den Wiederaufbau hatten wir vor 25 Jahren in Sarajevo. Die Fenster kamen damals vom Nestlé-Hauptsitz in Vevey. Tolle Aluminiumfenster mit Dreifachverglasung waren das. Eigentlich hatte damals die Denkmalpflege eine Renovation gefordert, aber das Unternehmen wollte neue Fenster. Immerhin konnten wir die Firma dann überzeugen, die Demontage und den Transport der Fenster nach Bosnien zu bezahlen.

Worauf sind Sie für das Gelingen der Hilfsaktion noch angewiesen?

Wir suchen vor allem Lager, wo die Bauteile für den Transport vorbereitet werden können. Zusätzlich suchen wir Bauträgerschaften und Unternehmer:innen, die für das Abmontieren und den Transport der Bauteile in ein schweizerisches Zwischenlager aufkommen. Eine sorgfältige Demontage von Fenstern zur Wiederverwendung kostet zwei- bis dreimal mehr als die Recyclinggebühren, die sowieso bezahlt werden müssten, wenn Fenster entsorgt werden.

Barbara Buser hat das Projekt «Rebuild Ukraine» mit ihrer Tochter Anna Buser, dem schweizerischen Dachverband der Bauteilbörsen und vielen Helfer:innen lanciert. Die Homepage wwww.rebuild-ukraine.ch befindet sich noch im Aufbau. Wer einen Lagerraum von mindestens 200 Quadratmetern um Zürich, Bern, Basel oder Luzern gratis zur Verfügung stellen kann oder Fenster spenden will, kann sich bereits unter info@rebuild-ukraine.ch melden.

Ein Gastbeitrag von Joey Ayoub*

Das Beispiel von Syrien hat gezeigt, dass die Sympathien der internationalen Gemeinschaft vorübergehend sind. Das darf sich in der Ukraine nicht wiederholen.

«In der Ukraine vernichtet Russland die Demokratie, in Syrien verhindert es sie»: So beschrieb der syrische Schriftsteller und Dissident Jassin al-Hadsch Saleh die Verbindung zwischen den beiden Ländern in einem Onlinegespräch syrischer und ukrainischer Aktivist:innen, an dem ich kürzlich teilnahm. Die Verbindung, so drückte sich wiederum der ukrainische Historiker Taras Bilous an dem Panel aus, bedeute eine Warnung.

Mit Wiktor Janukowitsch, der glücklicherweise durch die Maidan-Revolution im Jahr 2014 gestürzt wurde, erlebten die Ukrainer:innen einen potenziellen Baschar al-Assad. Die Syrer:innen müssen seit fünf Jahrzehnten die Assad-Dynastie ertragen, die ihre Herrschaft mit eiserner Faust durchsetzt. Wäre der Maidan gescheitert, wissen wir nicht, ob Wladimir Putin – der kurz darauf die Krim annektierte und in Syrien intervenierte, um Assad zu retten – seinen umfassenden Krieg nicht schon viel früher begonnen hätte.

Für wen gilt «Nie wieder»?

Selbstverständlich sind solche Vergleiche nur bedingt aussagekräftig. Obwohl die Massaker und Zerstörungen in Butscha, Charkiw und Mariupol Erinnerungen an Ghuta, Homs und Aleppo hervorrufen, sind sie nur insofern aufschlussreich, als sie die Heuchelei einer Welt entlarven, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihr «Nie wieder!» erklärte.

Die Menschen in Bosnien und Ruanda in den neunziger Jahren wussten, dass dies für sie nicht galt. Uigur:innen, Rohingya, Palästinenser:innen, Jemenit:innen, Afghan:innen und die Bewohner:innen vieler anderer Länder sehen auch heute noch, dass der Spruch für sie nicht gilt. Mit anderen Worten: Das «Nie wieder» war schon immer mit dem Zusatz «für uns» versehen – wobei das «Uns» eindeutig vom Nachweis einer gewissen «Modernität» oder «Zivilisation», einem «Europäertum», einer «Westlichkeit» undsoweiter abhing.

Dies haben wir auch in der rassistischen Berichterstattung über ein Phänomen gesehen, das Europa 2015 als «Flüchtlingskrise» bezeichnete. Der Rassismus betraf dabei nur rassifizierte Körper; zumindest im Moment sind ukrainische Geflüchtete davon ausgenommen. (Obwohl sicherlich nicht alle Ukrainer:innen, wie das Beispiel der ukrainischen Roma zeigt).

Es genügt jedoch nicht, auf diese Heuchelei hinzuweisen. Vielmehr müssen wir verstehen, wie begrenzt Solidaritätsbekundungen von Staaten sind – ganz zu schweigen von der Möglichkeit von konkreten und transformativen Massnahmen. Wenn wir eine Chance haben wollen, um robustere internationale Systeme aufzubauen, müssen wir über den Nationalstaat und die Einschränkungen der Menschenrechte hinausgehen.

Eine immer grössere Distanz

Ich schreibe dies, weil die Ukraine zwar im Moment die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient. Die fehlende Aufmerksamkeit für andere Krisen – von Tigray über den Jemen und Palästina bis nach Myanmar und viele andere Regionen – zeigt allerdings, dass die Aufmerksamkeitsspanne äusserst kurz ist und auch die Ukraine bald aus dem Fokus verschwinden könnte.

In der Tat hat sich die Berichterstattung bereits verändert: Je mehr sich die Zuschauer:innen in Europa daran gewöhnen, ukrainische Städte in Schutt und Asche zu sehen, desto grösser wird die Distanz zwischen Paris, London oder Wien und Butscha, Charkiw oder Mariupol.

Nach einer gewissen Zeit tritt etwas sehr Beunruhigendes ein: Die Opfer werden zu «den Anderen», weil ihre Erfahrungen so fremd sind für das, was die meisten Europäer:innen gewohnt sind. Wenn wir nicht aufpassen, könnten Verurteilungen und Empörungsbekundungen bald durch Apathie und den Wunsch ersetzt werden, die Realität im Namen der «Normalität» zu ignorieren. 

Dies zeigt sich in den Diskussionen über die Rolle von Ländern wie Deutschland oder der Schweiz bei der Normalisierung des Putin-Regimes im Laufe der Jahre. Deutschland ist nach wie vor von russischem Öl abhängig, während die Schweiz in den letzten Jahrzehnten die weltweit wichtigste Drehscheibe für Ölhändler:innen war – auch für russische. Allzu lange wurde dies geduldet und sogar verherrlicht: als Teil der ständig wiederkehrenden Behauptung, mehr Handel führe zu einer friedlicheren Welt.

An einem einzigen Tag zerstörte Putin dieses Narrativ, aber viele werden versuchen, sein Regime wieder zu normalisieren, sobald die Situation als «sich beruhigend» wahrgenommen wird. 

Den Druck erhöhen 

In Syrien ist das bereits geschehen. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben Assad zu einem offiziellen Besuch eingeladen; Dänemark hat derweil versucht, syrische Geflüchtete nach Damaskus auszuschaffen. Viele Kräfte in Europa drohen übrigens schon seit Jahren mit der Ausschaffung syrischer Geflüchteter.

Die Ankunft einer Million «Anderer» auf dem reichsten Kontinent der Geschichte mit fast einer halben Milliarde Einwohner:innen reichte aus, um das gesamte politische System in Aufruhr zu versetzen. Vom Aufstieg der extremen Rechten bis hin zur Militarisierung der EU-Grenzen: Alles wurde auf die blosse Anwesenheit von rassifizierten Geflüchteten geschoben. 

So wie das Beispiel Syrien gezeigt hat, dass die scheinbare Sympathie der sogenannten internationalen Gemeinschaft begrenzt, bedingt und vorübergehend ist, müssen wir aufpassen, dass mit der Ukraine nicht das gleiche passiert.

Das bedeutet, den Druck zu erhöhen, um uns vollständig und dauerhaft von russischem Öl zu lösen und den Übergang zu erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Und wir müssen sicherstellen, dass die Ukrainer:innen alle Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um sich zu verteidigen.  

* Der libanesische Autor Joey Ayoub absolviert zurzeit seinen PhD in Cultural Studies an der Universität Zürich und forscht dort zur Situation im Libanon der Nachkriegszeit. Seine Texte sind in diversen Publikationen erschienen, darunter «Al Jazeera» oder «Global Voices». Zudem betreibt er den Podcast «The Fire These Times», in dem er versucht, das Leben im 21. Jahrhundert von der Peripherie aus zu beschreiben. 

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.

Von Volodya Vagner (Text und Foto)

«In Istanbul verstehen alle meine Situation sofort»: Der Filmemacher Dmitri Wenkow ist aus Moskau in die Türkei gezogen.

Auch zahlreiche Russ:innen verlassen wegen des Krieges ihr Land. Drei Begegnungen in Istanbul, Almaty und Bischkek.

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine sind Millionen ukrainische Zivilist:innen auf der Flucht. Gleichzeitig erlebt auch Russland einen historischen Exodus. Hunderttausende, besonders junge Menschen aus der gebildeten Mittelklasse haben das Land verlassen. Zu ihren Beweggründen zählen sowohl politische Ängste als auch Sorgen über die eigene Versorgung. Viele von ihnen versuchen nun, sich in Russlands Nachbarländern, etwa in der Türkei und in Zentralasien, ein neues Leben aufzubauen.  

«Ich bekam einfach Angst», erklärt Dmitri Wenkow, ein Filmemacher aus Moskau, seine Flucht nach Istanbul. Er sitzt im schattigen Innenhof eines Cafés im europäischen Stadtteil Nisantasi und dreht eine Zigarette nach der anderen. «Es hat sich eine spürbare Verschiebung zu einem neuen Regime vollzogen. Als Putin am Vorabend des Krieges seine historische Vorlesung abhielt, empfand ich das als etwas Neues und sehr Beängstigendes. Beruflich war es für mich ohnehin immer schwieriger geworden, und nun kam dieser psychologische Aspekt dazu», sagt er.

Schon vorher sah sich Wenkow mit zunehmender Selbstzensur in der russischen Kunst- und Filmwelt konfrontiert. Obwohl seine Filme eher experimentell sind und keine explizite Botschaft enthalten, bekam er von potenziellen Geldgeber:innen zukünftiger Projekte in letzter Zeit immer häufiger skeptische Fragen dazu, ob seine Arbeit «politisch» sei. Die Finanzierung blieb aus.

Verglichen mit Russland erscheint ihm Istanbuls lebhafte Kulturlandschaft wie ein Ort der Freiheit. Die Wohnung, in der er und seine Frau, eine Künstlerin, wohnen, fanden sie über Kontakte in der türkischen Kunstszene. Gleichzeitig ist sich Wenkow der Ironie bewusst, in ein Land geflohen zu sein, das viele einheimische Oppositionelle verlassen. «Wenn ich mit Leuten hier rede, muss ich unsere Situation kaum gross erklären, die verstehen das alles sofort, weil sie selbst Ähnliches erlebt haben», sagt er.

Was die Zukunft angeht, ist Wenkow gespalten. «Einerseits ist mir klar, dass das alles nicht vorübergehend ist. Aber gleichzeitig hoffe ich, dass ich wieder zurückkehren kann.»

Pawel und Maria sind kürzlich von Moskau nach Kasachstan umgezogen. Für das Paar ist die Lage weniger zwiespältig. «Wir sind weggegangen, um nie mehr zurückzukehren», erklärt Pawel während eines Spaziergangs nahe ihrer neuen Wohnung in Almaty. Da die beiden sich auch hier vor dem russischen Repressionsapparat nicht völlig sicher fühlen, möchten sie lieber anonym bleiben. Es ist sonnig, und in der Ferne glitzern die schneebedeckten Berge. Den Flug hierher buchten sie am ersten Kriegsmorgen. Nach einer stressigen Woche, in der sie ihr altes Leben abwickelten, waren sie in Kasachstan.

Der Bildhauerin Maria fehlt nun nicht nur der Zugang zu einem Atelier, sondern auch der Lehm, mit dem sie normalerweise arbeitet. Der kam vor dem Krieg nämlich aus der Ostukraine. Die Firma, bei der Pawel als Unternehmensentwickler beschäftigt ist, baut in Almaty gerade eine Zweigstelle auf, weshalb er den Umzug beruflich gut bewältigen kann.

Maria kennt Kasachstan schon aus der Kindheit. Ihre Mutter kommt von hier, und als Kind hat sie regelmässig Zeit bei Verwandten im Land verbracht. Der multiethnische Hintergrund des Paares war auch ausschlaggebend für ihren Entschluss, Russland zu verlassen. Neben ihrem kasachischen hat Maria auch einen armenischen Hintergrund, Pawel kommt aus einer teils jüdischen, teils armenischen Familie. «Die nationalistische Stimmung, die zurzeit in Russland floriert, erlebten wir als bedrohlich», erklärt er.

Für Maria geht es auch um Moral. «Mit jedem Einkauf Steuern an einen Staat zu zahlen, dessen Militär ein Nachbarland bombardiert, bedeutet, Terrorismus zu finanzieren», erklärt sie. Etwas verlegen wendet Pawel ein, dass die Verträge zwischen russischen Firmen, an deren Abschluss er täglich bei der Arbeit mitwirkt, schwerer wögen als ihre Lebensmitteleinkäufe.

Langfristig hoffe er, nur noch in internationalen Projekten tätig zu sein und somit Russland hinter sich lassen zu können. Maria möchte die armenische Staatsbürgerschaft erlangen. «Sobald ich die habe, werde ich meinen russischen Pass verbrennen», sagt sie.

Auch wenn er den Krieg ebenfalls ablehnt: Für den IT-Spezialisten Wladimir, der seinen Nachnamen auch lieber nicht nennen will, war der Umzug nach Bischkek, in die Hauptstadt Kirgisistans, vor allem eine praktische Angelegenheit. Er arbeitet nämlich für ein internationales Unternehmen und bekommt sein Gehalt in Dollar ausbezahlt, was in Russland zurzeit nicht möglich ist.

«Mir wurde in der ersten Kriegswoche, als die Sanktionen und Einschränkungen beim Währungsumtausch in Kraft traten, klar, dass ich ausreisen muss», erklärt er in einer Kneipe im Zentrum Bischkeks. Seine Frau und die beiden Kinder sind vorerst in Nowosibirsk zurückgeblieben.

Auch wenn Wladimir sowieso im Homeoffice arbeitet und seinen Job wie bisher ausführen kann, hat sich sein digitaler Arbeitsalltag durch den Krieg verändert. Mehrere Hundert seiner russischen und belarusischen Kollegen, die nicht umziehen wollten oder konnten, sind inzwischen nicht mehr bei der Firma. Unter den übrigen Kollegen sind auch zahlreiche Ukrainer:innen, was Wladimir in vielen Fällen erst nach Kriegsausbruch klar wurde.

«Ein Teil von ihnen wirft den russischen Kollegen vor, Schuld daran zu tragen, dass all das passieren konnte», sagt er und senkt den Blick. «Ich weiss ehrlich gesagt nicht richtig, wie wir weiter zusammenarbeiten sollen. Es ist schwer, wenn einem persönlich Vorwürfe dafür gemacht werden, nichts getan zu haben, um all das zu verhindern.» Nach einer Pause fügt er hinzu: «Sicherlich ist es nicht so, als hätte ich mich besonders bemüht.»

Um die Produktivität zu gewährleisten, hat die Firmenleitung mittlerweile politische Diskussionen zwischen Angestellten verboten. Ob diese Zensur die Spannungen abbauen könne, werde sich zeigen müssen, sagt Wladimir. Ob seine Familie ihm nach Bischkek folge, sei ebenfalls noch unklar. Seine Frau sei skeptisch.

«Klar ist das schwer, ich vermisse besonders die Kinder, aber es wäre schlimmer, wenn ich geblieben wäre, aber keine Arbeit mehr hätte», sagt er. «Ich mochte mein altes Leben mit der Familie und unserem Hund. Wenn ich daran denke, ist mir traurig zumute. Wenn ich mir jedoch vorstelle, was meine ukrainischen Kolleg:innen durchmachen, scheinen meine Sorgen vergleichsweise gering.»

Ein Login kostet bis zu 200 Franken: Eingang ins Schaffhauser Sozialamt. Foto: Stefan Kiss

Zehntausende bieten sich über Campax als Gastfamilien für ukrainische Geflüchtete an. Was kaum jemand weiss: Die Behörden müssen für den Zugriff auf diese Daten bezahlen.

Es ging alles sehr schnell: Ukrainische Geflüchtete kamen in die Schweiz – und die Schweiz bald nicht mehr mit. Innert kürzester Zeit mussten Tausende Betten zur Verfügung stehen. In die Bresche sprangen zwei NGOs: Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) organisierte zusammen mit der Non-Profit-Organisation Campax eine Anlaufstelle im Netz.

Über ein Onlineformular konnte sich registrieren, wer Geflüchteten aus der Ukraine einen Platz bieten möchte. Über die frisch aus dem Boden gestampfte Plattform holte die SFH nicht nur die enorme Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ab, sondern entlastete auch Bund und Kantone. 

Schweizweit sollen es inzwischen über 31 000 Haushalte sein, die mehr als 78 000 Betten zur Verfügung stellen. Dazu kommen knapp 700 Betten in Hotels und Wohnheimen. Vermittelt worden seien bisher zwischen 5000 und 10 000 Plätze, sagt Campax-Geschäftsführer Andreas Freimüller. 

Die Kampagnenorganisation Campax schreibt auf ihrer Website, dass sie «die Aufnahme von Flüchtenden subsidiär zum Flüchtlingsapparat des SEM» koordiniere, also mit den Behörden zusammenarbeite. Was bisher weder Gastfamilien wussten, noch mit den Behörden abgesprochen war und nun eine Recherche der WOZ und der «Schaffhauser AZ» zeigt: Die Weitergabe der Adressen geschieht nicht automatisch – und auch nicht unentgeltlich. 

Wenn Behörden auf die Datenbank zugreifen wollen, tun sie dies über die Plattform «Hostfinder», die Campax eigens dafür erstellt hat. Campax verlangt aber eine Gebühr für den Zugriff auf die Gastfamilienadressen. Die Höhe dieser Gebühr ist noch nicht definitiv und wird laufend angepasst; in einem Dokument, das den beiden Zeitungen vorliegt, sind indes Preise zwischen 120 und 200 Franken pro Login und Monat ausgewiesen. 

«Dass Campax die Adressen der Personen, die Geflüchtete aufnehmen wollen, zum Verkauf anbietet, finde ich nicht redlich – und es steht im Widerspruch zu Aussagen, die Campax uns gegenüber gemacht hat», kritisiert der Schaffhauser Sozialamtschef Andi Kunz. Wäre dem Sozialamt bekannt gewesen, dass Campax für Dienstleistungen Geld verlangt, hätte dies die Kommunikation gegenüber potenziellen Gastgeberinnen beeinflusst. «Wir hätten Private wohl nicht dazu ermuntert, sich auf der Plattform von Campax einzuschreiben.»

Der Kanton Schaffhausen hat ebenfalls sehr früh eine eigene Anlaufstelle für Freiwillige und potenzielle Gastgeber aufgebaut. Die zentrale Sammlung von Adressen in einer gesamtschweizerischen Initiative habe das Sozialamt – als Ergänzung zur eigenen Sammlung – aber begrüsst, sagt Kunz. «Deshalb haben wir jene Menschen, die auf uns zukamen, sowohl auf die eigene Plattform als auch auf das Angebot von Campax verwiesen.» Telefonisch habe die Organisation ihm damals in Aussicht gestellt, dass die Adressen aus Schaffhausen ans Sozialamt ausgehändigt würden.

Andi Kunz betont, dass er das enorme Engagement der beiden NGOs generell sehr wertschätze – und auch, dass sich seine Aussagen auf die Sicht des Kantons Schaffhausen beschränke. Welche Kantone bisher mit Campax zusammenarbeiten, kann die Organisation selbst nicht sagen. Man kläre mit den Kantonen derzeit die Bedürfnisse bei der Nutzung der Datenbank ab und habe dafür schon einige Zusagen. Bisher nutzen 180 User:innen in den Bundesasylzentren das System. Von dort aus werden die Geflüchteten auf die Kantone verteilt.

Dass die Logins kostenpflichtig sind, rechtfertigt Campax-Geschäftsführer Freimüller damit, dass man die Datenbank selbst entwickelt habe. «Von Haus aus sind wir keine Softwarefirma. Im Peak waren wir auf bis zu zwölf externe Programmier:innen angewiesen.» Ein Entwickler von Campax vergleicht die Datenbank mit einem Flugzeug, das sehr schnell gestartet ist und jetzt im Flug laufend modifiziert wird.

Dabei seien nennenswerte Kosten entstanden. «Wir sind als Verein extrem in die Vorleistung gegangen und sind froh, wenn wir die Kosten überhaupt wieder hereinbekommen», sagt Freimüller. Campax wolle keinen Gewinn erzielen, sondern nur die Kosten decken – als Verein mit karitativem Zweck sowieso. 

Für die Aufrechterhaltung und die punktuelle Weiterentwicklung von «Hostfinder» rechnet Campax derzeit mit monatlichen Kosten von rund 120 000 Franken. Ziel sei es, dass der Bund ein Drittel der Kosten übernimmt und der Rest auf die Kantone verteilt wird. Die Preismodelle sollten aber so angepasst werden, dass sich auch kleine Gemeinden ein Login leisten könnten. «Letztlich sparen auch sie Kosten, wenn sie nicht selbst Unterkünfte zur Verfügung stellen oder nach diesen suchen müssen», so Freimüller.

Von Vincent Haiges (Text und Foto), Kyjiw

Auch Soldaten kommen zur Aufführung: Das Publikum im Lessja-Ukrajinka-Theater.

Am ersten Kriegstag schloss das Nationaltheater in Kyjiw seine Türen. Nun hat es sie als erste Kultureinrichtung wieder geöffnet. Ein Besuch bei Regisseur Kirill Kaschlikow.

Auf dem Schreibtisch von Kirill Kaschlikow im Nationaltheater in Kyjiw, benannt nach der neuromantischen Dichterin Lessja Ukrajinka, liegt das Stück «Ferryman». Die Proben liefen wie geplant, auch am Dienstag, den 22. Februar. Knapp über einer Stunde hat die Probe gedauert, steht auf dem Skript geschrieben. Zwei Tage später sollte wieder eine stattfinden. Doch dazu kam es nicht. Dort, wo normalerweise die Dauer der Probe steht, befindet sich ein Strich: Kriegsbeginn in der Ukraine.

Kaschlikow und seine Familie wachen an diesem Morgen zu Raketeneinschlägen auf der anderen Seite des Flusses Dnipro auf, der Kyjiw in zwei Hälften teilt. Der Klang der Detonation hat Kaschlikow, seine Frau und die zehnjährige Tochter geweckt. «Im ersten Augenblick war ich nur verwirrt», sagt Kaschlikow. Er hatte nicht daran geglaubt, dass der Krieg nach Kyjiw kommen würde. «Bisher kannte ich Krieg nur aus dem Fernsehen», sagt er.

Trotz des Angriffs fährt Kaschlikow an diesem Morgen ins Lessja-Ukrajinka-Theater. Im Auto fragt er sich noch, ob die Vorstellung am Abend stattfinden könne. Er erreicht das Theater um neun Uhr, tauscht Informationen mit Freund:innen und Kolleg:innen aus. Nach kurzer Zeit ist ihnen klar: Die Vorstellung am Abend wird nicht stattfinden.

Die Familie wohnt jetzt im Theater

Sieben Wochen nach Beginn der russischen Invasion tobt der Krieg in der Ukraine weiter. Im Moment liegt der Fokus der Kampfhandlungen 700 Kilometer vom Lessja-Ukrajinka-Theater entfernt, im Donbas im Osten des Landes. Prognosen, dass Kyjiw innert Tagen fallen würde, haben sich als Fehleinschätzung erwiesen.

Sechs Wochen belagerten russische Truppen die Vororte rund um Kyjiw, doch sie konnten die Stadt nicht einnehmen. Zurück bleibt eine Spur der Verwüstung: In den Vororten Irpin und Butscha werden nach wie vor Leichen aus den Massengräbern gehoben. Nach dem Untergang des russischen Kriegsschiffs Moskwa detonieren wieder vermehrt Raketen in der Hauptstadt.

Ist man in den Strassen von Kyjiw unterwegs, begegnet man trotzdem dem Alltag: Cafés und Restaurants haben geöffnet, Spaziergänger:innen sind im Park anzutreffen. Und auch im Nationaltheater finden wieder Vorführungen statt.

Das Lessja-Ukrajinka-Theater ist eines der grössten und erfolgreichsten Theater in der Ukraine. Ukrainische und russische Stücke, aber auch Weltklassiker etwa von Arthur Miller wurden bis vor Kriegsbeginn gespielt. An die sechzig Stücke hatte das Theater im Repertoire. «Es gibt etwas in meinem Herzen, das nicht sterben wird», heisst es in einem Glaskasten vor dem Theater. Ein Zitat der Namensgeberin Ukrajinka.

In der ersten Kriegswoche konnte Regisseur Kaschlikow nicht mehr zum Theater fahren. Die Brücken über den Dnipro waren vom ukrainischen Militär gesperrt worden. Bis am 1. März eine der Brücken wieder geöffnet wird. Kaschlikow steigt ins Auto und entschliesst sich, ins Theater zu ziehen. «Der Kapitän muss auf seinem Schiff bleiben», meint er. Seine Frau und seine Tochter bittet er, das Land zu verlassen. Doch sie bestehen darauf, in der Stadt zu bleiben. Auch sie ziehen im Theater ein.

Während der wochenlangen Belagerung versuchen sie, ihren Alltag so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Kaschlikow arbeitet in seinem Büro. Sind die Sirenen einmal still, wagt sich die Familie zu kleinen Spaziergängen auf die Strasse.

Am 9. April öffnen sich die hellbraunen Bogentüren des Theaters wieder. Es ist die einzige Kultureinrichtung der Stadt, die wieder Gäste empfängt. Warum das möglich ist? Zum einen gibt es mehrere Ausgänge, die als Fluchtwege dienen können. Zum anderen liegt eine U-Bahn-Station nur wenige Meter vom Theater entfernt. Für die meisten Menschen sei das Theater somit sicherer als ihr eigenes Haus, sagt Kaschlikow. Er meint das nicht als Scherz.

Das Video von der Eröffnung am 9. April zeigt Kulturminister Oleksandr Tkachenko im grünen Militärhemd gemeinsam mit Kaschlikow auf der Bühne. Tkachenko spricht darüber, welche Aufgabe die Kultur in den Zeiten des Krieges hat. Sie gebe den Menschen die Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten und Wunden zu heilen.

Am Abend der ersten Aufführung hätten nicht nur die Zuschauer:innen, sondern auch die Darsteller:innen nach der Aufführung geweint, erzählt Kaschlikow. Dabei war es nicht einfach, die Vorstellung zu organisieren. Teile des Ensembles sind geflohen, andere wurden in den Militärdienst eingezogen. Stücke wurden kurzerhand umgeschrieben oder mit weniger Schauspieler:innen besetzt.

Zwei Stunden nach Ankündigung der ersten Vorstellung auf Facebook waren die Karten ausverkauft. Kaschlikow öffnet seinen Laptop und scrollt durch die nächsten Vorführungen. «Hier am Samstag gibt es nur noch einen Platz.» Die Eröffnung des Theaters bedeute nicht, dass der Krieg vorbei sei, sagt er. «Im Gegenteil: Bei jeder Aufführung kreuze ich meine Finger, in der Hoffnung, dass keine Rakete einschlägt.» Und er fügt hinzu: «Solange noch Krieg im Osten des Landes ist, kann Kyjiw nicht zur Normalität zurückkehren.»

Ein Wort wird noch gesucht

An einem Sonntag im April blicken die Zuschauerinnen und Zuschauer gebannt auf die Bühne. Sie sitzen im zweitgrössten Saal des Theaters. Aus Sicherheitsgründen darf der grösste noch nicht geöffnet werden. Die 130 Plätze sind fast alle besetzt, nur in der ersten Reihe bleiben vereinzelte Sitze frei.

Auf der Bühne wird «Die Melodie von Warschau» gespielt, eine Liebesgeschichte über einen Soldaten, der sich in der Sowjetunion in eine junge Polin verliebt. Das Stück spielen ein Schauspieler und eine Schauspielerin vor einem einfachen Bühnenbild. Doch das tut der Stimmung keinen Abbruch. Kaum jemand spricht, das Publikum schaut gebannt zu.

Als der Applaus verklungen ist, strömen die Menschen heiter aus dem Saal. Viele lachen, halten sich gegenseitig am Arm und sprechen über das gerade Erlebte. Das klassische Bildungsbürgertum ist gekommen, aber auch junge Menschen, Soldat:innen, auffallend viele Frauen.

Eine von ihnen, die 32-jährige Olga, ist Bauingenieurin. Eine türkis gefärbte Haarsträhne fällt ihr beim Sprechen ins Gesicht. Das erste Mal seit Kriegsbeginn sei sie wieder im Theater. Geliebt habe sie es schon immer. Als sie sah, dass Karten verkauft wurden, schlug sie sofort zu. Sie wollte wissen, wie es sich nun anfühlen würde.

Olga hält einen Augenblick inne. Nein, eine Rückkehr in die Normalität sei es trotzdem nicht. Vielleicht müsse man ein neues Wort für das momentane Lebensgefühl in Kyjiw erfinden. Wie sie es nennen würde, das weiss sie nicht.

Zurück in Kaschlikows Büro: An der Wand mit der goldenen Tapete hängen Fotografien von vergangenen Aufführungen. Auf seinem dunklen Schreibtisch liegt ein Kalender; die Einträge werden wieder mehr. «Die Aufgabe des Theaters ist es, die Menschen an ihre Menschlichkeit zu erinnern. Denn sonst hat das Theater versagt.»

Ein Gastbeitrag von Alexander Estis*

Warum funktioniert die Reizvokabel «Faschismus» als stigmatisierende Markierung des Feindes so gut? Der Autor Alexander Estis über ein Paradox, das sich bestens instrumentalisieren lässt. 

Vor vielen Jahren wurde ich von einem russischen Polizisten angehalten, weil ich die Strasse an der falschen Stelle überquert hatte – und das in Moskau, wo Verkehrsregeln in etwa den gleichen Stellenwert besitzen wie moralische Skrupel in den Führungsetagen von Schweizer Banken. Mit mehr oder minder unterschwelligen Drohungen – ich müsse mit aufs Revier – erpresste der Polizist Bestechungsgeld von mir. Und gebot mir dann zum Abschied in einem Ton unhinterfragbarer moralischer Überlegenheit, ich solle die Verkehrsregeln nächstes Mal doch gefälligst beachten.

Diese Episode lässt mich nicht los, während ich über die Mechanismen der russischen Propaganda und die psychischen Eigenheiten Putin-treuer Bürger:innen nachsinne: Es scheint dies für mich eine Art Urszene gewesen zu sein, in der sich mir die klassisch russische Fähigkeit zur Verkehrung des Rechtsverständnisses offenbarte. Darin ist der Wunsch Vater des Gedankens, aber mehr noch das gesetzte Prinzip Vater der Wahrheit. Dem Polizisten könnte es gar nicht einfallen, dass er der eigentliche Straftäter ist – schliesslich ist er Polizist; die Annahme der Bestechung war lediglich ein Akt der Milde gegenüber einem Verkehrssünder.

«Das würden unsere Jungs niemals tun» 

Beim Sprechen über Russland muss man immer bedenken, dass dieses Land auf extreme Weise heterogen ist – und was für den jungen mittelständischen Moskauer das eine bedeutet, kann für die arme Pensionistin in Wladiwostok das genaue Gegenteil heissen. Zumindest für einige Kohorten der russischen Bevölkerung dürfte aber jenes soeben beschriebene Phänomen des formalistischen und scheinhaften Rechtsverständnisses Gültigkeit haben.

In Verbindung mit kollektivistischen und patriotischen Gesinnungen kann diese Denkart einen völlig unerschütterlichen Glauben an die moralische Überlegenheit jeglicher Taten erzeugen, die vom oder für das «Vaterland» vollzogen werden. Als russische Truppen 2008 in Georgien eine militärische Aggression ausübten, sagte mir eine Freundin, ein gutmütiger, aber leichtgläubiger Mensch: «Das stimmt alles nicht. Das würden unsere Jungs niemals tun. Die würden nie anfangen.»

Auf eine sehr verquere Weise traf dies sogar zu, denn Russland wandte schon damals genau die gleichen Taktiken an, die später in der Ukraine zum Einsatz kommen sollten: Provokationen, Übergriffe unter falscher Flagge, Desinformationskampagnen über einen vermeintlichen Genozid an kurz zuvor eigens eingebürgerten Russ:innen; wenn das russische Militär dann durchgriff, handelte es sich lediglich um «Verteidigungs- oder Vergeltungsaktionen». Eine solche Interpretation des Geschehens liess und lässt sich bestens verkaufen – zumal gegenüber Menschen, die von der naturgegebenen Güte aller russischen Mitbürger:innen überzeugt sind.

Dies ist ferner einer der Gründe, weshalb die Reizvokabel «Faschismus» als stigmatisierende Markierung des Feindes so gut funktioniert: Sie bekräftigt das Narrativ von den Russen als antifaschistische Befreier. Der Sieg über den Faschismus im sogenannten Grossen Vaterländischen Krieg bildete ein konstitutives Merkmal der sowjetischen Identität. Auf dem Weg einer magischen translatio imperii wurde in der putinistischen Ideologie die Lizenz zur Faschismusbekämpfung von der multinationalen Roten Armee der Sowjetunion – die sich selbstverständlich aus einer enormen Vielheit von Ethnien rekrutierte, zumal auch aus Ukrainern – unmittelbar auf das nationale Militär des postsowjetischen, neuimperialistischen Russland übertragen.

Wenn daher die russische Führung behauptet, in der Ukraine gegen den Faschismus zu kämpfen, mobilisiert sie ein gewaltiges identifikatorisches Potenzial – und erhebt die eigenen Streitkräfte in den Status einer über jeglichen Makel erhabenen Heroik.

Dass der demokratisch gewählte Präsident der vermeintlich nazistischen Ukraine selbst Jude ist, während Russland zu einem immer offeneren faschistischen Regime transformiert erscheint, stellt für diese Auffassung kein Hindernis dar, sondern bietet umgekehrt ein ideologisch hervorragend instrumentalisierbares Paradox: Auf diese Weise nämlich kann der immer schon mehr oder minder untergründig schwelende russische Antisemitismus in scheinbaren Antifaschismus verwandelt und der grossrussische Chauvinismus als Pathos des solidarischen Befreiungskampfs inszeniert werden.

Jene Nation, die den Faschismus besiegt hat, kann für gewisse Bevölkerungsgruppen Russlands a priori nicht faschistisch sein. Das Koordinatensystem dieses russischen Moralismus ist derart starr, dass sich die Welt ihm gemäss zu krümmen hat; vom moralischen Standpunkt aus gesehen, ist Russland immer überlegen – denn der moralische Standpunkt ist ein Ort in Russland. 

* Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lebt als freier Autor in Aarau. Letztes Jahr erschien von ihm das «Handwörterbuch der russischen Seele». Für den WOZ-Blog zum Krieg gegen die Ukraine hat er bereits ein Psychogramm von Wladmir Putin verfasst und über die Ausladung russischer Künstler:innen geschrieben. Mehr Infos auf www.estis.ch.

Die Schweiz blockiert angeblich den Export deutscher Panzer in die Ukraine. Doch man sollte die hiesige Rüstungsindustrie nicht überschätzen.

Am Wochenende hat die Debatte über die Rüstungsexporte auch die Schweiz erreicht. Im Zentrum steht die Frage, ob das Land mit seiner Weigerung, Munition nach Deutschland zu liefern, wiederum Exporte von Deutschland in die Ukraine verhindert. Wer die Frage beantworten will, merkt allerdings schnell: Innert wenigen Tagen kam es zu zahlreichen medialen Fehlschlüssen und politischer Empörungsbewirtschaftung, die weder die Medien noch die Politik besonders gut aussehen lassen. Doch von vorne.

Am Donnerstag behauptete die deutsche Grüne Marieluise Beck in der Talkshow «Markus Lanz», Deutschland könne keine Radpanzer des Typs Marder der Firma Rheinmetall in die Ukraine liefern, weil die Schweiz die Ausfuhr von Munition nicht bewillige. «Die Schweiz ist nicht bereit, diese Munition zu verkaufen, weil sie ihre Banken freihalten wollen für das russische Geld», sagte Beck. Die Ableger von Rheinmetall in der Schweiz sind in der Tat auf die Produktion von Munition spezialisiert, wie der WOZ-Rüstungsreport wiederholt thematisierte.

Die Lieferung der Marder ist in Deutschland nicht irgendein Geschäft. An diesem Beispiel wird sich entscheiden, ob die deutsche Regierung schwere Angriffswaffen in die Ukraine schickt. Schon seit Wochen wird diskutiert, ob die Firma Rheinmetall hundert Panzer dieses Typs in die Ukraine exportieren soll. Diese befinden sich im Bestand der Bundeswehr, werden aber derzeit nachgerüstet und durch den Nachfolger Puma ersetzt.

Nach der Talkshow nahm das Gerücht seinen Lauf. Die «SonntagsZeitung» ging Marieluise Becks Aussage nach und zitierte das Seco, wonach man zwei Gesuche aus Deutschland abgelehnt habe, bei denen es um die Weitergabe von Waffen an die Ukraine ging. Ob dabei der Marder gemeint war, wollte das Staatssekretariat allerdings nicht bestätigen, weil Einzelbewilligungen nicht publik gemacht werden. Spätestens die Bildlegende des Berichts brachte zusammen, was der Artikel zwar nicht belegte, aber insinuierte: «Zu wenig Munition: Die Marder werden bis auf weiteres nur in Deutschland verschoben.»

Für CH-Media war daraufhin eine Lieferung für den Marder Fakt. Die Tamedia wiederum nahm einen Tweet von Gerhard Pfister, der dem Bundesrat wegen der nicht bewilligten Munitionsexporte unterlassene Hilfeleistung vorwarf, zum Anlass, die Positionierung der Mitte-Partei bei Waffenexporten zu hinterfragen. Diese hätte mitgeholfen, das Kriegsmaterialgesetz zu verschärfen, wonach Waffen nicht in Länder exportiert werden dürften, die in interne oder internationale Konflikte verwickelt seien. Genüsslich nahm man bei SVP und FDP einen angeblichen Gesinnungswandel Pfisters zur Kenntnis. Auch wenn es die Lieferung von Kriegsmaterial an Kriegsparteien in internationalen Konflikte schon lange verboten sind und es bei der Gesetzesänderung lediglich um die Exporte in Bürgerkriegsländer ging.

Inzwischen haben auch internationale Medien die Story der «SonntagsZeitung» zum Marder aufgenommen. Dabei schafft ein Anruf beim Seco Klärung. Bei den beiden Gesuchen ging es zwar um Munition. «Wir können aber bestätigen, dass es bei den abgelehnten Gesuchen nicht um Munition für die Marder-Panzer ging», sagt Seco-Mediensprecher Fabian Maienfisch der WOZ.

Was zum Ziel führt

Damit ist zwar nicht die grundsätzliche Frage beantwortet, ob die Schweiz als neutraler Staat Waffen an die Ukraine liefern soll oder nicht. Festhalten lässt sich aber: Die deutsche Diskussion über die Marder betrifft die Schweiz nicht. Die Schweizer Rüstungsexportkontrolle hat in diesem Fall funktioniert. Wer sie ändern will, muss die Gesetze anpassen.

Vielleicht liesse sich die ganze Waffendiskussion sowieso besser etwas weniger hysterisch angehen. Wie unlängst eine Seco-Studie zeigte, macht der Anteil der Rüstungsindustrie gerade einmal 0,18 Prozent an der Bruttowertschöpfung der Schweiz aus. Ausser Munition hat sie wenig zu bieten.

Andere Bereiche zur Unterstützung der Ukraine – diplomatische Vermittlung, humanitäre Hilfe oder die Suche nach russischen Oligarchengeldern – sind höchstwahrscheinlich zielführender.

Die WOZ hat sich erneut durch die internationale Presse geblättert. Hier einige Hinweise auf vertiefende Beiträge zum Krieg gegen die Ukraine.

Jelena Osipowa ist eine Ikone. Ob gegen den Tschetschenienkrieg, den Irakkrieg oder die Annexion der Krim: Die inzwischen 77-Jährige trägt ihren Protest für den Frieden seit Jahrzehnten auf die Strasse. Und auch jetzt setzt sich die Petersburgerin unermüdlich gegen den Krieg ein, den das Regime ihres Heimatlands in der Ukraine entfesselt hat. Immer wieder geht sie mit aufwendig gestalteten, selbstgebastelten Plakaten auf die Strasse – und lässt sich auch durch die Verhaftungen der letzten Wochen nicht einschüchtern. In Russland nennt man sie «das Gewissen von St. Petersburg». Das im lettischen Riga ansässige russische Exilmedium «Meduza» hat diese Woche mit Osipowa gesprochen – über vielfältige Widerstandsformen und Kunst, das Putin-Regime und Russlands Zukunft. Lesen Sie hier die klugen Gedanken einer beeindruckenden Frau.

Masha Gessen, Autor:in beim «New Yorker», gehört zweifellos zu den besten Kenner:innen des russischen Regimes. Gessen wurde 1967 in Moskau geboren, zu Beginn der achtziger Jahre siedelte die Familie in die USA über. Masha Gessen selbst kehrte in den Neunzigern allerdings nach Russland zurück und berichtete unter anderem als Kriegsreporter:in über den Tschetschenienkrieg, später beobachtete sie den Aufstieg Putins. Diese Woche schaute sich Gessen in Kyjiw um: Die eindrückliche Reportage legt den Fokus auf die Denkmalanlage von Babyn Jar, die an die Ermordung von 33 000 Jüd:innen durch die Wehrmacht im Jahr 1941 erinnert. Während eines russischen Raketenangriffs auf die ukrainische Hauptstadt ist die Gedenkstätte kürzlich beschädigt worden. 

Wer die Bilder der zerstörten Hafenstadt Mariupol sieht, fühlt sich unweigerlich an Grosny oder Aleppo erinnert: zwei Städte, die in den letzten Jahrzehnten zum Symbol der Zerstörung durch russische Bomben wurden. Dass es zwischen dem aktuellen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem Tschetschenienkrieg Parallelen gibt, konnte man in den letzten Wochen immer wieder lesen. Der britische Politologe James Hughes, der unter anderem ein Buch über Tschetschenien geschrieben hat, befasst sich in einem Beitrag für das Berliner Osteuropazentrum (ZOiS) nun ausführlich mit den Gemeinsamkeiten, aber auch den Unterschieden der beiden Kriege. «Der womöglich wichtigste Faktor bei einem solchen Vergleich sind die vom russischen Militär durchlaufene Lernkurve und seine taktische Anpassungsfähigkeit angesichts anfänglicher Fehlschläge», schreibt Hughes. 

Ebenfalls wollen wir Ihnen zwei Interviews mit ukrainischen Expert:innen empfehlen. In einem ausführlichen Gespräch mit der britischen Zeitschrift «New Left Review» erzählte der Protestforscher Wolodymyr Ischtschenko vom «Euromaidan», von ökonomischen und sozialen Veränderungen unter dem aktuellen Präsidenten Wolodimir Selenski und von der Zukunft der Ukraine. Das Interview liefert wertvolle Hintergrundinformationen zu den aktuellen Ereignissen. Das linke Magazin «Spectre» wiederum sprach mit Yulija Yurchenko, die sich auf politische Ökonomie spezialisiert hat und Autorin des 2018 erschienen Buchs «Ukraine and the Empire of Capital. From Marketization to Armed Conflict» ist. Thema des Interviews sind unter anderem der zivile und der militärische Widerstand in der Ukraine. 

Zum Widerstand gehört auch der gewerkschaftliche Internationalismus, der eine potenziell mächtige Waffe im Krieg sein kann. Ob Hafenarbeiter, die Schiffe mit Waffenlieferungen blockieren und die Häfen stattdessen für Geflüchtete öffnen wollen, oder Arbeiter:innen, die ihren Protest gegen den Krieg in die Betriebe und Fabriken tragen – in misslichen Zeiten wie den heutigen sind solche Widerstandsformen immerhin ein Funken der Hoffnung. In der aktuellen Ausgabe der linken Monatszeitung «analyse & kritik» berichtet die Forscherin Anne Engelhardt über aktuelle Bewegungen und mögliche Formen des Internationalismus im 21.  Jahrhundert.

All jenen, die des Russischen mächtig sind, sei in diesem Zusammenhang auch noch ein Beitrag der «Nowaja Gaseta Europe» über den belarusischen «Schienenkrieg» wärmstens empfohlen. Schon im Zweiten Weltkrieg stellten sich mutige Partisanen gegen die Nazis, indem sie massenhaft Schienen zerstörten und so den Nachschub der Armee erschwerten. Heute tun es Gewerkschafter:innen ihnen gleich und schneiden die russischen Truppen von der Versorgung ab.  

Russland behauptet, die Besatzung des Kriegsschiffs Moskwa vollständig evakuiert zu haben. Doch verzweifelte Eltern suchen ihre Söhne.

Für das russische Regime war der Untergang der «Moskwa» ein herber Schlag, war das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte doch militärisch wie symbolisch bedeutend. Vor einer Woche war der Kreuzer gesunken. Warum – darüber gehen die Darstellungen allerdings stark auseinander. Sehr wahrscheinlich steckt ein ukrainischer Raketenangriff dahinter, dies legen diverse Aufnahmen und Berichte nahe; die russischen Behörden hingegen geben einem Unwetter die Schuld.

Ähnlich fragwürdig ist die Darstellung zum Verbleib der Schiffscrew. Während das russische Verteidigungsministerium behauptet, diese sei «vollständig» evakuiert worden, lassen immer mehr Berichte erhebliche Zweifel an dieser Erzählung aufkommen. Demnach seien Dutzende Matrosen ums Leben gekommen, darunter auch Wehrpflichtige. Das russische Exilmedium «Meduza» schreibt unter Berufung auf eine Quelle bei der Schwarzmeerflotte von mindestens 37 Toten und über 100 Verletzten. Die Leichen seien auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim gebracht worden. Ähnliche Zahlen führt die «Nowaja Gaseta Europe» auf. Insgesamt sollen sich über 500 Personen an Bord befunden haben.

Diverse russische und westliche Medien sprachen in den letzten Tagen mit den verzweifelten Eltern junger Männer, die seit dem Untergang der «Moskwa» verschwunden sind oder als verstorben gemeldet wurden. Julia Tsiwowa etwa wurde tagelang über das Schicksal ihres neunzehnjährigen Sohnes im Dunkeln gelassen. Erst am Montag erhielt sie einen Anruf der Behörden. Ihr Sohn sei tot, hätten diese gesagt, erzählte die Frau dem «Guardian». «Sonst haben sie mir nichts gesagt, keine Information darüber, wann das Begräbnis stattfinden würde.» 

Dmitri Schkrebez wiederum berichtete auf dem sozialen Netzwerk VK vom Verschwinden seines Sohnes, der auf dem Schiff Koch gewesen sein soll. «Nun wird ein Rekrut, der nicht für den aktiven Kampf vorgesehen war, vermisst», schrieb er. «Wie kann man mitten auf hoher See verloren gehen?!!!» Und Tatjana Efrimenko sagte gegenüber «Meduza»: «Ich weiss nicht, was ich tun soll, ich kann nicht einfach zu Hause sitzen, und ich bekomme keinerlei Informationen. Alle sagen, mein Sohn sei spurlos verschwunden – sagen aber nicht, wo. War es auf hoher See? An Land?»

Erinnerung an die «Kursk»

Die Informationspolitik der russischen Behörden weckt Erinnerungen an deren Umgang mit dem Untergang der «Kursk». Im Jahr 2000, als Präsident Wladimir Putin gerade frisch an die Macht gekommen war, war das Atom-U-Boot bei einem Manöver in der Barentssee nördlich von Murmansk gesunken, 118 Matrosen kamen ums Leben, einige erstickten qualvoll. Auch damals waren die Mitteilungen über den Zustand der «Kursk» und die Rettungsarbeiten widersprüchlich. Und Putin hielt es zunächst nicht einmal für nötig, seinen Urlaub am Schwarzen Meer zu unterbrechen. Auf kritische Berichte in den damals noch vergleichsweise freien Medien reagierte er mit Drohungen.

In ihrer umfangreichen Recherche «Putins Netz» schildert die Journalistin Catherine Belton den Aufstieg des kriminellen Kreises um den Kremlchef. Ein Lektüretipp.

Ohne Adolf Hitler kein Nationalsozialismus und kein Zweiter Weltkrieg. Wer aber das «Dritte Reich» allein mit der Person Hitler erklären wollte, würde zu kurz greifen. Und ohne Wladimir Putin würde wohl auch Russland kaum einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führen – aber Putin allein erklärt den russischen Überfall auf die Ukraine nicht. Es reicht nicht, Putin als Kriegstreiber und Kriegsverbrecher zu brandmarken, man muss vielmehr verstehen, was in Russland geschehen ist, seit er im Mai 2000 russischer Präsident wurde. 

Hier hilft ein 700-Seiten-Wälzer weiter, der am Vortag der Invasion auf Deutsch erschienen ist: «Putins Netz», verfasst von Catherine Belton, einer britischen Journalistin, die von 2007 bis 2013 in Moskau als Korrespondentin der «Financial Times» gearbeitet hat. Im Untertitel kündigt die Autorin einen veritablen Politkrimi an: «Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste». Ihre Geschichte beruht auf bereits bekannten Fakten, auf Insiderwissen und gründlichen Recherchen. Beltons Gewährsleute sind überwiegend Russ:in­nen, oft ehemalige Parteigänger und Profiteure des Regimes. Sie entlarvt dabei die Lebenslügen der politischen Klasse im Westen, denen zufolge sich Putins Charakter oder seine Agenda plötzlich verändert hätten, weswegen man die Eskalation gegenüber der Ukraine – und perspektivisch gegen ganz Europa – nicht hätte absehen können. 

Doch, man konnte es absehen. Viele Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Po­li­ti­ker:in­nen in Osteuropa hatten lange gewarnt. Putin und sein engerer Kreis entstammen dem KGB, sie waren geschult für einen verdeckten Krieg gegen einen Feind, den sie auch heute noch im Visier haben. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der chaotische Übergang zu einer Art Gangsterkapitalismus unter der Herrschaft neureicher Oligarchen, meistens Mitglieder der ehemaligen Nomenklatura, die sich immer grössere Teile der vormaligen Sowjetökonomie aneigneten: Das ist der historische Kontext, in dem Putin und seine Clique ihren Aufstieg zur Macht begannen. 

Schon bevor Putin Präsident wurde, war das langfristige Ziel dieser Gruppe klar: Die Niederlage im Kalten Krieg sollte wettgemacht werden, Russland wieder Weltmacht werden. Die besondere Form des Oligarchenkapitalismus führte dabei zu einer alles überwuchernden Korruption – und zu extremer sozialer und ökonomischer Ungleichheit. 

Was sich auch geändert hat, ist die Machtstruktur in Russland. «Putins Aufstieg zur Macht ging mit einer Eroberung des Kremls durch den KGB einher», schreibt Belton. Er und sein Clan nutzten ihre Macht, um sich die Oligarchen zu unterwerfen, sich Geldquellen zu sichern und Milliarden in schwarzen Kassen anzuhäufen. Dieser enorme Reichtum, den sie mit Hilfe von russischen Mafiosi erworben und sicher in Steueroasen im Ausland parkiert hatten, wurde genutzt, um sich Staat, Justiz und Medien untertan zu machen. Ohne die organisierte Geldwäsche, die von der laxen Finanzkontrolle im Westen lebt, hätte dieses Netz keine globale Reichweite bekommen können. 

Was dabei herauskam, war eine neue Form des Kapitalismus, beherrscht von einer anderen Oligarchie. Wer nicht mitspielte, wurde ausgeschaltet. Putins Netzwerk gelang es so, eine Scheindemokratie zu installieren. In wenigen Jahren ist es dadurch zur erfolgreichsten Mafia aller Zeiten aufgestiegen: Das einzige kriminelle Netzwerk, dem es je gelang, einen ganzen Staat und eine ganze Volkswirtschaft zu kapern. 

Seine Macht nutzte dieses Netz auch dazu, den Einfluss Russlands in aller Welt auszubauen. Mittels Propaganda und Korruption sowie der Unterstützung von Russland freundlich gesinnten Organisationen – etwa den rechtspopulistischen Europafeinden in Frankreich, Deutschland oder Grossbritannien. Die Infiltration des als dekadent geschmähten Westens gehörte von Anfang an zur Strategie der Destabilisierung. Heute weiss man: Es handelte sich um die Vorbereitung zum Angriff. Auf die Drohungen, die man in Europa häufig nicht hören wollte, folgte die offene Gewalt. 

Der Blick auf die Strukturen des mafiösen KGB-Staates sollte zugleich vor einer weiteren Illusion bewahren: Auch ohne den autokratisch regierenden Präsidenten wird dieses Netzwerk weiterbestehen und das Ziel verfolgen, Russland die Herrschaft über ganz Eurasien zu sichern. Selbst wenn Putin morgen gestürzt würde, wäre Russland noch immer im Griff dieses Netzwerks. Seine Kumpane, die Strippenzieher von gestern und heute – alle sind sie «Geisel des Systems», so Belton.

Die Autorin schildert viele Einzelheiten und berichtet von vielen kriminellen Manövern. Investigative Jour­na­list:in­nen lieben derlei, und Belton macht das gut. Ihr Buch ist aber keine systematische Untersuchung der Wirtschaft und der Gesellschaft Russlands. Auch lässt sie die Armee, den militärisch-industriellen Komplex und die Zivilgesellschaft unterbelichtet. Belton vermittelt aber eine Unmenge an Fakten, die man kennen sollte, wenn man die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen will.

Catherine Belton: «Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste». HarperCollins. Hamburg 2022. 704 Seiten. 40 Franken. 

Von Viktoria Iwlewa* (Text und Foto), Irpin

Ein verbrannter russischer Panzer neben dem Ortsschild der Siedlung Sweet Home.

Die preisgekrönte russische Fotojournalistin Viktoria Iwlewa hat schon aus vielen Krisenregionen der Welt berichtet. Hier beschreibt sie ihre Fahrt nach Irpin, das von der ukrainischen Armee zurückerobert wurde. 

Was ich mit meinen eigenen Augen sehe.

Eine höllische Tragödie totaler Zerstörung, komplett erschaffen mit den Händen und dem Verstand russischer Bürger – das ist, was Hostomel, Butscha und Irpin jetzt sind. Es ist beinahe wie in Tschernobyl, die gleiche plötzliche Verwandlung blühenden Lebens in einen hässlichen Tod. 

Auf das Abtauchen in die Hölle von Irpin und Butscha bereitest du dich allmählich vor – erst tauchen am Strassenrand Reklametafeln aus irgendeinem fast vergessenen, vergangenen Leben auf. Sie laden dazu ein, in Butscha eine Wohnung zu kaufen, in Irpin Sushi zu probieren, eine «podorosch» (ukrainisch für «Reise») in die Dominikanische Republik zu gewinnen. Plötzlich schiebt sich ein verlassener Lastwagen mit einem V auf der Seite ins Sichtfeld, während weiter rechts in Fahrtrichtung ein Gebilde auftaucht, das am ehesten einem gigantischen metallischen Hundertfüsser gleicht. Die Konstruktion entpuppt sich als Gerippe eines ausgebrannten Wohnwagens, alles um ihn herum ist mit kleinen Glasscherben übersät, die in der Sonne schimmern. Es weht ein Wind, der Glasstaub scheint sich zu bewegen, und das Monster erwacht zum Leben.

Doch um mich herum spielt gar keine Gruselgeschichte, sondern das ist der Kyjiwer Oblast in der Ukraine nach der Invasion der russischen Armee.

Weiter vorne ein Haufen zerknitterter, fast schon zum Akkordeon gefalteter Autos.

«Die Orks sind mit einem Panzer drübergefahren», teilt mein Bekannter mit dem Rufnamen «Banker» mit profaner Stimme mit. Vor dem Krieg war er tatsächlich Banker, und er erinnert sich noch gut daran, dass der Krieg nicht vor einem Monat begann, wie viele meinen, die gerade erst aufgewacht sind, sondern im Frühling 2014. Zumindest für ihn persönlich.

Mit ihren Panzern und Militärtransportern sind die russischen Soldaten allem Anschein nach auch durch den wohlhabendsten Teil von Hostomel gefahren, sie zertrümmerten und walzten die Tore verlassener Privathäuser platt, sich amüsierend und neidisch, und plünderten dann ausgiebig. Im Haus, in dem wir für unsere Bekannten nach dem Rechten schauen sollten, war das Glas auf der Veranda zerbrochen, waren Einbruchsspuren zu sehen. Erst nach der Arbeit des Minenentschärfungskommandos wird man das Haus betreten können, um zu sehen, ob alles noch an seinem Platz ist. Nicht einmal das Gras sollte man betreten – im Krieg kann schliesslich alles passieren …

Neben einem anderen Haus habe ich ein kaputtes Kinderauto gesehen – so eines mit Pedalen, in das der Kleine hineinklettern und damit selbst herumfahren kann.

«Was für Bastarde», sagt plötzlich der Banker. «Man sieht doch, dass sie auf der Strasse gefahren sind – hier sind ihre Spuren. Aber nein, sie sind abgebogen, haben das Kinderspielzeug plattgefahren, sich darüber gefreut und ihren Weg fortgesetzt …»

«Sie taten es, weil sie es konnten, verstehen Sie, sie glaubten, sie dürften alles. Von einer solchen Kleinigkeit wie dem Spielauto bis hin zum Mord. Und für nichts wird man ihnen etwas anhaben können», sagt Sergei, der zweite Soldat.

Ich verstehe das sehr gut. Ein Kinderauto ist in der Tat eine Kleinigkeit. Doch genau damit fängt alles an, später wird es dann immer schlimmer und schrecklicher. Und niemand ist für irgendwas verantwortlich. Und Straflosigkeit wird zur Norm.

Doch dieses Mal sind sie alle in Schwierigkeiten.

Wir fahren weiter, nach Irpin, und plötzlich fällt der Blick auf eine Plakatwand mit der Aufschrift «Romantisches Weekend in Paris».

Aus dem Weekend in Paris ist nichts geworden, stattdessen schlossen sich die Bewohner:innen von Irpin der Territorialverteidigung an, erhielten Waffen und liessen den Feind nicht nach Kyjiw, das nur etwa fünf Kilometer entfernt war … Natürlich kam die Armee zuhilfe, doch den ersten Schlag nahmen eben genau die betroffenen Städter:innen auf sich, unter ihnen waren Leute mit militärischer Erfahrung, die schon im Donbas gekämpft hatten.

Und dann ist Schluss mit den Werbetafeln.

Das Auto schlängelt sich durch endlose Panzersperren aus Beton.

Auf der rechten Seite der durch direkten Artilleriebeschuss zerstörte und halb ausgebrannte Intersport-Laden, links an der Kreuzung ist in grosser Höhe noch immer eine Hochspannungsleitung gespannt, an der parallel zueinander zwei Ampeln mit herausgerissenem Innenleben baumeln, und in Fetzen hängen irgendwelche weissen Tücher herunter. Es sieht aus wie ein Spielplatz für Seiltänzer:innen im Zirkus – nur dass dies hier Krieg ist und kein Zirkus.

Wir fahren nach Irpin hinein, eine Stadt, die bis vor kurzem nach Kyjiw die schnellste Entwicklung im Wohnungsbau aufwies und in der mehr als 60 000 Menschen lebten.

Es scheint, als sei hier kein einziges Haus mehr übrig, das man als «ganz» bezeichnen könnte. Zerbrochene oder zersplitterte Scheiben, herausgesprengte Türen, beschädigte Gitter, eine Metallarmatur, klaffende Löcher in den Gebäuden durch direkten Panzerbeschuss, ausgebrannte Wohnungen – die Brandspuren darin sind von weitem zu sehen. Die leeren Fensterhöhlen werden schwarz, manchmal hängt aus so einem Fenster ein verwaister Vorhang heraus, den der Wind aufwirbelt und an der Wand ausbreitet, wie eine Erinnerung an ein vergangenes, vor gerade mal einem Monat noch existierendes Leben. Die Wände selbst sind übersät mit winzigen Splittern von Kugeln und Schrapnellen.

Besonders grausig sieht das alles an den neuen, stylischen neun- und zwölfstöckigen Gebäuden aus.

Auf den Strassen sind praktisch keine Menschen in ziviler Kleidung zu sehen – in der Stadt herrscht totale Ausgangssperre. Bloss Militärfahrzeuge fahren herum, Krankenwagen und städtische Dienste.

Noch immer gibt es weder Licht, Strom, Wasser noch eine Kanalisation. Das Internet funktioniert nur schwach, und auch das nicht überall. Die Leichen haben sie von den Strassen entfernt, doch was einen in den Höfen und Wohnungen erwartet, ist unklar.

Wieder beschleicht einen das Gefühl, sich in einem Filmpavillon zu befinden, wo sie einen Film über einen Angriff auf den Planeten durch hässliche Ausserirdische drehen, deren einziges Ziel es ist, alles, was die Menschen für sich und ihre Kinder aufgebaut haben, sinnlos, grausam und abscheulich zu zerstören. 

Doch dies ist kein Film. Es ist das Werk der Armee meines Landes. Und plötzlich wird mir klar, dass ich das schon einmal gesehen habe.

In Tschetschenien. In den Neunzigern und zu Beginn der nuller Jahre. Die russische Armee machte damals Grosny platt, ebenso sinnlos und grausam, zerstörte den Ort Novye Aldi, trieb in Samaschki Unvorstellbares. (In Novye Aldi, einem Vorort von Grosny, verübte die russische Armee im Februar 2000 ein Massaker an der Zivilbevölkerung; in Samschki ermordeten die russischen Soldaten im April 1995 zahlreiche Zivilist:innen; Anm. d. Red.). Die Omon-Einheit bereicherte sich genauso, sie schickten Teppiche, Gold, Kristall nach Hause oder nahmen sie mit, und bei manchen hingen die marodierten Teppiche sogar direkt an den Checkpoints. Und es gab speziell ausgehobene Gräben, vollgestopft mit Leichen.

In Sweet Home, einer Ansammlung von Häusern im Landhausstil am Rand von Irpin, liegt direkt neben dem Schild mit dem Namen des Städtchens ein verbrannter russischer Panzer. Bei einem Angriff wurde er in einen Haufen verbranntes Metall verwandelt, aus dem die Räder herausschauen, Trümmer, Teile der Panzergleisketten, irgendwelche Zahnräder, Kabel. Spuren der Panzerbesatzung konnte ich nicht entdecken. Möglicherweise sind die Soldaten komplett lebendig verbrannt, bei einem direkten Angriff kann die Temperatur über tausend Grad betragen, womöglich haben die ukrainischen Soldaten die verkohlten Leichen aufgesammelt, und sie liegen in Plastiksäcken im Kühlschrank und warten darauf, in die Heimat geschickt zu werden. Nur die Reste einer zerrissenen, versengten Weste in der Farbe einer alten Moorkröte lagen in der Nähe auf dem Boden herum. Ich habe die Weste von der Erde aufgehoben und sie an die Stange gehängt, an der das Schild mit der Aufschrift «Sweet Home» befestigt ist.

Einfach aus Respekt vor dem Sakrament des Todes.

* Viktoria Iwlewa (66) ist eine mehrfach preisgekrönte russische Fotojournalistin. Nach dem Journalismusstudium in Moskau berichtete sie aus verschiedenen Krisengebieten, darunter aus Ruanda während des Genozids, Bergkarabach, Tschetschenien und später aus dem Donbas. Iwlewa arbeitete unter anderem für die «Nowaja Gaseta» und ist für diverse russische und westliche Publikationen wie den «Guardian», den «Spiegel» und die «New York Times» tätig. 1992 erhielt sie für ihre Geschichte aus dem zerstörten Reaktorblock von Tschernobyl, den sie als einzige Fotojournalistin überhaupt besuchen konnte, den World Press Photo Golden Eye Award. Den vorliegenden Text publizierte Iwlewa auf ihrer Facebook-Seite. 

Aus dem Russischen von Anna Jikhareva.

Von Volodya Vagner (Text und Foto), Lwiw

In Lwiw geht das Leben seinen Gang: Oksana verkauft immer noch Backwerk, das auch weiterhin auf Rädern ausgeliefert wird.

Während in anderen Landesteilen ganze Städte in Schutt und Asche gebombt werden, ist Lwiw vom russischen Angriffskrieg weitgehend verschont geblieben. Der Alltag geht weiter – viele, die ihn mitprägen, kommen aus den verwüsteten Städten.

Die charmanten Strassenbahnen älteren Modells rasseln wie gewohnt durch die Altstadt. Lebensmittelboten mit den bunten Rucksäcken ihrer jeweiligen Lieferdienste warten vor trendigen Restaurants darauf, dass die Bestellungen, die sie per Scooter austragen sollen, fertig werden. In Lwiw geht das Leben seinen Gang, auch wenn sich der Krieg weiterhin lautstark bemerkbar macht: Noch immer heult der Fliegeralarm fast täglich auf. Auch wenn es in der Stadt nur zu vergleichsweise wenigen Raketentreffern gekommen ist, liegt die Gefahr in der Luft.

Für die Menschen in Lwiw ist dieser Zustand in den letzten Wochen zum Alltag geworden. Oksana ist eine Verkäuferin mittleren Alters, die wie viele andere durch den Krieg misstrauisch gestimmt ist und ihren Nachnamen lieber nicht nennen will. «Ich mache mir natürlich Sorgen, dass der Krieg auch uns erreichen kann. Wir machen unsere Arbeit aber weiter wie gewohnt», sagt sie.

«Zu Hause ist wohl nichts mehr übrig»

Oksana blickt aus dem kleinen Fenster einer Strassenbäckerei hinaus. Im Schaufenster liegen süsses Backwerk, armenisches Fladenbrot und georgische Käsetaschen. Hinter Oksana steht ein Kollege und bedient den Ofen. Drinnen ist es warm und riecht lecker, Oksana geniesst aber die frische Luft am Fenster, durch das sie den Verkauf abwickelt. Wo sie beim Fliegeralarm Schutz suche? «Dort drüben», antwortet sie und nickt in Richtung der Sankt-Anna-Kirche auf der anderen Strassenseite. Die Frage, ob denn die Kirche wirklich als sicherer Luftschutzraum betrachtet werden könne, beantwortet sie wortlos, mit einem Blick, der wohl sagen will: Wenn man sich dort nicht sicher fühlen kann, wo denn dann?

In einer Zweigstelle der hippen Cafékette Coffee Labs ein Stück ausserhalb der Innenstadt steht die 19-jährige Barista Jelena hinter dem Tresen. Sie ist eine der rund 200 000 Neuankömmlinge in der Stadt. Sie kam in den ersten Kriegswochen nach Lwiw und stammt eigentlich aus Charkiw, der Grossstadt im Osten des Landes, die schwersten russischen Artilleriebeschuss erlitten hat. Sie arbeitete bereits vor der Flucht neben dem Studium in einem Café. In Lwiw angekommen, fragte sie beim Bestellen eines Kaffees, ob womöglich eine Stelle frei sei, und wurde kurzerhand eingestellt.

Nun besteht eine ihrer Aufgaben darin, das Café bei Fliegeralarm zu räumen, abzuschliessen und die Kund:innen aufzufordern, ihr und ihren Kolleginnen in den Luftschutzraum zu folgen. Welche Gedanken sie sich über die eigene Zukunft machen soll, weiss sie nicht. «Mit dem Krieg sind im Grunde alle Pläne zunichte gemacht worden», sagt sie. «Ich werde wohl erst mal hier in Lwiw bleiben. Zu Hause in Charkiw wird man ja nicht mehr wohnen können, selbst wenn der Krieg endet. Dort ist wohl nichts mehr übrig.»

Auf einem Platz im Zentrum, vor dem Opernhaus, stehen Passant:innen in der Frühlingssonne und hören drei jungen Strassenmusikanten zu. Auf den ersten Blick eine Szene, wie sie sich in jeder europäischen Tourist:innenstadt abspielen könnte. Nur die Stimmung ist irgendwie ernsthafter. Die Band spielt eine instrumentale Version des Hits «Zombie» von den Cranberries. Nachdem die letzte Note verklungen ist, bedankt sich der Violinist Bogdan für den Applaus und bittet die Zuhörer:innen, Geld in die vor ihm liegende Instrumententasche zu legen. Auf der Tasche klebt ein Zettel mit der Aufschrift: «30 Prozent der Einkünfte gehen an die Streitkräfte der Ukraine.» Abschliessend ruft er: «Ehre der Ukraine!», worauf das Publikum, dem nunmehr landesweiten Kampfslogen entsprechend, «Und den Helden Ehre!» antwortet.

«Wir können jetzt nicht aufhören»

Die Band heisst String Mockingbird und besteht aus dem heiteren Bogdan, dem Cellisten Pavlo und dem Schlagzeuger Nikita. Die Musik ist für das Trio nicht nur Hobby, sondern auch Einkommensquelle. Zu Friedenszeiten spielen sie sowohl in den Strassen der Stadt als auch in verschiedenen Clubs. Nikita arbeitet dazu in einer Musikschule und bringt Kindern das Schlagzeugspielen bei. Vor vier Jahren ist er zum Studieren nach Lwiw gezogen – ursprünglich kommt er aus Mariupol. Die südukrainische Hafenstadt liegt inzwischen fast völlig in Schutt und Asche, die humanitäre Situation ist katastrophal. «Die Stadt wird dem Erdboden gleichgemacht. Ob mein Haus noch steht, weiss ich nicht», sagt Nikita.

Für Bogdan ist es eine Selbstverständlichkeit, trotz – oder gerade wegen – der Umstände weiter Strassenmusik zu machen. «Wir spielen, um die ukrainische Moral zu heben. Wir können jetzt nicht aufhören. Alle müssen auf ihre Weise etwas beitragen», erklärt er selbstbewusst. Selbst bei Fliegeralarm würden sie weiterspielen, meint er. «Wir spielen dann einfach traurigere Lieder», ergänzt Cellist Pavlo.

Ein Debattenbeitrag von Olga Baranova*

Gerade in Kriegszeiten offenbart die mediale Berichterstattung grobe Leerstellen, indem sie der Komplexität migrantischer Identitäten nicht gerecht wird. Wie so oft liegt das Grundproblem im fehlenden Perspektivenreichtum.

Derzeit besteht ein öffentliches Bedürfnis nach eindeutigen Identitäten, die fast plakativ für das Gute oder das Schlechte stehen. Im Hinblick auf den Kriegshorror, den der russische Diktator über die Ukraine gebracht hat, ist das vollkommen verständlich: Um den Schrecken irgendwie zu verarbeiten, braucht es Gesichter, Meinungen, Emotionen, Expertise. Medien schaffen damit Identifikations- und Projektionsflächen, damit wir, obwohl unser Lebensalltag oft kaum etwas mit dem 2000 Kilometer östlich von uns stattfindenden Krieg zu tun hat, eine Beziehung zu den Geschehnissen aufbauen können. So funktioniert Berichterstattung.

Das Problem dabei: Oft verkennt diese Berichterstattung die Komplexität der migrantischen Identitäten, mit denen sie nun tagein, tagaus hantiert.

Klappe halten oder schubladisiert werden

Ich stelle das aus einer Betroffenenperspektive fest: Weil meine Herkunft von der Öffentlichkeit als russisch – und zwar oft ausschliesslich russisch – gelesen wird, meine Meinung und mein Auftreten aber gut in die schweizerische Berichterstattung passen (recht logisch, wenn man bedenkt, dass ich eine Schweizerin bin), werde ich regelmässig dazu eingeladen, mich öffentlich zu äussern. Die mir gebotene Bühne löst bei mir stets widersprüchliche Gefühle aus: Einerseits möchte ich als Politikerin aus dem links-progressiven Lager nicht die Gelegenheit verpassen, für Frieden, Menschenrechte und Gerechtigkeit einzustehen. Andererseits muss ich das Risiko eingehen, dass meine Identitäten dieser «Gelegenheit» zum Opfer fallen. Folglich muss ich mich entscheiden: Entweder ich halte die Klappe, in der Hoffnung, dass mich dies in den Augen der Mehrheitsgesellschaft weniger «anders» macht. Oder ich nehme die Einladungen an – und riskiere, als etwas wahrgenommen zu werden, was ich gar nicht bin, nämlich: russisch.

Ob es mir passt oder nicht: Ich stehe in einer Beziehung zu Russland. Ich bin dort geboren und habe dort einen Teil meiner Kindheit verbracht; meine Eltern, die ebenfalls in der Schweiz leben, sind Russ:innen; nicht zuletzt besitze ich (noch) einen russischen Pass und kann mich auf Russisch ausdrücken. Doch bereits hier endet die Liste. Was für Menschen ohne Migrationserfahrung als unverrückbares Kennzeichen einer nationalen Zugehörigkeit rüberkommt, ist für mich selbst von minderer Bedeutung. Viel wichtiger für meine Identität ist zum Beispiel meine starke Bindung zu Deutschland, wo sich meine Grundwerte und mein politisches Interesse entwickelt haben; und, in allererster Linie, mein Leben und mein Engagement in der Schweiz, dem Land, das ich meins nenne. Diese beiden Länder und die Erfahrungen, die ich dort gesammelt habe, spielen eine tausendmal wichtigere Rolle für das, was ich heute bin, als mein Geburtsland.

Meine beste Freundin, selbst eine Seconda, die die Herkunft ihrer Eltern noch prominenter als ich trägt, schimpft, wenn ich Medienanfragen mit Bezug zu Russland annehme: «So betonierst du doch nur ein russisches Bild von dir.» Also verhandle ich vor jedem Auftritt: Wie werde ich erwähnt (als Schweizerin)? Für wen spreche ich (für mich selbst)? Welche Information über mich ist am relevantesten (meine Parteizugehörigkeit und mein Job)? Oft klappt das, doch manchmal finde ich mich mit den verzerrtesten Darstellungen meiner selbst wieder (wie unlängst im «Tages-Anzeiger», wo ich der «russischen Diaspora» zugeschrieben wurde: Blöd nur, dass weder ich noch die russische Diaspora davon etwas wissen).

Warum das so wichtig ist, für mich, meine beste Freundin und sehr viele andere Menschen: Wir stehen immer vor der Gefahr, dass uns die Legitimität als Schweizer:innen genommen wird. Wenn ich über die Schwierigkeiten der Digitalisierung der Schweizer Verwaltung erzähle oder über meinen Schmerz über die russische Invasion in der Ukraine: Ich tue beides aus der gleichen Identität heraus. Doch ich gehe stets das Risiko ein, in diesen beiden Situationen anders vermittelt zu werden, der Einfachheit, des Effektes wegen. Was dies anrichtet, dessen sind sich die wenigsten Medien bewusst. Schliesslich gilt auch in der Schweizer Medienwelt, womit wir jeden Tag in der Politik zu kämpfen haben: Es gibt eine himmelschreiende Unterrepräsentierung der Menschen mit Migrationsgeschichte. Ein Missstand, der eine ungenügende Sensibilisierung für die Komplexität migrantischer Identitäten mit sich bringt.

Ich habe mich entschieden, weiterhin öffentlich aufzutreten und gleichzeitig meine Identitäten zu verteidigen. Ohne Entweder-oder, egal wie komplex das auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Migration nimmt so viel: Selbstverständlichkeit, Netzwerk, Familie, bisweilen auch das Gefühl, irgendwo auf der Welt ein «richtiges» Zuhause zu haben. Manchmal gibt sie aber auch ungeahnte Ressourcen: zum Beispiel die Gestaltungskraft, die ein reicher Perspektivenschatz mit sich bringt.

In der Welt, die sich zwischen Klimakatastrophe, Kriegen und globaler Ungleichheit immer deutlicher abzeichnet, wird es von uns Migrant:innen nicht weniger geben, sondern mehr. Und jede:r von uns wird auch in Zukunft ein Set an Identitäten mitbringen: in die Wirtschaft, die Politik und die Medien unserer Länder.

Der Kampf um die Anerkennung dieser Komplexität hat begonnen.

* Olga Baranova (31) ist Genfer SP-Politikerin. Sieben Jahre lang war sie Gemeinderätin, hat zehn Jahre als Parteisekretärin gearbeitet und war dann Kampagnenleiterin der «Ehe für alle»-Initiative. Seit letztem Jahr ist Baranova Geschäftsleiterin des parteiunabhängigen Vereins CH++, der sich für mehr Wissenschaft und Digitalisierung in der Politik einsetzt.

Während sie in der europäischen Asylpolitik lange als unzertrennlicher Block auftraten, haben die vier Länder der Visegrad-Gruppe gegenüber Russland unvereinbare Positionen. Für Europas Linke ist das eine Chance.

Jaroslaw Kaczynski, gegenwärtig stellvertretender Ministerpräsident und mächtigster Politiker Polens, und Viktor Orban, frisch wiedergewählter Ministerpräsident Ungarns, teilen viele Gemeinsamkeiten. Beide suchen die offene Konfrontation mit der EU bezüglich der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, und beide stehen seit Jahren für absolute migrationspolitische Härte ein. Nun aber zeichnet sich ein Bruch zwischen ihren Ländern ab, der letztlich gesamteuropäische Konsequenzen haben könnte.

Das wurde etwa letzten Freitag deutlich, als Kaczynski während eines Radiointerviews den ungarischen Präsidenten heftig kritisierte: «Ich muss zugeben, das ist alles sehr traurig», sagte der 72-Jährige. «Wenn Orban sagt, dass er nicht sehen kann, was in Butscha passiert ist, muss man ihm raten, einen Augenarzt aufzusuchen.» Kaczynski nahm damit Bezug auf Orbans Verzicht, Russland wegen des Massakers in Butscha zu verurteilen: Weil wir «in einer Zeit der Massenmanipulation» lebten, müsse man zuerst die Ergebnisse einer Untersuchung abwarten, hatte Orban an einer Pressekonferenz gesagt.

Schon zuvor hat die prorussische Haltung der ungarischen Regierung für Misstöne in Mitteleuropa gesorgt, wo Polen, Ungarn, die Slowakei (alles Nachbarländer der Ukraine) und Tschechien in der sogenannten Visegrad-Gruppe eigentlich eng zusammenarbeiten. Ende März setzte die tschechische Verteidigungsministerin Jana Cernochova einen bemerkenswerten Tweet ab, in dem sie die kurzfristige Absage ihrer Teilnahme an einem Treffen der Visegrad-Gruppe in Budapest begründete. «Angesichts der bevorstehenden Wahlen in Ungarn ist es nicht richtig, jetzt dorthin zu reisen und so Teil der dortigen Kampagne zu werden», schrieb Cernochova. «Es tut mir leid, dass für ungarische Politiker billiges russisches Öl wichtiger ist als ukrainisches Blut.» Kurz darauf sagte auch der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak seinen Besuch ab, das Treffen fiel endgültig ins Wasser.

Die Visegrad-Gruppe, 1991 ins Leben gerufen, hat in den letzten Jahren als eine Art kollektive Interessenvertretung der vier Länder innerhalb der EU gewirkt. Völlig zu Recht stand sie wegen ihrer unnachgiebigen und unsolidarischen Haltung bei der Aufnahme von Geflüchteten, die eine komplette Blockade in der europäischen Asylpolitik mit sich brachte, in der Kritik. Wohl nicht zuletzt deshalb hat man die vier Staaten im westlichen Europa – auch in der Schweiz – meist völlig vereinfacht als geeinten Block wahrgenommen.

Dabei sind die Bruchlinien seit mehreren Jahren unübersehbar. Und Russlands Krieg gegen die Ukraine, beziehungsweise Orbans Putin-freundliche Haltung, könnte die Visegrad-Gruppe nun endgültig sprengen. Denn diese steht im grossen Widerspruch zur strikten und offensiv formulierten Verurteilung Russlands in Polen, Tschechien und – wenn auch etwas weniger vehement vorgetragen – in der Slowakei.

Schon länger belasten auch Differenzen bezüglich der Beziehungen zur EU die Visegrad-Gruppe. Während Ungarn und Polen in den letzten Jahren auf Konfrontationskurs mit Brüssel gingen und rechtsstaatliche Prinzipien über Bord warfen, sind in der Slowakei und in Tschechien derzeit proeuropäische Regierungen an der Macht. Ob und in welcher Verfassung die Visegrad-Gruppe die neuste Belastungsprobe übersteht, ist fraglich. Eine Schwächung wäre aus einer linken Perspektive durchaus zu begrüssen, weil die einzelnen Länder künftig differenziertere, teils progressivere Positionen beziehen könnten. Und bestenfalls würde damit auch der westeuropäische Blick auf den vermeintlichen Staatenblock ein Update erfahren.

Die Solidarität mit der Ukraine lässt manche Linke derzeit in eine unkritische Nähe zu den Institutionen westlicher Machtpolitik rücken. Was es jetzt aber braucht, ist ein neuer Internationalismus, der sich geopolitischen Ränkespielen entzieht und die Kämpfe gegen globale Ausbeutungsmechanismen vereint.

Kaum jemand repräsentiert die Diskursverschiebung seit Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine so emblematisch wie Paul Mason. Der linke britische Publizist, der sich als junger Mann in einer trotzkistischen Organisation politisierte und später als BBC-Journalist einen Namen machte, veröffentlichte 2015 mit «Postkapitalismus» ein viel beachtetes Manifest zur Überwindung des Kapitalismus. Er engagierte sich in der Labour Party, als Jeremy Corbyns Momentum-Bewegung das sozialdemokratische Partei-Establishment stürzte, identifizierte in «Klare, lichte Zukunft» (siehe WOZ Nr. 22/19) die autoritäre Achse der Staatschefs Trump, Putin und Xi als zentrale Bedrohung für die Menschheit und wirbt seither für einen «revolutionär-reformistischen» Antifaschismus zur Verteidigung sozialer und demokratischer Grundrechte.

Der Umstand, dass Mason sich nicht (wie andere Linke) auf den geopolitischen Konflikt der Grossmächte kaprizierte, sondern die innenpolitischen Entwicklungen in den USA, Russland und China und damit auch die autoritären Gemeinsamkeiten dieser Länder in den Blick nahm, erlaubte es ihm, Russlands Politik schneller zu durchschauen als viele andere. Unmittelbar vor Kriegsausbruch reiste Mason in die Ukraine und traf sich dort mit linken Gruppen, von denen sich mittlerweile viele dem bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung angeschlossen haben. Nicht zuletzt unter diesem Eindruck fordert Mason Waffenlieferungen und propagiert ein neues Verhältnis der Linken zur Nato. Aus seiner Sicht müssen «die Demokratien» den Krieg gegen Putins Autoritarismus unbedingt gewinnen; auch militärisch. Vom Antikapitalismus über den Antifaschismus zur westlichen Wertegemeinschaft inklusive Nato.

Auch wenn im Augenblick viele Linke vergleichbare Volten hinlegen, ist das eine Bankrotterklärung. Eine Linke, die sich das uralte antikommunistische Narrativ zu eigen macht, wonach der Kampf zwischen Ost und West identisch ist mit jenem zwischen Diktatur und Freiheit, macht sich überflüssig.

Doch andererseits ist es auch nicht so einfach, Mason zu widersprechen. Und zwar nicht deshalb, weil man sich zum Ziel wütender Angriffe macht, wenn man weiterhin daran erinnert, dass die Geschichte «des Westens» vor allem die einer imperialistischen Beutegemeinschaft ist. Das viel grössere Problem ist, dass eine linke Kritik «des Westens» den Dialog mit denen erschwert, die im Augenblick eigentlich unsere wichtigsten Verbündeten sein sollten: mit denjenigen, die in den postsowjetischen Gesellschaften gegen die autoritären Regimes und für Gleichheit, Freiheit, Solidarität aufbegehren.

Paul Masons Position hat den entscheidenden Vorteil, dass diejenigen, die in der Ukraine, in Kasachstan oder Russland mit dem System Putin konfrontiert sind, mit ihr etwas anfangen können: Wer in Charkiw im Bunker oder in Moskau im Gefängnis sitzt, fände es vermutlich ganz gut, zur «westlichen Wertegemeinschaft» zu gehören.

Dieses Argument sollten wir vom Kopf auf die Füsse stellen: Der entscheidende Fehler der «westlichen Linken» in den letzten Jahren war nicht, die Nato kritisiert zu haben, sondern Russland durch die geopolitische Brille gelesen und damit die innerrussischen Herrschaftsverhältnisse unsichtbar gemacht, ja legitimiert zu haben. Diese Haltung war das Gegenteil von internationaler Solidarität: Statt sich auf die Menschen zu beziehen, die in postsowjetischen Oligarchien Widerstand leisten, haben sich die meisten Linken ins geopolitische Ränkespiel einsortiert.

Das muss anders werden, aber wie? Eine erste Voraussetzung dafür wäre ganz sicherlich ein Minimum an Empathie. Zuhören statt Westsplaining. Denn die Kommunikationslosigkeit hat auch damit zu tun, dass die Opposition in postsowjetischen Gesellschaften ganz andere Prioritäten setzt. Eigentlich ist nicht besonders schwer zu verstehen, warum. In von postkommunistischen Geheimdiensteliten (und von neureichen Konzerneigentümern) beherrschten Staaten, in denen der Stalinismus manche gesellschaftlichen Strukturen bis heute prägt, wird man mit roten Fahnen wenig anfangen können und sich stattdessen primär um Freiheitsrechte kümmern, die es einem überhaupt erst erlauben, zu sprechen und sich zu organisieren. Ein Anliegen, das sich aus «westlicher» Sicht mit dem Programm des bürgerlichen Liberalismus zu decken scheint: Gewaltenteilung, Korruptionsbekämpfung, die Einhegung von Gangsterpraktiken, Menschenrechte …

Die zweite Voraussetzung für einen neuen Internationalismus wäre, sich in Erinnerung zu rufen, worauf die linke Kritik am Liberalismus ursprünglich hinauswollte. Sie richtete sich nämlich nicht gegen Grundrechte, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit, sondern dagegen, dass der Liberalismus seine Freiheiten sehr ungleich verteilte und vielen ganz vorenthielt. So entpuppt sich der klassische Liberalismus bei genauerer Betrachtung als, wie es der kanadische Politologe C. B. Macpherson vorgeschlagen hat, «Theorie des Besitzindividualismus» und die westliche Aufklärung ausserhalb Europas als Instrument zur Durchsetzung kolonialer Herrschaftsansprüche. Der Liberalismus hat nach innen für Ungleichheit und damit auch Unfreiheit gesorgt, der Westen nach aussen Sklaverei und Genozid produziert.

Gegen die Bastionen des Autoritarismus

Gerade in diesen Tagen, da die Erzählung von der demokratischen Staatengemeinschaft auch ansonsten kritischen Menschen so selbstverständlich über die Lippen geht, muss daran erinnert werden, dass viele der Errungenschaften, die heute als «liberal» gelten, gegen den Liberalismus seiner Zeit und gegen den bürgerlichen Rechtsstaat erkämpft werden mussten. Die Frauenemanzipation wurde von Feministinnen und Suffragetten durchgesetzt, das allgemeine Wahlrecht ging aufs Konto der Arbeiter:innenbewegung, und für die Abschaffung der Sklaverei sorgten aufständische Sklav:innen – und nicht etwa die Väter der US-Verfassung, von denen so mancher selbst ein Sklavenhalter war.

Ist diese Unterscheidung zwischen den freiheitlichen Errungenschaften, die man gegen autoritäre Bewegungen verteidigen muss, und «dem Westen», den wir nicht verteidigen sollten, nicht eine Spitzfindigkeit, die in Anbetracht des Krieges niemanden interessiert? Geht es für die Menschen in Osteuropa nicht einfach darum, das System Putin zu stoppen – egal mit wem und welchen Mitteln? In Kyjiw oder in Moskau wird man das zu Recht so sehen. Aber für diejenigen, die sich wie Paul Mason den Kopf darüber zerbrechen, mit wem Freiheitsrechte und demokratische Mindeststandards verteidigt werden sollten, wird die Frage schneller wieder relevant werden, als wir es uns wünschen. Weder die westliche Staatengemeinschaft noch die Nato sind Garanten der politischen und sozialen Errungenschaften. Das Demokratische und seine Freiheiten wurden dem politischen System in gesellschaftlichen Kämpfen aufgezwungen und können auch nur gesellschaftlich verteidigt werden. Armeen und Sicherheitsapparate hingegen waren und sind überall Bastionen des Autoritarismus – sie sind die denkbar schlechtesten Verbündeten bei der Verteidigung von Grundrechten. Nach einem Wahlsieg Le Pens oder einem erneuten Trumps würden sich viele dessen erschrocken wieder bewusst werden. Dann würde sich die Frage, welche Armee und welche Staatsführung die Freiheiten gerade am stärksten bedroht, schon wieder ganz anders darstellen.

Nein – was heute fehlt, ist nicht der gegen Russland oder China gerichtete Schulterschluss mit dem Westen, sondern eine neue Internationale derjenigen, die auf ganz unterschiedliche Weise und noch ohne gemeinsame Sprache gegen den Autoritarismus und gegen die in China, Russland, den USA und der EU überall exorbitant gewachsene soziale Ungleichheit aufbegehren.

Eine klare Mehrheit der Parteien fordert vom Bundesrat, den Uno-Atomwaffenverbotsvertrag endlich zu ratifizieren. Das zuständige Aussendepartement spielt aber lieber auf Zeit.

Der Krieg gegen die Ukraine hat die Atomwaffenfrage wieder ins Zentrum der globalen sicherheitspolitischen Debatten gerückt. Russland verfügt über knapp 6000 nukleare Sprengköpfe, und Präsident Wladimir Putin signalisierte relativ unverhohlen, diese gegebenenfalls einsetzen zu wollen.

Vor einer solchen nuklearen Eskalation und deren fatalen Folgen warnen Dutzende Länder, vor allem im Globalen Süden, schon lange – zusammen mit unzähligen NGOs und Aktivist:innen. Mit dem Ziel, einen Atomkrieg zu verhindern, ist 2007 die Internationale Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (Ican) gegründet worden. Sie hatte Erfolg: 2017 verabschiedete die Uno-Generalversammlung den sogenannten Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW). 122 Staaten stimmten dafür, darunter auch die Schweiz. Für ihren Einsatz erhielt die Ican damals den Friedensnobelpreis.

Mittlerweile haben sechzig Staaten den TPNW ratifiziert, unter ihnen die drei europäischen Länder Österreich, Irland und Malta. Seit 2021 ist er offiziell in Kraft. Doch ausgerechnet in der Schweiz, die sich so gerne ihrer humanitären Tradition rühmt, sträubt sich der Bundesrat bislang gegen die Unterschrift.

Was sagen dazu eigentlich die Parteipräsident:innen? Nachgefragt zuerst bei der SVP, die den TPNW ablehnt. Marco Chiesa argumentiert, dass der Vertrag die geostrategischen Realitäten ausblende: Nuklearwaffen würden eine wichtige Rolle in der Sicherheitsdoktrin vieler Staaten spielen, darunter die USA, China und Russland. Diese würden den Vertrag kaum je unterzeichnen. Dann offenbart er eine verblüffende Ignoranz: «Bezeichnenderweise haben bislang nur Belize, Malta, Moçambique, Niger, Sudan und Simbabwe unterschrieben», weshalb es sich beim Atomwaffenverbot um «linke Symbolpolitik» handle. Das ist absolut falsch. Die genannten sechs Staaten haben den TPNW alle im Jahr 2020 ratifiziert, vielleicht ist der SVP-Präsident bei einer Suchmaschinenabfrage auf diese Länderliste gestossen. Als die WOZ ihn mit der falschen Darstellung konfrontiert, folgt Schweigen.

Nicht ablehnend, aber kritisch-zurückhaltend ist die Position der FDP unter Parteipräsident Thierry Burkart. Auf Anfrage schreibt dieser, dass der Atomwaffensperrvertrag (NPT) «der Eckpfeiler der nuklearen Rüstungskontrollarchitektur ist und bleibt». Gemäss diesem von den offiziellen Atommächten (USA, Russland, China, Grossbritannien und Frankreich) initiierten und 1977 von der Schweiz ratifizierten Vertrag dürfen Staaten ohne Atomwaffen niemals solche anschaffen, während die Staaten mit Atomwaffen sich zur Abrüstung verpflichten. Gerade in jüngster Zeit kommen die Atommächte dieser Verpflichtung aber nicht nach. Im Gegenteil: Allesamt stecken Milliarden in die «Modernisierung» ihrer nuklearen Waffenarsenale (siehe WOZ Nr. 10/21).

Deutliche Worte von der GLP

Burkart bezieht sich auf jene Argumentationslinie, die auch sein Parteikollege im Bundesrat, Aussenminister Ignazio Cassis, offiziell vertritt. Passend dazu hat sich Burkart letzte Woche medienwirksam für eine engere Kooperation der Schweiz mit der Nato ausgesprochen: Das westliche Militärbündnis lehnt den TPNW vehement ab, weil sein militärisches Kernkonzept in der nuklearen Abschreckung besteht.

Demgegenüber fordern die Mitte-Partei, die GLP, die SP und die Grünen – und damit die klare Parlamentsmehrheit – den Bundesrat auf, den TPNW endlich zu ratifizieren. Und zwar schon seit fünf Jahren, als beide Kammern eine Motion des heutigen SP-Ständerats Carlo Sommaruga annahmen. Immer wenn es um die Atomwaffenverträge NPT und TPNW geht, verweist der Bundesrat aber auf Konferenzen und Neubeurteilungen, die es zu berücksichtigen gelte. Kurz: Er spielt auf Zeit und scheut sich, klar Position zu beziehen.

Bei den befürwortenden Parteien kommt das nicht gut an. Die deutlichsten Worte findet GLP-Präsident Jürg Grossen: «Wir können die abwartende Haltung des Bundesrats in diesem Zusammenhang nicht verstehen. Der Bundesrat schläft in allen international wichtigen Dossiers seit Jahren. Keine Leadership, keine Haltung.» Wo er recht hat, hat er recht.

Ein Debattenbeitrag von Gilbert Achcar*

Wie sich Arbeiter:innen weltweit zum Krieg gegen die Ukraine positionieren sollten. Ein Gedankenspiel.

Stellen wir uns einmal vor, die USA marschieren – wie sie das unter Donald Trump eine Zeit lang erwogen haben – in Venezuela ein. Russland entscheidet sich deshalb dazu, der Regierung von Nicolás Maduro Waffen zu liefern, um ihr im Kampf gegen die Invasoren zu helfen. Die US-Truppen stossen in den Stadtquartieren von Venezuela und auf dem Land auf erbitterten Widerstand. In Kolumbien haben Verhandlungen zwischen Washington und Caracas begonnen, während Washington die venezolanische Regierung zu Kapitulation und Unterwerfung zu zwingen versucht.

Die hier beschriebene Situation ist die eines von Venezuela geführten gerechten Krieges gegen eine US-imperialistische Invasion vor dem Hintergrund eines fortdauernden Konflikts zwischen den Ansprüchen eines US- und eines russischen Imperialismus. Es sei denn, man glaube, Russland sei kein imperialistisches Land. Das hiesse aber wiederum, nicht von einer materialistischen Analyse auszugehen, sondern von einer politischen Definition von Imperialismus, wonach bloss «westliche Staaten» imperialistisch sein können.

Stattfinden würde der venezolanische Verteidigungskrieg vor dem Hintergrund eines anhaltenden Konflikts zwischen dem US-amerikanischen und dem russischen Imperialismus. Venezuelas gerechter Krieg wäre daher zugleich ein «Stellvertreterkrieg» zwischen zwei imperialistischen Mächten – so wie die meisten Konflikte im Kalten Krieg, etwa der Korea- und der Vietnamkrieg, nationale Befreiungskriege wie auch «Stellvertreterkriege» zwischen Washington und Moskau waren. 

Was wäre nun die richtige Position für internationalistische Antiimperialist:innen? Sofern man kein absoluter Pazifist ist, der daran glaubt, «die andere Wange hinzuhalten», müsste man Waffenlieferungen an den venezolanischen Widerstand unterstützen, die ihn in die Lage versetzen würden, seine Bevölkerung zu verteidigen – und eine Position zu erringen, von der aus sich seine Kapitulation vermeiden und der Preis, den man in Verhandlungen zu zahlen haben würde, verringern liesse. 

Zu sagen, man unterstütze den venezolanischen Widerstand, lehne aber sowohl russische Waffenlieferungen an die Maduro-Regierung als auch wirtschaftlichen Druck auf die USA ab, würde zu Recht als unseriös angesehen werden. Man würde zwar Unterstützung behaupten, den Venezolaner:innen aber Mittel vorenthalten, sich zu wehren, und sich selbst weigern, Druck auf den Aggressor auszuüben.

Bestenfalls wäre das eine völlig inkonsistente Haltung, im schlimmsten Fall aber eine heuchlerische. Hinter dem Vorwand, dem gerechten Widerstand der Venezolaner:innen Erfolg zu wünschen, würde sich Gleichgültigkeit verbergen: gegenüber dem Schicksal der Menschen in Venezuela, die als Opferlämmer auf dem Altar des Antiimperialismus behandelt würden.

Die Leser:innen werden natürlich verstanden haben, dass in der obigen Allegorie Venezuela für die Ukraine und der US-Imperialismus für sein russisches Gegenstück stehen. Dies führt uns wieder zurück zur grundlegenden Unterscheidung zwischen einem direkten Krieg zweier imperialistischer Länder, in dem jede Seite sich einen Teil der Welt unter den Nagel zu reissen versucht, wie das klassischerweise im Ersten Weltkrieg der Fall war, und dem Angriff einer imperialistischen Macht auf ein nicht-imperialistisches Land. Dieses wird von einem anderen imperialistischen Land unterstützt, das es als Stellvertreter in einer Rivalität zwischen den Imperialisten benutzt.

Im ersten Fall verlangt der proletarische Internationalismus, dass die Arbeiter:innen – darunter auch die Soldat:innen als Arbeiter:innen in Uniform – sich auf beiden Seiten dem Krieg widersetzen, indem sie sich jeweils gegen den Krieg der eigenen Regierung wehren, selbst wenn dies zu deren Niederlage beitragen würde (das ist die Bedeutung von «revolutionärem Defätismus»). 

Im zweiten Fall ist revolutionärer Defätismus nur von den Arbeiter:innen und Soldat:innen des imperialistischen Aggressorstaats gefordert, und zwar auf eine sehr viel aktivere Weise als bloss indirekt. Von ihnen wird verlangt, die Kriegsmaschinerie ihres Landes zu sabotieren. Auf der anderen Seite haben Arbeiter:innen der unterdrückten Nation jedes Recht und jede Pflicht, ihr Land und ihre Familien zu verteidigen, und sie müssen von Internationalist:innen weltweit dabei unterstützt werden.

«Da da tan tan»

Den Ukrainer:innen Mitgefühl auszusprechen und so zu tun, als interessiere man sich für ihr Schicksal, weil man Verhandlungen unterstützt und abstrakt für «Frieden» eintritt – welchen Frieden? –, ist eine Haltung, die ukrainische Sozialist:innen zu Recht als heuchlerisch ansehen. Die ukrainische Regierung steht schon seit Wochen in Verhandlungen mit der russischen Seite, die von der Türkei – also einem Nato-Mitglied – organisiert werden und auf deren Territorium stattfinden. 

Die meisten Nato-Regierungen wiederum unterstützen die Verhandlungen, weil sie auf ein Ende des Kriegs erpicht sind, bevor die globalen ökonomischen Auswirkungen zu einer unumkehrbaren Katastrophe führen. Es ist also sicherlich nicht so, als würde sich eine Seite weigern zu verhandeln. 

Es braucht indes nicht viel Expertise in Kriegsgeschichte, um zu verstehen, dass Verhandlungen vom Kräfteverhältnis abhängen, das auf dem Schlachtfeld erreicht wird. Chinesinnen und Vietnamesen haben in dieser Hinsicht viel Erfahrung, zusammengefasst im berühmten Mao-Spruch «da da tan tan» («kämpfen, kämpfen, reden, reden»).

Wer die Position der Ukraine in den Verhandlungen über ihr eigenes nationales Territorium unterstützen will, muss ihren Widerstand und ihr Recht unterstützen, sich die Waffen zu besorgen, die sie zu ihrer Verteidigung braucht – von jedem, der solche Waffen hat und bereit ist, sie zu liefern.

Der Ukraine das Recht auf solche Waffen zu verweigern, ist im Grunde eine Aufforderung zur Kapitulation. Angesichts eines bis an die Zähne bewaffneten und äusserst brutalen Angreifers bedeutet das in Wahrheit Defätismus auf der falschen Seite und kommt praktisch einer Unterstützung des Aggressors gleich.

* Gilbert Achcar (70) ist Professor für Entwicklungspolitik und Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies der Universität London. Sein nächstes Buch trägt den Titel «The New Cold War: Chronicle of a Confrontation Foretold». Der vorliegende Text ist zuerst bei «New Politics» erschienen.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva

Ein Gastbeitrag von Franz Hohler

«Wie geht’s?», fragte die Trauer die Hoffnung. «Ich bin etwas traurig», sagte die Hoffnung. «Hoffentlich», sagte die Trauer.

Wir wurden alle überrascht, zuerst von der Pandemie, dann von diesem Krieg, der sich wie Saharastaub vom Himmel in unsere Gemüter senkt und uns hilflos und sprachlos macht. Die Dichter allerdings haben es schon gewusst. 1778 hat Matthias Claudius geschrieben:

's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel, wehre / Und rede du darein! / 's ist leider Krieg, und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen / Und blutig, bleich und blass / Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen / Und vor mir weinten, was?

Wenn tausend, tausend Väter, Mütter, Bräute / So glücklich vor dem Krieg / Nun alle elend, alle arme Leute / Wehklagten über mich?

Es war, als er das schrieb, gerade kein Krieg, aber bald darauf sollte ein grössenwahnsinniger General, der sich zum Kaiser Frankreichs krönen liess, ganz Europa mit Krieg überziehen. Auch 1911, als der expressionistische Dichter Georg Heym sein Gedicht «Der Krieg» schrieb, war der grosse Krieg noch nicht ausgebrochen, aber sein Gedicht war wie eine Alarmsirene:

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief / Aufgestanden unten aus Gewölben tief / In der Dämmrung steht er, gross und unbekannt / Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit / Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit / Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis / Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiss.

Über hundert Jahre ist es alt, dieses Gedicht, und es könnte von heute sein.

Der Krieg begleitet die Menschheitsgeschichte wie ein Gespenst, und immer wieder wird unsere Hoffnung, es sei nun zu Ende mit ihm, zerschlagen. Zwei Weltkriege hatte das letzte Jahrhundert für uns bereit, dann kam der Ungarnaufstand, dann kam der russische Einmarsch in die Tschechoslowakei, dann kamen die Balkankriege, und nun hat ein grössenwahnsinniger ehemaliger Geheimdienstoffizier den Befehl gegeben, die Ukraine zu überfallen.

Und zu unserm Entsetzen über das, was dieser Angriff auf die Zivilbevölkerung anrichtet, gesellt sich die Angst, der Krieg könnte sich ausweiten, schon hören wir die Drohung, man könne auf Atomwaffen zurückgreifen, und die Nachricht, dass das havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl zum Kriegsobjekt geworden ist, weckt die Angst vor dem atomaren Fallout von 1986 wieder auf.

Und wir wissen, dass der Krieg nicht nur aus dem Abschiessen von Bomben und Granaten besteht, sondern dass er noch an ganz anderen Fronten stattfindet, dass Öl und Gaspipelines stillstehen, dass Getreidelieferungen ausbleiben, auf welche Länder von Syrien bis Kenia angewiesen sind, dass er dort die Preise in die Höhe treibt, sodass sie für die Armen unerschwinglich werden, dass er an Orten, die weit vom Geschützdonner entfernt sind, Hunger und Elend verursacht. Es gibt keine lokalen Konflikte mehr. Auch der Krieg hat die Lektion der Globalisierung gelernt.

Und zu den schwer erträglichen Bildern von schutzsuchenden Menschen, die Bombardierungen und Artilleriefeuer ausgesetzt sind, kommt der Gedanke an die Tragödie all der jungen Menschen, die als Soldaten in einen Krieg geschickt werden, den man gar nicht bei seinem Namen nennen darf, denn dass Krieg ist, erkennt man auch daran, dass Wörter verboten werden.

Ich lasse eine Dichterin sprechen und singen, die diesen jungen Menschen ein Lied gewidmet hat, die kanadische Indigene Buffy Sainte-Marie, «The Universal Soldier», ich habe das Lied in die Mundart übersetzt, «Der ewig Soldat»:

Är isch einedrissgi und isch noni zwänzgi gsi / är het helli Hutt und dunkli Hoor / är kämpft mit Rageete und er kämpft mit em Speer / und isch Soldat scho sit tuusig Johr.

Är isch katholisch und isch Hindu / är isch Moslem und isch Jud / als Bueb isch er Mässdiener gsi / Är weiss, är sett nid töde / und är weiss, är tödet glych / und zwar di für mi und mi für di.

Und är kämpft für Ängland / und är kämpft für d Türkei / und är kämpft für d USA / und är kämpft für Russland / und är kämpft für d Ukraine / dass der Chrieg es Änd sell ha. 

Und är kämpft für d Tyranne / und für d Demokratie / und seit, eso gebs Friede im Land. / Är isch dä, wo mues entscheide / wär darf läbe und wär stirbt / und är isch blind für d Schrift a der Wand.

Doch der Caesar wär elei gsi ohni ihn / und was hätt ächt der Hitler gmacht? / Numen är git si Körper als Waffe füre Kampf / ohni ihn fallt ke Bombe i der Nacht.

Är isch der ewig Soldat / worum folgt er au so guet? / Der Befähl für ihn chunnt nid vo niene här / är chunnt vo ihm, vo dir und mir / und mir alli dänke z weni / wie ne Wält ohni Chrieg würklech wär. 

Am Schluss des Liedes wird auch die bange Frage aufgeworfen, ob wir denn am Ende etwas zu tun haben könnten mit diesem Krieg – und haben wir nicht gehört, dass «Nord Stream 2» in Zug zu Hause ist, oder war, und dass ein grosser Teil des gesamten Rohstoffhandels über Firmen in der Schweiz laufe, deren Namen wir noch nie begegnet sind?

Und schon werden die Menschen von den Wellen des Krieges zu Tausenden in unser Land gespült, und wieder einmal sind wir aufgerufen zu Grosszügigkeit und Hilfsbereitschaft. Mindestens etwas, das wir tun können.

Ich war mehr als einmal in der Ukraine, meine Kindergeschichten wurden auf Ukrainisch übersetzt, ich habe ukrainische Freunde, sie sind bestürzt und fassungslos über das, was ihrem Land angetan wird. Einige meiner Bücher wurden ins Russische übersetzt, und ich habe auch russische Freunde, in Russland und der Schweiz, und sie alle sind bestürzt und fassungslos über das, was in der Ukraine geschieht. Wir dürfen die russischen Menschen nicht bestrafen für das, was ihr grössenwahnsinniger Präsident tut.

Der Krieg. Aufgestanden ist er, welcher lange schlief …

Aber jetzt, wo er erwacht ist, wird er von ganz Europa empfangen wie ein alter Bekannter, mit dem Ruf: «Aufrüsten, sofort!»

«Wie geht’s?» fragte die Trauer die Hoffnung. «Ich bin etwas traurig», sagte die Hoffnung. «Hoffentlich», sagte die Trauer.

Von Volodya Vagner (Text und Foto), Lwiw

«Wir liefern alle möglichen Hilfsgüter – Handtücher, Socken, Lebensmittel, Kinderschuhe, Insulin»: Gewerkschaftschef Wasyl Andrejew.

Eine Begegnung mit dem Vorsitzenden der ukrainischen Bau- und Industriegewerkschaft Profbud. Die Organisation hat viele neue Aufgaben. Und das Geld wird knapp.

Normalerweise sitzt Wasyl Andrejew im Kiewer Büro der rund 60 000 Mitglieder starken ukrainischen Bau- und Industriegewerkschaft Profud. Andrejew ist ihr Vorsitzender. Seit Beginn der russischen Invasion Ende Februar ist das Haus der Gewerkschaften, strategisch gelegen am Unabhängigkeitsplatz, dem symbolischen Herzen der Ukraine, jedoch unzugänglich. Aber auch im imposanten Gewerkschaftshaus in Lwiw, wo er nun ein Ersatzbüro hat, ist Andrejew nicht ständig anzutreffen.

«Dieser Tage sitze ich viel hinterm Lenkrad und fahre quer durchs Land», erzählt er. «Dabei besuche ich unter anderem die verschiedenen Transitunterkünfte für Geflüchtete, die in unseren gewerkschaftlichen Ausbildungsstätten etwa in Chmelnyzkyj und Winnyzja eingerichtet worden sind.»

Andrejew sitzt im kleinen Innenhof eines Cafés und schenkt Tee ein. «Wenn ich nicht gerade durch die Gegend fahre, dann besteht ein Grossteil meines Arbeitstags daraus, unsere humanitäre Arbeit aus der Entfernung zu koordinieren», berichtet er weiter. Gut die Hälfte der jetzigen Arbeit des Gewerkschaftsapparats bestehe aus humanitären Anstrengungen wie der Organisation von Hilfsgütern.

«Dabei geht es um alles Mögliche: Handtücher, Socken, Lebensmittel, Kinderschuhe, Insulin.» Eine Gruppe Jugendlicher etwa konnte bei ihrer Evakuierung aus einer Charkiwer Berufsschule nichts mitnehmen. In erster Linie geht die Hilfe an die eigenen Gewerkschaftsmitglieder und deren Familien, aber auch an andere Menschen in Not.

Der Krieg bringt aber auch eine ganze Reihe von arbeitsrechtlichen Problemen mit sich, die eigentlich gewerkschaftliche Aufmerksamkeit erfordern: «Viele Menschen erhalten seit Februar keinen Lohn mehr. Arbeitgeber haben ihre Büros geschlossen und sind verschwunden, die Angestellten stehen ohne Einkommen da.» Die Gewerkschaft versucht, solche Fälle zu dokumentieren, und drängt bei staatlichen Stellen darauf, dass Löhne weiter ausgezahlt werden. «Sonst haben die Menschen bald kein Geld mehr, um sich Lebensmittel zu kaufen.»

Von staatlicher Seite sind viele Arbeitnehmer:innenrechte mit Kriegsbeginn beschnitten worden. Streiks etwa sind seit Verhängung des Kriegsrechts verboten. Ausserdem ist ein Gesetz verabschiedet worden, das eine Arbeitswoche von bis zu sechzig Stunden zulässt und die Kündigungsfrist abgeschafft hat. Darauf, dass diese Rückschritte nach Kriegsende wie versprochen wieder aufgehoben werden, will sich Andrejew nicht völlig verlassen. Ein holländischer Genosse habe ihn kürzlich darauf hingewiesen, dass in den Niederlanden ein von den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg verhängtes Arbeitsgesetz erst 2001 abgeschafft worden sei.

Gleichzeitig habe der ukrainische Staat auch manche positive Massnahme beschlossen. Alle durch den Krieg arbeitslos gewordenen Personen können beispielsweise mit ein paar Klicks die Auszahlung des gesetzlichen monatlichen Mindestlohns beantragen, der dann über die normale Sozialhilfe hinaus ausgezahlt wird.

Mitten im Gespräch ertönt plötzlich wieder die Sirene – Raketenalarm. Die Caféangestellten schliessen die Küche ab. Sie seien leider gezwungen, den Luftschutzraum aufzusuchen. Die im Innenhof sitzenden Gäste sollen das benutzte Geschirr beim Verlassen bitte aufs Fensterbrett stellen. Andrejew erklärt genervt, dass das Risiko eines Raketeneinschlags in der Lwiwer Innenstadt gering sei. «Ich schlage vor, wir ignorieren den Alarm. Schliesslich haben wir dieses Gespräch eingeplant, und der Plan sollte trotz allem erfüllt werden», sagt er mit jenem spöttischen Trotz, der den ukrainischen Widerstandsgeist ausmacht.

Während die Sirene im Hintergrund weiter heult, erklärt Andrejew, wie stark die gewerkschaftlichen Strukturen unter dem Kriegszustand belastet sind. «Die Gewerkschafsföderation, der wir angehören, besitzt eine Reihe von Erholungsstätten, die zurzeit zwangsweise in Unterkünfte für Zehntausende Vertriebene umfunktioniert worden sind.» Dies bedeute eine enorme finanzielle Belastung, denn auch dort müssten ja Löhne bezahlt werden, genauso wie Strom- und Wasserrechnungen.

Auch Gewerkschaftsangestellte selbst wie die Jurist:innen und Bürokräfte seien ein fortlaufender Kostenfaktor. Gleichzeitig sind die Mitgliederbeiträge eingebrochen: «Die Föderation bekam im Februar ein Viertel ihrer gewöhnlichen Beiträge. Da die Bauwirtschaft im Moment fast komplett zum Erliegen gekommen ist, sind die Beiträge unserer Gewerkschaft um neunzig Prozent eingebrochen.»

Dabei wird die Rolle der Gewerkschaften nach einem hoffentlich baldigen Ende des Krieges umso wichtiger sein. «Nach dem Sieg wartet ein gigantischer Wiederaufbau auf uns. Tausende Wohnblöcke sind beschädigt, Hunderte völlig zerstört. Dazu kommen Hunderte zerstörte Betriebe, Strassen, Brücken, der Hafen von Mariupol. Dabei ordentliche Arbeitsbedingungen sicherzustellen, wird eine riesige Herausforderung.»

Zum Teil erstaunliche Einigkeit: Yves Wegelin (WOZ), Ruedi Noser (FDP), Benedikt Würth (Die Mitte), Angela Mattli (Public Eye), Jon Pult (SP), Manuela Weichelt (Grüne).

Auf dem WOZ-Podium: Die Ständeräte Ruedi Noser (FDP) und Benedikt Würth (Die Mitte) sprechen sich für eine konsequentere Suche nach Oligarchengeldern aus – und für eine Verschärfung des Geldwäschereigesetzes.

«Die Schweiz ist für Russlands Machtapparat, der Krieg gegen die Ukraine führt, ein zentraler Finanz- und Rohstoffplatz. Was ist jetzt zu tun?» Unter dieser Fragestellung fand am Montagabend ein von WOZ-Redaktor Yves Wegelin geleitetes Podiumsgespräch im Zürcher Kulturzentrum Kosmos statt. Neben vier Politiker:innen sass auch Angela Mattli von Public Eye auf der Bühne. Seit Jahren verfolgt Public Eye den Rohwarenhandel in der Schweiz und weiss über das riesige Volumen russischer Rohstoffe, die von der Schweiz aus gehandelt werden: 80,5 Millionen Fass russisches Erdöl – bei einem Fasspreis von 100 Franken entspricht das einem Wert von 8,5 Milliarden Franken – sollen laut Mattli allein im Februar und März dieses Jahres von in der Schweiz ansässigen Unternehmen verschoben worden sein. Klar ist: Mit den Einnahmen daraus finanziert Russland seinen Krieg gegen die Ukraine.

Neutralität «justieren»

Für alle auf dem Podium ist das eine unhaltbare Situation. «Mit jemandem, der einen Vernichtungskrieg führt, macht man keine Geschäfte», deklarierte der Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser. Allerdings präzisierte Noser später, dass er damit sehr allgemein alle europäischen Staaten meine. Jetzt den Schweizer Handel mit russischen Rohwaren zu stoppen, bringe nichts, dieser würde sich einfach an einen anderen Ort, etwa nach Singapur, verlagern, so Noser. Sein St. Galler Ratskollege Benedikt Würth (Die Mitte) stimmte ihm zu.

Würth stellte eine neue weltpolitische Situation fest. Es gelte, die westlichen Werte zu sichern. Man müsse alles tun, damit Wladimir Putin den Krieg nicht gewinne. Die Schweizer Neutralität sei neu zu justieren. Doch: «Den Handel mit Russland in der Rückschau zu kritisieren, ist scheinheilig.» Alle hätten Putin unterschätzt. Dem widersprach die grüne Nationalrätin Manuela Weichelt aus Zug vehement. Die Grün-Alternativen hätten in den letzten zwanzig Jahren mindestens vierzig Protestaktionen vor russischen Firmen in Zug durchgeführt. «Wir haben immer vor Putin gewarnt, auch als ihm 2002 in Zug ein Friedenspreis verliehen wurde.» Als Grund, weshalb besonders Zug so viele dubiose Unternehmen anziehe, identifiziert Weichelt die Steuergesetzgebung.

Wem gehören die Firmen?

Einig war man sich auf dem Podium, dass die beschlossenen Sanktionen gegen Russland konsequenter umgesetzt werden müssen. Nötig sei eine Taskforce, in der diverse Amtsstellen zusammenarbeiten würden und die aktiv nach Geldern suche, statt einfach auf Meldungen zu warten.

Den zu sanktionierenden Oligarchen helfe die Schweizer Gesetzgebung, sagte Angela Mattli. SP-Nationalrat Jon Pult fragte rhetorisch: «Wollen wir nach wie vor ein Land mit maximaler Intransparenz sein oder zu einem ganz normalen europäischen Land werden?» Es sei gewollt, dass jetzt die Gelder nicht gefunden würden. Es brauche zum Beispiel ein schärferes Geldwäschereigesetz, dem auch die Anwälte und Treuhänderinnen unterstellt seien, oder eine stärkere Regulierung des Kunstmarkts, so Pult. Weichelt forderte die Schaffung eines Registers der wirtschaftlich Berechtigten von Schweizer Unternehmen. Damit öffentlich einsehbar werde, wem eine Firma mit Sitz in der Schweiz wirklich gehöre.

Die Ständeräte Würth und Noser bekannten sich zu einem verschärften Geldwäschereigesetz. «Die Wirtschaft» sei schon länger dafür, sagte Noser, der die Anwält:innen im Parlament dafür verantwortlich machte, dass dies noch nicht geschehen sei. Ein nächster Anlauf der Räte im Herbst werde erfolgreicher sein, zeigten sich die beiden Bürgerlichen überzeugt.

Die Aufzeichnung der Podiumsdiskussion finden Sie hier.

Ein Signalchat mit dem russischen Militärexperten Pavel Luzin zur Situation der russischen Streitkräfte.

Unmittelbar bevor der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar begann, führte die WOZ ein Interview mit dem russischen Militär- und Aussenpolitikexperten Pavel Luzin. Er rechnete damals nicht mit einem grossflächigen russischen Angriffskrieg, weil er nicht sehen würde, wie «Russland einen solchen Krieg gewinnen könnte».

In den letzten Wochen blieben wir mit ihm in Kontakt und haben ihn nun erneut zu seiner Einschätzung der Lage im Krieg gegen die Ukraine befragt – mit Fokus auf die russischen Streitkräfte. Auf Wunsch von Luzin wurde das Interview aus Sicherheitsgründen schriftlich per Signal-Messenger geführt.

WOZ: Herr Luzin, sind Sie noch in Perm beziehungsweise in Russland? Ist es für Sie zurzeit überhaupt noch möglich zu arbeiten?

Pavel Luzin: Ja, ich bin noch in Russland, und ich arbeite und spreche trotz des derzeitigen Risikos, dafür bestraft zu werden, weiter. 

In unserem Interview unmittelbar vor Kriegsbeginn sagten Sie: «Russland kann nichts gewinnen, selbst wenn es in der Lage wäre, die ukrainischen Streitkräfte zu besiegen.» Sehen Sie das auch heute noch so?

Ja, es ist heute sogar noch offensichtlicher, dass Russland nicht in der Lage ist, diesen Krieg politisch oder wirtschaftlich zu gewinnen. Er bedeutet eine strategische Niederlage Russlands. Dennoch wird die Aggression gegen die Ukraine fortgesetzt, weil Russland den Krieg wegen der innenpolitischen Risiken für den Kreml, beziehungsweise für Putins Herrschaftssystem, nicht beenden kann. 

Wie stellen die russischen Medien und der Kreml die aktuelle militärische Lage in der Ukraine dar?

Die staatlichen russischen Medien, loyale Journalisten, Politiker und sogar Beamte, die über persönliche Telegram-Kanäle kommunizieren, verbreiten nach wie vor eine propagandistische Erzählung vom baldigen Sieg.

An diesem Wochenende wurden mutmassliche Kriegsverbrechen an Zivilist:innen im Kiewer Vorort Butscha bekannt. Wie werden diese die Wahrnehmung dieses Krieges verändern?

Ich bin sehr schockiert über diese Bilder und fühle so viel Hass. Die russischen Medien, einschliesslich der offiziellen Position des Verteidigungsministeriums und aller möglichen Propagandisten, erzählen von «Fälschungen». Ich glaube, das wird den Krieg beeinflussen: Die Ukrainer werden bis zum letzten russischen Soldaten in ihrem Land kämpfen. Die Position von Politikern, die noch versuchen, mit Putin im Gespräch zu sein, wie der französische Präsident Emmanuel Macron oder der deutsche Kanzler Olaf Scholz, wird schwächer. Und die russische Gesellschaft wird immer stärker demoralisiert, auch wenn die Leute sich über «Fälschungen» zu rechtfertigen versuchen.

Wie ist Ihre persönliche Analyse zur Entwicklung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine?

Meine eigene kurze Analyse lautet, dass Russland nur noch eine begrenzte Zeitspanne bleibt. Noch vor Mitte Mai werden seine Langstrecken-Präzisionswaffen erschöpft sein. Russland verfügt aber noch über einige Reserven am Boden und Reserven bei der taktischen Luftfwaffe sowie bei den Schiffsabwehrraketen, die gegen Bodenziele eingesetzt werden könnten. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Russland bald eine zweite massive Offensive starten wird, bevor es stark an Schlagkraft verliert.

Welche Rolle spielt die Luftwaffe bisher?

Die russischen Luftstreitkräfte versuchen derzeit, ihre Rolle zu verstärken – sie bombardieren ukrainische Städte und Ortschaften und zerstören die wirtschaftliche Infrastruktur. Aber es fehlt ihnen an Echtzeitinformationen über die ukrainischen Streitkräfte, sodass sie zwar Terror gegen die Zivilbevölkerung ausüben, nicht aber die russischen Truppen am Boden unterstützen können. Dennoch müssen die Ukrainer ihre Kapazitäten in der Luftverteidigung ausbauen.

Stimmt die Einschätzung, dass der Vormarsch der russischen Streitkräfte ins Stocken geraten ist und die ukrainische Armee Gebiete zurückerobert?

Die ukrainischen Streitkräfte sind in der Verteidigung und bei einigen taktischen Offensivaktionen sehr erfolgreich, aber für einen massiven Gegenschlag würde die Ukraine dringend Waffen mit einer grösseren Reichweite benötigen. Hoffentlich ist der Westen mutig genug und stellt der Ukraine solche Waffen zur Verfügung.

Würden solche Waffenlieferungen nicht die Gefahr erhöhen, dass Russland den Einsatz seiner Atomwaffen in Betracht zieht? 

Die Aggression Russlands muss gestoppt werden, und die einzige Möglichkeit dazu ist meiner Ansicht nach eine vollständige Niederlage der russischen Streitkräfte. Das erhöht das Risiko eines Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen, das Russland bewusst als Drohung und Verhandlungsdruckmittel einsetzt. Das Risiko sollte aber nicht überschätzt werden. 

Sehen Sie Chancen für eine diplomatische Lösung? 

Zurzeit leider nicht. Russland hat als internationaler Akteur die Fähigkeit verloren, sich an die internationalen Regeln zu halten und die internationalen Gesetze zu befolgen. Daher ist Russland unter den derzeitigen Umständen nicht in der Lage, ein Waffenstillstands- oder gar ein Friedensabkommen zu schliessen. Ich denke, die einzige Lösung ist wirklich eine Niederlage Russlands. So oder so wird das Land in innere Turbulenzen geraten, aber je früher es mit der vollständigen Niederlage konfrontiert wird, desto eher wird sich das politische System ändern. 

Wenn es in den kommenden Wochen nicht zu einer Niederlage der russischen Streitkräfte kommt, sondern zu einem Patt: Was wird dann in Russland passieren?

Die Situation «Kein Krieg, kein Frieden» ist möglich. Aber Russland hat ein begrenztes wirtschaftliches Potenzial, und dieses nimmt ebenso ab wie die Zahl jener, die vom System profitieren. Ein Patt würde also ebenfalls innenpolitische Turbulenzen bedeuten. In dieser Situation könnten Putin und sein derzeitiger innerer Kreis – meiner Einschätzung nach sind das sein persönliches Sicherheitspersonal sowie die Führungsriege der beiden Inlandsgeheimdienste FSB und FSO – noch eine Weile an der Macht bleiben. Aber sie müssen die Gruppen innerhalb der Elite, die andere Interessen vertreten und Lösungen wollen, verringern. Durch eine «Säuberung» oder Ähnliches.

Das klingt so, als würde Putin den Krieg gegen die Ukraine langfristig politisch nicht überleben?

Nicht nur Putin als Einzelperson, sondern auch die verschiedenen Teile und einzelne Vertreter der russischen Elite. Im Moment verlässt sich Putin nur auf seinen inneren Kreis, der sich auf die Inlandsgeheimdienste sowie das Hauptdirektorat für Sonderprogramme des Präsidenten stützt. Diese Leute sind verantwortlich für den Krieg, viele dieser Leute vertreten die radikale Ideologie der Wiederherstellung des russischen Grossreichs um jeden Preis.

In verschiedenen Analysen heisst es, dass die russischen Streitkräfte den Widerstand der ukrainischen Armee unterschätzt hätten. Dazu gebe es grosse logistische Probleme, und viele Soldaten würden überhaupt nicht verstehen, weshalb sie gegen die Ukraine kämpften. Manche hätten gedacht, sie würden an einer Übung teilnehmen.

Das sehe ich auch so. Das Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssystem innerhalb der russischen Streitkräfte ist zudem alles andere als effizient und die Ausbildung der russischen Streitkräfte oft mangelhaft. Letzteres ist auch das Ergebnis von zwei Jahrzehnten der «Barbarisierung» und «Gegenaufklärung» im russischen Bildungssystem. Sie beginnt in der Schule, vor allem in Dörfern und Kleinstädten, und zieht sich fort bis zu den zivilen und militärischen Hochschulen und Universitäten. Die postsowjetische russische autoritäre Regierung hat Angst vor Bürgern und Militärs mit guter Bildung, Kreativität und unabhängigem Denken. 

Wie setzen sich die russischen Streitkräfte zusammen?

Junge russische Soldaten aus den armen Bevölkerungsschichten, aus den Dörfern und Kleinstädten, werden als Kanonenfutter benutzt. Das gilt ebenso für die Streitkräfte, die aus den besetzten Teilen der Ukraine und Georgiens mobilisiert werden, sowie die eingesetzten tschetschenischen Soldaten und russischen Söldner. Übrigens halte ich nichts von der Nachricht, dass der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow selbst auf dem Schlachtfeld in der Ukraine sein Leben aufs Spiel setze. Er hat genug loyale Tschetschenen, die dies an seiner Stelle tun.

Eine letzte Frage: Welche Kanäle nutzen Sie, um sich zu informieren, damit Sie ein möglichst realistisches Bild des Krieges erhalten?

Ich verwende nur Informationen aus offenen Quellen aus der Ukraine, Russland, den USA, Grossbritannien und so weiter. Sie stammen von Regierungsstellen, aus der Rüstungsindustrie, der Presse, aus Telegram-Kanälen und von Militärexperten wie Tom Cooper, Christo Grozev, Oleg Zhdanow. Dazu kommt meine eigene Forschungserfahrung.

Pavel Luzin (35) hat Internationale Beziehungen studiert und sich auf Russlands Militär- und Aussenpolitik spezialisiert. Luzin ist Mitarbeiter des russischen Analyseportals Riddle sowie des US-Thinktanks Jamestown Foundation. Er beriet den Oppositionellen Alexei Nawalny während dessen Präsidentschaftskampagne 2017/18 zu Armee und Rüstungsindustrie.

Von Klaus Petrus (Text und Bild), Zahony

«Die Unterdrückung der Roma ist schon so normal geworden, dass es den Leuten gar nicht mehr auffällt»: Adrienn Balogh ist an der ukrainisch-ungarischen Grenze, um den Umgang mit Geflüchteten zu dokumentieren.

Roma, die aus der Ukraine nach Ungarn flüchten, werden beim Grenzübertritt diskriminiert. Das passt zur sonstigen Politik von Viktor Orban.

Die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine ist in den Nachbarländern ungebrochen gross. Auch in Ungarn. In den Grenzorten warten Vertreter:innen der Gemeinden und Hilfsorganisationen sowie Helfer:innen mit warmem Essen und Decken; Autos und Kleinbusse stehen bereit, um die Menschen nach Budapest oder weiter in andere Länder zu bringen. Willkommen sind allerdings nicht alle Ankommenden. 

«Ich brauchte Babynahrung, doch sie haben mich beschimpft und fortgeschickt», sagt Valeria*. Als der Krieg ausbrach, musste die 19-jährige Romni aus der westukrainischen Region Transkarpatien in Richtung Ungarn fliehen. Jetzt steht sie auf dem Bahngleis von Zahony an der ungarisch-ukrainischen Grenze, hält ihren Säugling in den Armen und wartet auf den Zug nach Budapest. Ihre Mutter und die ältere Schwester mit ihren drei Kindern sind ebenfalls mit ihr geflohen; wo die Männer sind, das möchten sie nicht sagen.

«Wir hatten Glück, sie liessen uns daheim in den Zug steigen.» Valeria weiss von Romafamilien aus Lwiw und anderen Städten, die Ukrainer:innen Platz machen und zurückbleiben mussten. Als sie an der ungarischen Grenze angekommen seien, hätten sie bei der Ausweiskontrolle länger als die anderen warten müssen, erzählt sie. Rund vierzig Prozent der 300 000 Roma in der Ukraine – nach Angaben der Regierung sollen es nur 50 000 sein – besitzen zwar eine Geburtsurkunde, aber keinen ukrainischen Pass.

So auch Valeria und ihre Familie. «Die Grenzpolizisten glauben nicht, dass wir aus der Ukraine sind, sie sagen, wir hätten unsere Dokumente gefälscht.» Nachdem sie registriert wurden, waren sie weiterhin auf sich allein gestellt. «Den anderen Geflüchteten half man mit den Koffern, sie bekamen Suppe, und die Kinder durften im Bahnhofsgebäude spielen. Uns liess man draussen in der Kälte.»

«Was Valeria erlebt hat, ist kein Einzelfall» sagt Adrienn Balogh, selber Romni und Mitbegründerin der ungarischen Romaorganisation Magyarorszag Kezdemenyezes. Seit sich die Verunglimpfungen der Roma an der ungarisch-ukrainischen Grenze häufen, ist sie vor Ort und dokumentiert die Fälle. «Oft sind es verbale Diskriminierungen. Oder man hilft ihnen nicht beim Gepäck, sie haben Mühe, Tickets für die Weiterfahrt zu bekommen, manchmal wird ihnen sogar der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt», sagt Balogh.

Von vergleichbarer Diskriminierung geflüchteter Roma aus der Ukraine wird inzwischen auch von der Grenze zur Slowakei und zu Rumänien berichtet. Hilfsorganisationen und Gemeinden weisen solche Vorwürfe indes zurück, was Balogh wiederum nicht erstaunt: «Die Unterdrückung der Roma ist subtil, sie ist schon so normal geworden, dass es den Leuten gar nicht mehr auffällt.»

Auch für Valeria gehören Diskriminierung und Hass zum Alltag. «In meiner Heimat, in Transkarpatien, werden wir immer wieder angegriffen.» Tatsächlich haben sich nach Angaben der Organisation Roma of Ukraine (Ternipe) in den vergangenen Jahren Aktionen gegen Roma gehäuft, oft sind rechte Gruppierungen dafür verantwortlich. Sie verbreiten im Netz Hass und Hetze, auch sind Fälle bekannt, wo Roma gezielt attackiert und verletzt wurden.

Nicht anders sei das in Ungarn, sagt Balogh. Zwar würden die Roma mit 900 000 Personen die grösste Minderheit im Land stellen; und doch würden sie am schlechtesten behandelt. «Fast die Hälfte der ungarischen Roma leben unter prekären Bedingungen. Sie haben kaum Arbeit, kriegen keine Wohnungen, der Staat lässt sie im Stich», so die Aktivistin. Sie bemängelt insgesamt, dass die Roma in der ungarischen Gesellschaft keinen Platz hätten.

Das trifft auch auf politischer Ebene zu. Unter den knapp 200 Parlamentarier:innen findet sich bloss ein Rom, Florian Fakas. Er ist Präsident der Partei Lungo Drom, die seit Jahren die rechtsnationale Regierungspartei Fidezs von Ministerpräsident Viktor Orban unterstützt. Kritiker:innen etwa aus den Reihen des Firosz – ein Zusammenschluss junger Roma – werfen Fakas vor, er sei in Korruptionsfälle verwickelt und würde damit der Romagemeinschaft schaden.

Vorurteile in den Köpfen

Aktivist:innen wie Balogh befürchten, dass Ungarn mit der Diskriminierung der Roma an der Grenze eine Art Zweiklassengesellschaft der Geflüchteten etabliert. Dass sich Orban an der Hetze gegen Roma beteiligt, ist für sie nicht von der Hand zu weisen. Balogh verweist auf eine Schule in der ostungarischen Stadt Gyöngyöspata, in der Romakinder diskriminiert wurden – sie durften unter anderem nicht dieselben Toiletten benutzen wie die übrigen Schüler:innen. Ein Gericht verurteilte den ungarischen Staat zu Schadenersatz, was Orban mit der Bemerkung kommentierte, es sei unverständlich, wieso eine ethnische Minderheit so viel Geld bekomme, ohne dafür zu arbeiten.

Wie sehr sich solche Vorurteile in den Köpfen der Leute festsetzen können, zeigt eine Erfahrung, die Valeria am Bahnhof von Zahony gemacht hat. Als sie mit Sack und Pack und ihrem Kind auf dem Arm am Bahnsteig auf den Zug wartete, kam jemand auf sie zu und meinte, sie würde die jetzige Situation ausnutzen, um sich von den Hilfsorganisationen Essen und Kleider zu ergattern. «Man glaubt uns nicht, dass auch wir vor dem Krieg flüchten müssen. Am liebsten würde man uns zurückschicken.»

Von Basil Weingartner und Maurin Baumann

Plötzlich geht alles ganz anders: Eingang zu einem Empfangszentrum für aus der Ukraine Geflüchtete in Zürich. Foto: Florian Bachmann

Während die Schweiz Geflüchtete aus der Ukraine willkommen heisst, stecken andere im repressiven Asylregime fest. Ihre Gesuche werden derzeit nicht einmal bearbeitet.

Hasan Demir sitzt am Dienstagabend in einem Zimmer in der kantonalen Asylunterkunft im aargauischen Villmergen. Am nächsten Tag wird er zusammen mit Mitbewohner:innen und weiteren Aktivist:innen eine Kundgebung veranstalten. Gemeinsam wehren sie sich dagegen, aus Villmergen «wegtransferiert» zu werden, wie Demir es ausdrückt. Das bedeute eine neue Isolation für alle Betroffenen. «Wir leben nun einige Jahre in diesem Ort und wissen inzwischen zumindest, was wir wo finden und wie wir überleben können.» Ein kleines Stück Zuhause. Doch der Kanton hat andere Pläne.

Er will Platz schaffen: für unbegleitete minderjährige Asylsuchende – aber zumindest temporär auch für Personen aus der Ukraine. Im «Zuge der aktuell sehr hohen Zuweisungszahlen von Personen mit Schutzstatus S aus der Ukraine» seien «Verdichtungsmassnahmen in kantonalen Unterkünften nötig», teilt das zuständige Amt auf Anfrage mit. «Dabei kann es auch zu Umplatzierungen in andere kantonale oder kommunale Unterkünfte kommen.» Man habe «Verständnis dafür, dass dies im Einzelfall für die Betroffenen unangenehm sein kann – dennoch ist es unabdingbar». Das Vorgehen des Kantons Aargau ist kein Einzelfall. Auch im Kanton Bern werden geplante Verlegungen aktuell gleich begründet – und wie in Villmergen wehren sich auch in Biel die betroffenen Personen dagegen.

Aktuell erreichen viele Menschen aus der Ukraine die Schweiz. Während Geflüchtete in der Schweiz sonst ein äussert rigides und repressives Asylregime erwartet, ist die Situation der ukrainischen Flüchtlinge besser. Aufgrund des neu in Kraft gesetzten Schutzstatus S müssen sie kein normales Asylverfahren durchlaufen, können sofort arbeiten, privat untergebracht werden und ihre Familie umgehend nachziehen. Hasan Demir begrüsst den Umgang mit den Menschen aus der Ukraine ausdrücklich. So spielt es für ihn, der sich im Geflüchtetenkollektiv Rota engagiert, auch keine Rolle, aus welchen Gründen er aus Villmergen weggeschickt wird.

Er stört sich aber daran, wie mit den Geflüchteten ohne Schutzstatus S umgegangen wird. «Uns wurde einfach gesagt, dass wir bald verlegt werden – wir wissen aber nicht, wann und wohin wir verlegt werden.» Und es sei ganz grundsätzlich sehr ernüchternd zu sehen, dass das Schweizer Asylwesen eigentlich problemlos in der Lage sei, Geflüchtete besser zu behandeln.

Doch aktuell verschlechtert sich die Situation von vielen Geflüchteten ohne Schutzstatus S weiter. Nicht nur in Form von Verlegungen. Wie Recherchen der WOZ und des Onlinemagazins «Journal B» zeigen, hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) für Geflüchtete von ausserhalb der Ukraine aktuell praktisch alle Anhörungen ausgesetzt. Das SEM bestätigt auf Anfrage, dass die regulären Asylverfahren verzögert werden. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine seien die Gesuchszahlen in den Bundesasylzentren «massiv angestiegen». Das SEM schreibt, man sei «mit Hochdruck daran, zusätzliches Personal für das S-Status-Verfahren einzustellen, damit unsere Mitarbeitenden sich wieder auf das ordentliche Asylverfahren konzentrieren können».

«Da es sich beim Schutzstatus S um ein erstmals aktiviertes Instrument handelt, erscheint das Aussetzen der Anhörungen für andere Geflüchtete für eine kurze Zeit als verhältnismässig», sagt eine Person, die Asylsuchende rechtlich vertritt. «Aktuell ist aber nicht klar, wie lange diese Aussetzungen anhalten werden», sagt die Person, die anonym bleiben will, da sie offiziell vom SEM mandatiert arbeitet. «Die Kommunikation des SEM ist intransparent.» Klar ist: Die Aussetzung dauert nun schon Wochen.

Das SEM schreibt in einer Stellungnahme dazu, dass alle Personen, die ein Asylgesuch stellten und schutzbedürftig seien, Schutz erhielten. Erste Priorität habe für den Bund in der aktuellen Situation, «dass alle in der Schweiz Schutz suchenden Personen registriert werden, ein Dach über dem Kopf, ein Bett, Mahlzeiten und falls nötig medizinische Hilfe erhalten».

Welche Folgen die aktuellen Verzögerungen bei regulären Asylverfahren haben können, zeigt sich im Gespräch mit Michail*. Der 35-jährige Tschetschene lebt seit über einem halben Jahr in der Schweiz. Seine Frau und seine Kinder sind in der Schweiz als Flüchtlinge anerkannt. Während er in Bern ist und keinen festen Wohnsitz hat, ist seine Familie in einem anderen Kanton untergebracht. Damit er während seines Asylverfahrens bei seiner Familie leben dürfte, müsste das SEM eine Verfügung erlassen – dafür fehlen derzeit jedoch die Kapazitäten. «Meine Frau ist erschöpft und erneut schwanger», sagt Michail – sichtlich verzweifelt. 

 «Rassistische Kriterien»

Er ist kein Einzelfall. Marek Wieruszewski, juristischer Mitarbeiter vom Solidaritätsnetz Bern, verweist auf «unzählige solche Beispiele». Natürlich seien die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine für alle Länder überfordernd. Die Behandlung der Menschen aus der Ukraine sei als Zeichen der Solidarität zu sehen. «Doch egal, ob Krieg in der Ukraine herrscht oder nicht: Wir finden, dass alle Menschen schutzberechtigt sind», sagt Wieruszewski.

Und er wagt eine These: «Einige der ukrainischen Geflüchteten würden keinen positiven Asylstatus erhalten, wenn sie das reguläre Asylverfahren durchlaufen müssten.» Das habe damit zu tun, dass Geflüchtete jeweils beweisen müssen, «aus bestimmten Gründen persönlich und aktiv» verfolgt zu sein oder dass eine Rückkehr unzumutbar wäre. Und dazu sind im normalen, rigiden Asylregime der Schweiz selbst Personen nicht immer in der Lage, die aus einem vom Krieg betroffenen Land geflüchtet sind. 

Navin Sureskumaran, ebenfalls vom Solidaritätsnetz Bern, ergänzt, es sei schwierig, «Betroffenen zu erklären, weshalb ein Unterschied zwischen ihnen und ukrainischen Geflüchteten gemacht wird». Insbesondere, wenn die Gründe rassistisch konnotiert seien, wenn die einen als Europäer:innen gesehen würden und die anderen nicht.

Francesca Falk, Migrationshistorikerin an der Universität Bern, bewertet die Ungleichbehandlungen als «sehr problematisch». Jede Flucht finde unter schwierigen Bedingungen statt, sagt sie auf Anfrage. «Rassistische Kriterien sollten nicht den Ausschlag geben, wie Migrant:innen behandelt werden», so Falk. Tatsächlich haben gesellschaftliche und medial produzierte Bilder aber einen grossen Einfluss.

Asylpolitik hängt laut Falk auch von unserer Wahrnehmung der Geflüchteten ab. Diese ist jedoch, wie historische Beispiele zeigen, nicht nur produziert, sondern auch wandelbar. Für Falk sind für die Zukunft verschiedene Szenarien denkbar: Die Solidarität gegenüber aus der Ukraine Geflüchteten könnte sich abkühlen und sich schlimmstenfalls in Ressentiments verwandeln. In einem optimistischen Szenario könnten die aktuellen Entwicklungen aber auch zu einer allgemeinen Verbesserung im Umgang mit Geflüchteten führen.

Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich fordert denn auch in einem am Donnerstag publizierten Aufruf, die Situation aller Flüchtlinge in vielen Bereichen an den Schutzstatus S anzugleichen. «Solidarität steht allen zu», hält das Bündnis fest. Und im Berner Stadtparlament wird am Donnerstag ein Vorstoss der linken Parteien eingereicht, der Massnahmen zur Besserstellung von Geflüchteten ohne Status S verlangt.

Dieses Thema treibt auch Hasan Demir in Villmergen um. «Warum erhalten wir all diese Möglichkeiten nicht, obwohl sie nun für Geflüchtete mit Status S ganz offenbar bestehen?» Denn auch sie seien vor Krieg und Verfolgung geflüchtet.

Manche sind von Russland direkt abhängig, andere sehen sich in der Tradition der blockfreien Staaten: Viele afrikanische Länder beziehen im Ukrainekrieg keine Position.

Als die Uno-Generalversammlung am 22. März erneut über eine Resolution abstimmte, die Russland für den Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilte, sprach sich nur ein einziges afrikanisches Land dagegen aus: Eritrea. Die ostafrikanische Diktatur gesellte sich damit zu Nordkorea, Syrien und Belarus.

Die Resolution wurde mit grosser Mehrheit angenommen, 140 der 193 Landesvertreter:innen stimmten dafür. Auffällig ist aber auch: 20 von insgesamt 54 afrikanischen Ländern haben sich der Stimme enthalten, während 6 der Versammlung fernblieben. Die Stimmungslage scheint in Afrika nicht so einheitlich wie etwa in Europa, Nord- und Südamerika. Das hat mit dem historischen Bezugsrahmen zu tun: vor allem mit der Einbindung Afrikas in den Kalten Krieg, als manche Regierungen, Regimes und Milizen entweder von den USA oder der Sowjetunion unterstützt wurden – oder abwechselnd von beiden.

Die aussenpolitische Diplomatie vieler Regierungen war seit dem Ende des Kalten Kriegs von Zurückhaltung geprägt, sie wollten sich der geopolitischen Vereinnahmung durch die Grossmächte tendenziell entziehen. Und Länder wie Marokko oder Südafrika, die sich zum Krieg gegen die Ukraine der Stimme enthalten haben, stellen sich noch immer in die Tradition der blockfreien Staaten.

Das Ausweichen einzelner Machthaber lässt sich hingegen auf eine offensichtliche Abhängigkeit von Russland zurückführen: Die Regimes der Zentralafrikanischen Republik, des Sudan und Malis sind derzeit bei der Durchsetzung ihres Machtanspruchs auf militärische Unterstützung angewiesen. Auch weitere Regierungen gingen teils enge Verbindungen ein, etwa in Ländern wie Algerien, Guinea, dem Südsudan, Uganda oder Simbabwe: Sie beziehen von Russland Rüstungsgüter, oder sie greifen auf russische Expertise bei der antidemokratischen Regierungsführung zurück.

Überhaupt scheint sich in diversen Regionen bemerkbar zu machen, dass Russland seit mindestens fünfzehn Jahren nach grösserem Einfluss in Afrika strebt. 2019 fand in Sotschi der erste Russland-Afrika-Gipfel statt; als «aussenpolitische Priorität» bezeichnete Präsident Wladimir Putin den Kontinent damals. Der Gipfel soll diplomatische Vereinbarungen und milliardenschwere Handelsabkommen hervorgebracht haben, es geht unter anderem um Waffendeals, das Bankenwesen, Energie- und Landwirtschaft.

Mehr als dreissig afrikanische Regierungen sollen allein im Rahmen dieses Gipfels Verträge über die Lieferung russischer Rüstungsgüter abgeschlossen haben. Und nicht zuletzt haben auch Privatfirmen – oft im Rohstoffbusiness – kräftig in den Sicherheitssektor investiert.

Das Verhältnis Russlands zu Afrika ist von nachdrücklichem Pragmatismus geprägt: Anders als der Westen, der den Machteliten mit scheinheiligen moralischen Auflagen gegenübertrete, biete Russland ihnen eine Kooperation auf Augenhöhe, so die Selbstdarstellung. Mutmasslich erhofft sich Putin davon nicht zuletzt diplomatischen Support auf der internationalen Bühne.

Ob die Sympathien der Menschen in den jeweiligen Staaten ebenfalls aufseiten Russlands sind, ist dabei zweitrangig: Schliesslich geht es neben dem geopolitischen Einfluss auch um den Export eines autokratischen Regierungsmodells – den Einsatz elaborierter Desinformationskampagnen inklusive. Einen wichtigen Faktor bilden dabei auch russische Söldnerfirmen, die seit 2016 in insgesamt sechzehn afrikanischen Ländern in Erscheinung traten.

Besondere Aufmerksamkeit erhielt dabei die berüchtigte russische Söldnerfirma Wagner, die in komplexen politischen Umfeldern zum Einsatz kam: in Libyen, der Zentralafrikanischen Republik, in Mali, im Sudan und in Moçambique. Sie wurde angeheuert, um Regierungen zu helfen, die Oberhand zu gewinnen – teils gegen bewaffnete Milizen, teils gegen demokratische Ansprüche aus der Zivilgesellschaft.

Im Vergleich mit China, den USA, den europäischen Ländern, der Türkei und manchen Golfstaaten bleibt Russland zwar im Hintertreffen. Dennoch ist die Zahl von 28 afrikanischen Ländern, die Russlands Angriffskrieg per Uno-Resolution verurteilt haben, beachtlich. Zu ihnen gehören grosse und wichtige Staaten wie Nigeria, Kenia oder auch die Demokratische Republik Kongo.

Nicht wenige dieser Länder dürften damit das Ziel verfolgen, sich auf dem Kontinent und gegenüber der restlichen Welt als Kräfte der Demokratisierung zu positionieren. Daran werden die jeweiligen Regierungen zu messen sein – in den letzten Jahren hat sich schliesslich abgezeichnet, dass das Gezerre um politischen und wirtschaftlichen Einfluss in Afrika künftig noch einmal deutlich stärker wird.

«Die ukrainische Linke wird weitermachen wie bisher»: Witali Dudin im Gespräch. Foto: Volodya Vagner.

Am 19. März ordnete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski per Dekret an, dass elf politische Parteien wegen ihrer «prorussischen» Haltung ihre Aktivitäten «vorübergehend einstellen» müssen. Betroffen sind sowohl bedeutende politische Kräfte als auch marginale Parteien, darunter mehrere, die sich als links bezeichnen. 

Die WOZ traf in Lwiw Witali Dudin, den Vorsitzenden der demokratisch-sozialistischen Bewegung Sotsialni Ruch (Die soziale Bewegung), um das Dekret zu diskutieren. 

WOZ: Witali Dudin, wie sehen Sie das Dekret?

Witali Dudin: Es ist besorgniserregend. Wir durchleben gerade schwere Zeiten, die unsere Demokratie herausfordern. Eingriffe in die Meinungs- und die Vereinigungsfreiheit sind nur dann akzeptabel, wenn sie auf überzeugenden rechtlichen Grundlagen basieren. Selbst während eines Ausnahmezustands müssen Massnahmen im Verhältnis zum beabsichtigten Zweck stehen, und dieses Dekret erfüllt seinen erklärten Zweck nicht, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten.

Für einen ukrainischen Sieg sind zwei Faktoren ausschlaggebend: nationaler Zusammenhalt und internationale Unterstützung. Dieser Schritt schadet womöglich beidem. Die zwei bedeutendsten der betroffenen Parteien, die OPSSch und die Schari-Partei, haben sicherlich zur Spaltung der ukrainischen Gesellschaft beigetragen. Sie betonten ständig die Vorstellung, dass die Ukraine von Ultranationalisten kontrolliert und die russisch sprechende Bevölkerung unterdrückt sei. Wenn die ukrainischen Nationalist:innen die Gesellschaft in die eine Richtung zerren, dann ziehen diese Kräfte sie in die andere. Wenn man jedoch Millionen von Wähler:innen nun sagt, dass die Parteien, die sie unterstützt haben, ausserhalb des akzeptablen Bereichs seien, dann hilft dies auch nicht gerade, diese Menschen zu motivieren, weiter Widerstand zu leisten. Da das Dekret ausserdem dem Image der Ukraine schadet, könnte auch die internationale Unterstützung in Form von humanitären und Waffenlieferungen beeinträchtigt werden.

Was will die Regierung erreichen?

Ich glaube, sie will sowohl kurzfristige wie langfristige Ziele erreichen: Sie will zeigen, dass sie entschieden vorgeht, um das Land in Kriegszeiten zu befrieden – und die politische Konkurrenz auf ihre Plätze zu verweisen.

Inwiefern konkurrieren die eher prorussischen Parteien mit Selenski, der ja derzeit der Inbegriff des Widerstands gegen Russland ist?

Im Moment spricht der Präsident eher die Bürger:innen an, die bereit sind, bis aufs Letzte weiterzukämpfen. Das politische Feld ist aber dynamisch, und jeder Krieg endet mit Verhandlungen. Es ist denkbar, dass Selenski den Boden bereiten will, um später den Abschluss eines Friedens mit Russland rechtfertigen zu können. Im Zusammenhang mit diesem Prozess könnte seine Rhetorik auch bald einen friedlicheren Ton annehmen, der traditionell bei der OPSSch Anklang findet. Wenn es dazu kommt, wird er womöglich mehr auf deren Wähler:innen angewiesen sein.

Ist das Dekret mit der ukrainischen Gesetzgebung zu vereinbaren?

Dieses Dekret ist allein politisch motiviert. Es ist eine vage begründete und willkürliche Einschränkung eines der wichtigsten Grundrechte. Wir sind hier nicht in Russland, unsere Verfassung verspricht ein pluralistisches Mehrparteiensystem, und man kann diesen integralen Bestandteil unserer Demokratie nicht einfach aufgeben unter dem Vorwand des Krieges. Die ukrainische Gesetzgebung sieht vor, dass Parteienverbote durch die Gerichte veranlasst werden müssen. Neben der sofortigen Einstellung der Aktivitäten der betroffenen Parteien beinhaltet das Dekret auch eine Anweisung an das Justizministerium, über den Rechtsweg ein dauerhaftes Verbot anzustreben. Ich befürchte, dass der Prozess noch vor Ende des Kriegsrechts durchgedrückt und damit hinter verschlossenen Türen abgehalten werden wird.

Welchen Effekt hat das Dekret unmittelbar?

Das ist noch nicht ganz klar. Bis ein Urteil gefällt ist, sind die Parteien nicht aufgelöst, und ihre Abgeordneten sollten im Parlament bleiben können, wenn auch möglicherweise nicht unter dem Namen ihrer Partei. Es ist aber klar, dass diesen Parteien weitere Repressalien drohen – und möglicherweise auch anderen Parteien, die künftig die Regierung kritisieren.

Das Dekret betrifft auch sechs vermeintlich linke Parteien. Was bedeutet das für die ukrainische Linke?

Als Linke sind wir natürlich besorgt. Die Einschränkung von Parteien, die sich als links bezeichnen, könnte den Eindruck erwecken, dass alles, was mit linker Politik und Sozialismus zu tun hat, Teil einer russischen Strategie gegen die Ukraine sei. Wenn uns nun aber Genoss:innen aus dem Ausland fragen, ob linke Ideologie in der Ukraine jetzt verboten sei oder ob die Verbote eine Repressionswelle gegen Linke darstellten, möchte ich antworten: So kategorisch stimmt das nicht. Die Zusammensetzung der Liste der verbotenen Parteien hat eher mit ziemlich vagen Vorstellungen davon zu tun, was prorussisch und was proukrainisch sei. Keine dieser vermeintlich linken Parteien war Teil des Kampfes für soziale Rechte oder demokratischen Sozialismus. Was die ukrainische Linke angeht, die für soziale Gerechtigkeit kämpft, wird diese so weitermachen wie bisher, unabhängig von den Einschränkungen gegen diese völlig marginalen und gesellschaftlich isolierten Parteien. In dem Sinne hat sich nichts bedeutsam verändert.

Von Tschetschenien bis in die Ukraine: Keine Zeitung dokumentierte die russischen Kriegsgräuel wie die «Nowaja Gaseta». Was ihre Einstellung bedeutet.

Zuerst hatte das Kollektiv der «Nowaja Gaseta» tapfer durchgehalten. Während unabhängige Medien die Publikation wegen der neuen Zensurgesetze einstellten, machten die Journalist:innen der kremlkritischen Zeitung mutig weiter. So wie sie es die letzten Jahrzehnte unter wachsendem Druck, Drohungen und Einschüchterungen immer getan hatten.

Die Entscheidung, die Chefredaktor Dmitri Muratow nach dem russischen Angriff auf die Ukraine treffen musste, dürfte ihm nicht leichtgefallen sein: Soll auch er die Zeitung mit einer Auflage von mehr als 100 000 Exemplaren einstellen? Oder ist es besser, sich den neuen Spielregeln eines repressiven Systems zu beugen? Muratow, der die «Nowaja Gaseta» seit 1995 leitet und Ende letzten Jahres für sein Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, wählte die zweite Option: Weil jede Verwendung des Begriffs «Krieg» Strafen nach sich zieht, war in den Beiträgen infolgedessen bloss von einer «Spezialoperation» die Rede.

Nun muss der 60-Jährige doch nachgeben. «Wir stellen unsere Arbeit bis zum Ende der ‹Sonderoperation auf ukrainischem Territorium› ein», verkündete die Redaktion heute Mittag auf ihrer Website. Der Schritt sei «schrecklich und schwierig, aber notwendig», schrieb sie in einem Mail an die Abonnent:innen: «Ohne euch werden wir nicht überleben. Vielen Dank und bis bald!» Den Anlass dafür gab eine Verwarnung der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor – bereits die zweite seit Beginn des Kriegs. Das Blatt soll es versäumt haben, in einem Artikel den Zusatz «ausländischer Agent» zu erwähnen. Einem drohenden Entzug der Lizenz kam die Redaktion nun zuvor.

Die wechselhafte Geschichte der «Nowaja Gaseta» spiegelt die schwierige Lage der Pressefreiheit in Russland wider. 1993 startete Muratow zusammen mit ein paar anderen Journalist:innen das Projekt, das rasch zur favorisierten Publikation der liberalen Intelligenzija wurde. Einer der frühen Förderer war Michail Gorbatschow, der die Zeitung bis heute unterstützt. Die Aktienmehrheit hält derweil nach wie vor die Belegschaft.

Immer wieder machte das Team mit investigativen Recherchen über Korruption, Machtmissbrauch und die Unterdrückung von Minderheiten von sich reden. Legendär sind auch die Beiträge zum Tschetschenienkrieg von Reporterin Anna Politkowskaja und anderen. 2006 wurde die Journalistin vor ihrer Haustür erschossen. In den nuller Jahren bezahlten fünf weitere Redaktionsmitglieder ihre Recherchen mit dem Leben, immer wieder wurden Reporter:innen verfolgt und angegriffen.

Auch in den vergangenen Wochen zeichnete sich die «Nowaja Gaseta» durch wegweisende Texte zum Krieg des Putin-Regimes aus. So dokumentierte sie etwa die Geschichte einer jungen Mutter, deren Sohn in die Ukraine geschickt wurde und dort ums Leben kam. Und in der neusten (und nun vorerst letzten) Ausgabe veröffentlichte sie eine herausragende Reportage aus der ukrainischen Stadt Cherson, die seit Anfang März von der russischen Armee besetzt ist.

Die Journalistin Jelena Kostjutschenko, die seit Wochen im Kriegsgebiet unterwegs ist, berichtet darin von einer prekären humanitären Lage, langen Schlangen bei der Essensverteilung und einem Mangel an Medikamenten, von einem russischen Geheimgefängnis und Entführungen – und sie erzählt von einer Bevölkerung, die Widerstand leistet. In Zukunft werden Recherchen wie jene von Kostjutschenko, mutige Zeugnisse des Kriegshorrors, schmerzlich fehlen.

Ein Kommentar von Jan Opielka

Ein schmerzlicher Kompromissfrieden würde weniger Leid und Zerstörung bringen als ein endloser Krieg. Doch noch will man bei der Nato nichts davon wissen.

Schon einen Monat lang erleben die Ukrainer:innen Verwüstung, Flucht, Tod. Und einen Monat lang erfährt die ukrainische Regierung die Solidarität des Westens bei der Aufnahme von Flüchtenden, bei der humanitären Hilfe in der Ukraine selbst – und bei der Lieferung von modernen und effektiven Waffensystemen. Doch bei der Suche nach einer Friedenslösung ist die Initiative des Westens entweder für die Augen der Öffentlichkeit nicht sichtbar oder nicht vorhanden. 

Die bisherigen Aussagen der Staats- und Regierungschefs des Nato-Bündnisses setzen insgesamt auf die Fortsetzung des Krieges in der Erwartung eines ukrainischen Sieges – und kaum auf einen Waffenstillstand und die Kompromisssuche für einen Frieden. Beim Nato-Gipfel in Brüssel vom 24. März überwog die Kriegsrhetorik die Kompromisssuche deutlich. 

Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigte die bisherige Marschroute des Militärbündnisses: keine Flugverbotszone, keine Nato-Friedenstruppen, wie von Polens Vize-Premier Jaroslaw Kaczynski in der vergangenen Woche in den Raum geworfen – dafür aber neue Kampfverbände in Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien zur Verstärkung der «Ostflanke» und mehr Waffen an die Ukraine. «Ich begrüsse die konkreten Hilfsangebote, die heute von den Alliierten gekommen sind. Gleichzeitig haben wir die Verantwortung, dass der Konflikt nicht noch weiter eskaliert, weil das noch gefährlicher und zerstörerischer wäre», so Stoltenberg.  

Wo aber bleibt die Suche nach diplomatischen Auswegen? Innerhalb des Bündnisses sind kaum Ansätze zu finden, die eine möglichst rasche Beendigung des Krieges anvisieren — und etwa eine definitive Absage eines Nato-Beitritts der Ukraine andeuten würden. 

Friedensverhandlungen, die einen künftig möglichen, neutralen Status der Ukraine anstreben – eine Hauptforderung Putins –, müssten echte Sicherheitsgarantien für das Land beinhalten. Dies nämlich war beim Budapester Memorandum von 1994 nicht der Fall. Damals hatte die Ukraine als Kompensation für die Rückgabe aller auf ihrem Gebiet stationierten atomaren Waffensysteme zwar Garantien für die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen erhalten. Doch eine mögliche Verletzung ihrer Souveränität wurde in dem Memorandum mit keinerlei Konsequenzen oder Sanktionen belegt. 

Ein Blick in das Dokument, das mit sechs knappen Artikeln allgemeiner wohl kaum gefasst werden konnte, zeigt, wie leichtsinnig und oberflächlich dort mit einem derart heiklen Problem – der geopolitischen Lage der Ukraine und ihrem damals nach den USA und Russland drittgrössten Atomwaffen-Arsenal der Welt – umgegangen wurde. Die spätere Annexion der Krim durch Russland belegt dies eindrücklich. 

Auch daher rührt der nach 2014 zunehmend kritische Blick der Mehrheit der Ukrainer:innen auf eine mögliche Neutralität. Ohne echte Sicherheitsgarantien wird diese Option auch künftig kaum akzeptiert werden. Das weiss auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenksi. Er weiss aber auch, dass eine friedliche Lösung für die Ukraine insgesamt und ihre Ostgebiete mit jedem Kriegstag schwieriger wird.

Erkennbar ist, dass Deutschland und Frankreich den Gesprächsfaden zu Putin halten. Sie sind, trotz ihrer Unterstützung für die Ukraine, offenbar stärker an einer vorzeitigen Beendigung des Krieges interessiert als die USA, als Grossbritannien und auch als Polen. US-Präsident Joe Biden hebt in den letzten Tagen immer wieder hervor, Putin könnte bald Chemiewaffen einsetzen, er sei ein Kriegsverbrecher. 

Die britische Aussenministerin Liz Truss sagte zuletzt, sie fürchte eine Einigung nach dem Modell des Minsker Abkommens, das zwischen der Ukraine und Russland unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs vereinbart worden war. Und Polens Aussenminister Zbigniew Rau schreibt in einem Zeitungsbeitrag: «Der einzige Weg, wie die internationale Gemeinschaft Putins Kalkül beeinflussen kann, besteht darin, die Ukraine bis auf die Zähne zu bewaffnen, was bewirken wird, das Putins Ziele unerreichbar werden.»

Würde Raus Plan für einen Sieg konsequent verfolgt, könnte man die Ukraine in einigen Monaten als ein durch 44 Millionen Menschen bewohntes, relativ gut entwickeltes, integriertes Staatsgebiet abschreiben. Und ein zweites, womöglich noch schlimmeres Syrien erwarten – gerade weil das Kräfteverhältnis zwischen Russland und der Ukraine ausgeglichener ist als anfänglich vermutet: durch die westlichen Waffenlieferungen sowie wegen des Kampfwillens der Ukrainer:innen.

Die Frage ist letztlich, was Priorität hat: die Verhinderung von Tod und von Verwüstung – oder die Sicherung geografischen Terrains und politischer Einflusssphäre? Es ist vergleichsweise einfach, Waffen an einen Staat zu liefern und ihn zu einem Kampf bis zum letzten Blutstropfen zu ermuntern. Es ist nicht unser Blut.

Die Lücke des Friedens finden

Womöglich hilft bei der Suche nach einem Hebel zur möglichen Friedenslösung ein Gedanke des Philosophen und Filmemachers Alexander Kluge: «Jedes Verhängnis hat eine Lücke. Wir müssen nach dem Augenblick fahnden, in dem der Krieg stolpert. Auf diese Lücke muss sich die Öffentlichkeit vorbereiten. Wir dürfen sie nicht verpassen. Es ist der Moment, in dem beide Gegner zur gleichen Zeit schwach, zwei gleichzeitig friedensbereit sind.»

Nach einem Monat des verheerenden Krieges senden sowohl Selenski als auch Putin zweideutige, freilich in die Sprache des Kampfes und des Sieges gebettete Signale, dass sie geschwächt sind. Der Nato-Gipfel vom Donnerstag hat gezeigt, dass der Westen diese Signale noch nicht hört.

Von Volodya Vagner (Text und Foto), Lwiw

«Erst restaurieren wir alles, jetzt müssen wir unser Werk vor den Angriffen schützen»: Stepan Vay vor der Boim-Kapelle.

Ukrainische Restaurator:innen versuchen, die historischen Schätze Lwiws vor möglichen russischen Angriffen zu schützen. Eine Begegnung.

In den malerischen Kopfsteinpflastergassen von Lwiws Altstadt wimmelt es derzeit von Menschen: Binnenvertriebene, die vor dem russischen Überfall aus den östlichen Landesteilen geflohen sind; Gruppen junger, schwerbewaffneter Soldaten; Journalist:innen aus aller Welt sind zu sehen. Dazwischen versuchen die Einheimischen, dem Krieg zum Trotz, ihrem gewöhnlichen Leben so weit wie möglich nachzugehen. Da die Stadt weit im Westen des Landes liegt, fern von den schlimmsten Kampfhandlungen, bietet sie ein Mass an Sicherheit, das sonst in kaum einer anderen ukrainischen Grossstadt mehr zu finden ist.

Die Altstadt von Lwiw, auf Deutsch Lemberg, wurde 1998 von der Unesco in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Die Begründung: Der historische Charakter der Stadt, der nahezu komplett bewahrt sei, spiegle die multiethnische Vergangenheit der Stadt wider. Um den historischen Marktplatz drängen sich Kirchen im gotischen und barocken Stil sowie Wohnhäuser aus der Renaissance. Auf den vier Springbrunnen aus dem 18. Jahrhundert, die das Rathaus umgeben, stehen lebensgrosse Skulpturen antiker griechischer Gottheiten. Während sich Lwiw in den letzten Wochen zu einer Art temporärer zweiter Hauptstadt des Landes entwickelt hat, werden seine historische Schönheiten immer unsichtbarer.

Das hat auch mit der Arbeit der Bauarbeiter:innen, Restaurator:innen und Denkmalschützer:innen zu tun. Seit Beginn der russischen Invasion sind sie daran, die Schätze der Stadt mit Schutzverkleidung abzudecken. Zwar musste sich die Stadt bisher nicht vor der russischen Artillerie fürchten. Dennoch warnt der Fliegeralarm fast jeden Tag vor sich nähernden Raketen, die bereits strategische Ziele in den Aussenbezirken getroffen haben. Die Massnahmen zum Schutz der historischen Bausubstanz werden von städtischen Behörden in Zusammenarbeit mit Denkmalschutzvereinen vorgenommen. Die Helferinnen selbst sind grösstenteils über die sozialen Medien zusammengetrommelt worden.

Stepan Vey ist einer von ihnen. Der gebürtiger Lwiwer ist eigentlich Künstler, seit etwa zehn Jahren arbeitet er in örtlichen Restaurierungsprojekten. «Ich war lange in der Bernhardinerkirche mit der Restaurierung der Fresken und Skulpturen beschäftigt», erklärt er während einer Verschnaufpause. Ins Sonnenlicht blinzelnd, schaut er seinen Kolleg:innen dabei zu, wie sie ein Gerüst aus Spanplatten vor der Fassade der Boim-Kapelle befestigen. Das Relief, das die Aussenwand der Kapelle schmückt und unter anderem die Passionsgeschichte darstellt, ist inzwischen völlig hinter einer Wand aus Holzplatten und Wellblech verschwunden.

Die Arbeit ist vom anarchischen Geist der Mobilisierung geprägt, der zurzeit in allen ukrainischen Gesellschaftsbereichen zu beobachten ist. Wo kommt das Gerüst her, die Holzplatten und das brandsichere Verkleidungsmaterial, mit denen die Kapellen, Kirchen und Skulpturen der Altstadt verkleidet werden? «Von den Kirchen gesponsort, glaube ich», meint Stepan Vey. «Nein, das kommt alles von der Stadt», widerspricht ihm ein Kollege. Ein Dritter hat gehört, dass Polen ihre Arbeit materiell unterstützen würde.

Stepan Veys Alltag ist sonst gemächlicher. «Normalerweise arbeite ich im Polytechnischen Institut. Das hat eine wunderschöne, über 150 Jahre alte Aula mit bemaltem Marmor, dessen ursprüngliche Gestaltung wir wiederherstellen.» Bei seiner Arbeit kommt es auf Fingerspitzengefühl an. «Erst analysiert man und macht Schallproben. Mithilfe von Expert:innen, die über die nötigen chemischen Kenntnisse verfügen, ermitteln wir dann die benötigten Materialien. Dann tragen wir die äusseren Schichten ab, bis die ursprüngliche Bemalung freigelegt ist, und reparieren beschädigte Abschnitte.» Der gesamte Prozess kann Jahre dauern.

Mit dem Krieg besteht nun die Gefahr, dass die historischen Schätze innerhalb von Minuten zerstört werden. Bei den schonungslosen Angriffen der russischen Streitkräfte in Städten wie Charkiw und Mariupol etwa sind schon zahlreiche architektonische Wahrzeichen dieser Städte beschädigt oder zerstört worden. «Erst restaurieren wir alles, und jetzt müssen wir unser Werk vor den Angriffen schützen», fasst Stepan Vey die absurde Situation zusammen. Es ist ihm ein persönliches Anliegen, dass nicht alles verloren geht. «Sonst wäre ja alle unsere Arbeit umsonst gewesen.»

Ein Gastbeitrag von Alexander Estis*

Über russische Musikerinnen, helvetische Ausladungen und die europäische Freiheit.

Die Cellistin Anastasia Kobekina wurde aufgrund ihrer russischen Staatsangehörigkeit von einem Konzert an der Kartause Ittingen im Thurgau ausgeladen – und dies nicht etwa aufgrund ihrer Haltung, denn sie hatte sich klar regimekritisch geäussert. In ihrer Erklärung schreiben die Veranstalter: «Weder wollen wir die Nähe von Musikerinnen und Musikern zu den Kriegsverantwortlichen einschätzen müssen, noch sollen Künstlerinnen und Künstler Statements abgeben müssen, mit denen sie unter Umständen nahestehende Menschen gefährden.» Das ist klug und vorsichtig, aber sich aus diesen Gründen für eine Absage des Konzerts zu entscheiden, erscheint mir wiederum unklug und gefährlich.

Als unklug kann diese Entscheidung dabei schon aus rein praktischer Perspektive gelten, möchte Kobekina doch die Einnahmen aus einem anderen Konzert in die Ukraine spenden – das haben die Thurgauer Veranstalter in ihrem Fall nun verunmöglicht. Stattdessen möchten sie nach eigener Aussage «ein Zeichen setzen» und «Betroffenheit» ausdrücken: So bringt sich simplifizierte Symbolpolitik in einen Antagonismus zu realpolitischer Unterstützung.  

Gefährlich an derartigen Ausladungen ist ganz offensichtlich ihr pauschalisierender und antiindividualistischer, mithin kulturfeindlicher Charakter. Auch wenn ich den Veranstaltern keinen Rassismus unterstellen möchte, wird hier doch eine Person allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ausgeschlossen.

Gefährlich ist auch, dass solche Sippenhaft nicht nur Menschen treffen wird, die sich aus verschiedensten Gründen nicht mit dem russischen Staat und dessen Kriegstreiberei identifizieren, sondern sogar jene, die hier in Europa vor putinschen Repressalien Schutz suchen. Die Zahl der Ukrainer:innen mit russischer Staatsangehörigkeit, der Russ:innen mit teilweise ukrainischen Wurzeln, der gemischten ukrainisch-russischen Familien ist enorm. Wollen europäische Konzertveranstalter vielleicht in Zukunft Stammbäume prüfen, bevor sie Verträge unterzeichnen? Und wann, möchte ich ganz ohne Übertreibung fragen, werden im deutschsprachigen Raum eigentlich wieder die ersten Jüdinnen ausgeladen, die schliesslich einen nicht unbeträchtlichen Teil der hiesigen Russ:innen ausmachen?

Gefährlich ist also vor allem, dass westliche Kulturvertreter:innen die blinde Logik des Kollektiven übernehmen, wie sie die nationalistische Gewalt erst legitimiert. Anstatt jener generalisierenden, entwürdigenden Stigmatisierung, der sich die russische Propaganda bedient, alternative Argumentationsmuster entgegenzusetzen, lassen sie sich auf das Niveau reaktionären, ja archaischen Gruppendenkens hinabziehen. Ganz nebenbei spielt dies den putinistischen Nationalisten wunderbar in die Hände, denn plötzlich sieht man ihre Warnungen vor der westlichen Russophobie aufs Schönste bestätigt.

Derartige Implikationen dürften von den Thurgauer Ausladenden nicht reflektiert und auch nicht bewusst in Kauf genommen worden sein; dort scheinen Beklemmung, Unsicherheit und Zeitdruck die grösste Rolle gespielt zu haben. Dieser Unsicherheit nachzugeben, mag jedoch auch ein Symptom jener Bequemlichkeit darstellen, die wir uns inzwischen im Umgang mit schwierigen und auch nur vermeintlich schwierigen kulturellen Konstellationen angeeignet haben. Echte Freiheit aber ist immer unbequem.

Was mich daher unabhängig von der Causa Ittingen nicht bloss erstaunt, sondern bestürzt, ist die Mischung aus behaglicher Ignoranz und wohlfeiler Selbstherrlichkeit, mit der solche Bannsprüche in Westeuropa artikuliert und begründet werden. Denn zugleich ergeht sich doch ebendieses Europa heute in einer rhetorischen Dauerüberhöhung westlicher Freiheitswerte, die zu verteidigen angeblich selbst Menschenleben nicht zu schade sind – allerdings nur, solange es sich um die von Menschen in der fernen Ukraine handelt, während hierzulande auch nur ein halbherziges Bekenntnis zur Freiheit der Kunst von Kulturveranstaltern offenbar zu viel Mut verlangt.

* Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lebt als freier Autor in Aarau. Letztes Jahr erschien von ihm das «Handwörterbuch der russischen Seele». Mehr Infos auf www.estis.ch.

Das Scharnier im globalen Kapitalismus: Blick über den Frachthafen von Genua. Foto: Camillo Pasquarelli

Lieferketten unterbrechen und Infrastruktur blockieren: Auch im Krieg des russischen Regimes gegen die Ukraine kommt Arbeiter:innen eine potenziell grosse Macht zu. 

«Belarus ist ein Land der Partisanen»: So kommentierte am Montag ein hochrangiger Berater der Minsker Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja einen Akt zivilen Widerstands seiner Landsleute. Auf Twitter veröffentlichte er eine Karte mit diversen Bahnhöfen und Busstationen im ganzen Land, an denen in den letzten Wochen russische Züge sabotiert und gestoppt, russisches Militärgerät zerstört oder Flyer gegen die Invasion verteilt wurden. 

Der Chef der ukrainischen Bahngesellschaft hatte zuvor gegenüber dem unabhängigen russischsprachigen TV-Sender «Current Time» mitgeteilt, dass belarusische Bahnarbeiter die Schienenverbindung ins Nachbarland gekappt hätten, um den Nachschub und die Verstärkung für den Krieg zu erschweren. Von unabhängiger Seite liessen sich die Vorgänge zunächst nicht bestätigen.

Solidarisch mit der Ukraine 

Auch in den Häfen der Welt – dem wichtigsten Scharnier des globalen Kapitalismus – leisteten Arbeiter:innen Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Von Grossbritannien bis Australien, in den USA, Neuseeland und Kanada riefen die Gewerkschaften zur Blockade russischer Schiffe auf. Mehrere westliche Staaten verboten russischen Fracht- und Fischereidampfern, ihre Häfen anzulaufen. «Arbeiter auf der ganzen Welt, darunter auch Tausende Hafenarbeiter, stellen sich gegen die russische Invasion und solidarisieren sich mit den Menschen in der Ukraine», teilte der Präsident der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) mit.

Im britischen Kent weigerten sich Hafenarbeiter Anfang März, ein Schiff mit russischem Flüssiggas zu entladen – und erreichten so, dass es auf einen anderen Hafen ausweichen musste, wie unter anderem der «Guardian» berichtete. Und in Kalifornien stellten sich 20  000 Personen laut lokalen Medienberichten gegen die Annahme von Fracht aus Russland.

Am Flughafen von Pisa wollten Arbeiter vergangene Woche derweil nicht Waffen und Munition laden, die für die Ukraine bestimmt sind. «Wir glauben nicht, dass Waffenlieferungen die Situation lösen, stattdessen riskieren wir einen dritten Weltkrieg», liess sich ein Vertreter des Basisgewerkschaftsbunds USB zitieren. Die Arbeiter hätten sich auch dagegen gewehrt, dass solch gefährliche Güter über einen zivilen Flughafen transportiert würden.

Die Praxis des «Schiffeverfolgens» hat eine lange Tradition. Schon vor mehr als hundert Jahren hatten sich britische Hafenarbeiter dagegen gewehrt, Waffen für den Bürgerkrieg in der Sowjetunion zu verschiffen. Später boykottierten die Beschäftigten Lieferungen nach Japan und ins faschistische Italien, nach Indochina oder in Pinochets Chile.

Mit dieser Widerstandsform Berühmtheit erlangt hat das autonome Genueser Hafenarbeiterkollektiv Calp, das gemeinsam mit italienischen Basisgewerkschaften seit mehreren Jahren Waffenlieferungen in Kriegsländer bestreikt und über das die WOZ letzten Herbst ausführlich berichtete. Ihr nächster Streik gegen ein Schiff der staatlichen saudi-arabischen Firma Bahri ist für kommende Woche geplant, wie das Kollektiv dieser Tage in den sozialen Medien mitteilte.

Anders als die Europäische Union sind die Regierungen im Mittleren und Nahen Osten wegen der russischen Invasion in der Ukraine gespalten. Eine Übersicht über die divergierenden Interessen.

Der Krieg in der Ukraine hat auch spürbare Auswirkungen auf die Länder im Mittleren und Nahen Osten. Während Russland in der Region in den vergangenen Jahren durch militärische Beteiligungen und Allianzen seinen Wirkungskreis erweitern konnte, haben die USA an Gewicht verloren. Heute pflegen zahlreiche Länder im Mittleren und Nahen Osten wichtige Beziehungen nicht nur zu westlichen Ländern, sondern auch zu Russland. Zusätzlich erschweren wirtschaftliche Abhängigkeiten eine klare Positionierung.

Eindeutige Rückendeckung für Putin gibt es bei den politischen Kräften, die Teil der sogenannten «Achse des Widerstands» gegen die USA sind. Dazu gehören die schiitischen Milizen im Irak, die jemenitischen Huthi-Rebellen und die Hisbollah im Libanon. Angeführt wird diese «Achse» vom iranischen Revolutionsführer Ali Chamenei, der gute Beziehungen zu Moskau pflegt. Erst im Januar war der iranische Präsident Ebrahim Raisi in Moskau zu Besuch bei Wladimir Putin, beide Regierungen wollen ihre Zusammenarbeit weiter ausbauen. Im Libanon zeigt sich die gespaltene Haltung, die in manchen Ländern herrscht: Im Gegensatz zur Hisbollah hat die Regierung den russischen Angriffskrieg umgehend verurteilt.

Besonders eng ist das Verhältnis zwischen dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und Putin. Die Entscheidung des Kreml von 2015, sich am Krieg in Syrien zu beteiligen, führte zur ersten russischen Intervention ausserhalb der Gebiete der früheren Sowjetunion. Der russische Kriegseintritt veränderte den Verlauf des Konflikts zu Assads Gunsten. Während russische Militärs Spitäler und Wohnviertel bombardierten, konnte der Diktator die Kontrolle über den Grossteil des Landes zurückgewinnen. Wenig verwunderlich also, dass Syrien die Unabhängigkeit der beiden Separatistengebiete in der Ostukraine anerkannt hat. Laut Medienberichten haben prorussische Separatisten angekündigt, dass Militärs aus Syrien sich den Kämpfen in der Ukraine anschliessen könnten.

Mit klaren Urteilen halten sich die Golfstaaten zurück. Besonders Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) sind enge Verbündete der USA. Aber die Emirate und Saudi-Arabien koordinieren ihre Energiepolitik auch in der Opec+, einer Erweiterung der Organisation der Erdöl exportierenden Länder. Saudi-Arabien hat mit Russland zudem im vergangenen Jahr Abkommen über die militärische Zusammenarbeit geschlossen. In der Uno-Vollversammlung stimmte es dafür, dass Russland seine Truppen aus der Ukraine abzieht. Das saudische Königshaus befindet sich also in einer Zwickmühle und hat sich deshalb Anfang März als Vermittler im Konflikt angeboten. Dies wäre zugleich eine Möglichkeit, den eigenen Ruf, der nach dem Mord an dem saudischen Journalisten Jamal Khashoggi in Istanbul 2018 und wegen der eigenen Rolle im Jemenkrieg angeschlagen ist, zu rehabilitieren.

Auch die VAE schieben die Neutralität als Argument für die eigene Zögerlichkeit vor. Noch einen Tag vor dem Einmarsch in die Ukraine war der emiratische Aussenminister Abdullah bin Sajed zu Besuch in Moskau, um mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow über die Stärkung der bilateralen Zusammenarbeit zu sprechen. Zwischen den Stühlen sitzen auch der Irak, Israel und Ägypten. Diese verurteilen die russische Invasion zwar, versuchen sich aber ebenfalls in einer Balancestrategie und sehen von weiteren Konsequenzen ab. Alle drei wollen die überwiegend militärischen und im Energiesektor laufenden Kooperationen mit Russland nicht gefährden. Erst vergangene Woche sprachen Putin und sein ägyptischer Amtskollege Abdel Fattah al-Sisi telefonisch über neue gemeinsame Projekte.

Eigenwarnung vor dem «ausländischen Agenten»: Auf der Unterstützungswebsite des unabhängigen russischen Onlineportals «Meduza». Screenshot: WOZ

Im Tempo der sich ständig aktualisierenden Newsfeeds ist es zuweilen nicht einfach, den Überblick über die Ereignisse rund um die Invasion des russischen Regimes in der Ukraine zu behalten. Deshalb empfehlen wir hier ihnen ein paar Texte zur Wochenendlektüre.
 Eindrückliche Reportagen Gerade in Kriegszeiten, in denen Meldungen der Behörden oft nur schwer zu verifizieren sind und deshalb mit Vorsicht zu geniessen, erhalten Reportagen, die das Geschehen aus der Nähe dokumentieren, eine noch grössere Bedeutung. Seit mehr als zwei Wochen sind die Bewohner:innen von Mariupol von der russischen Armee eingekesselt. Die AP-Reporter:innen Mstyslav Chernov und Lori Hinnant waren nach eigenen Angaben als einzige internationale Medienschaffende vor Ort, haben mit den Menschen der belagerten Stadt gesprochen und eine bedrückende Chronik der Ereignisse geschrieben.  Zu den aktuell schwer umkämpften Orten gehört auch die Stadt Mykolajiw. Der «New York Times»-Reporter Michael Schwirtz berichtet aus einer Stadt, die heftig unter Beschuss genommen wird, deren Bewohner:innen sich aber nicht unterkriegen lassen. Mehrere Wochen im Land unterwegs war zudem Joshua Yaffa, der Russlandkorrespondent des US-Magazins «New Yorker». In seiner Reise durch ein umkämpftes Land zwischen dem Donbass, Kiew und Lwiw beschreibt er den Horror des Krieges und die Solidarität der Menschen untereinander. Lesenswerte Analysen Der Pariser Ökonom Thomas Piketty hat sich in einem Meinungsbeitrag für den britischen «Guardian» mit der Frage befasst, warum es so schwierig ist, einen Staat wie Russland zu sanktionieren. Piketty sieht den Fehler einmal mehr im kapitalistischen System – und im Unwillen westlicher Eliten, ihre teils engen Bande zu russischen und chinesischen Oligarchen durchleuchtet zu sehen. Die Reichen in Europa und den USA befürchteten, dass mehr Transparenz bloss zu ihrem Nachteil wäre.  Mit linkem Internationalismus befasst sich Nelli Tügel, die auch regelmässig für die WOZ schreibt, in der deutschen Monatszeitung «Analyse & Kritik». In ihrer auch historisch erhellenden Analyse geht sie der Frage nach, wie Staaten und das Völkerrecht zum Hauptbezugspunkt linker Friedenspolitik wurden – und warum das nicht genug ist. Erhellende Interviews Das vielleicht bemerkenswerteste Gespräch der letzten Woche hat «New Yorker»-Chefredaktor David Remnick mit Stephen Kotkin geführt. Der liberale US-Historiker befasst sich seit Jahren mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion und hat unter anderem eine mehrbändige Stalin-Biografie verfasst. Was denkt er über Wladimir Putins Invasion in der Ukraine, die Reaktion der westlichen Staaten und die Perspektive der nächsten Wochen? Lesen Sie es hier.   Für Leute mit Russischkenntnissen (oder einem guten Übersetzungsprogramm) sei zudem dieses Interview mit dem Moskauer Arbeitsmarktforscher Wladimir Gimpelson über die Folgen der harschen westlichen Sanktionen für die russischen Arbeiter:innen empfohlen, das beim unabhängigen Onlinemagazin «Meduza» erschienen ist.  PS: Wer einen fundierten täglichen Überblick über das Kriegsgeschehen in der Ukraine sucht und Russisch spricht, dem sei der Antikriegs-Newsletter des oppositionellen Studierendenmagazins «Doxa» ans Herz gelegt, den das Team verschickt, seit ihre Website in Russland blockiert ist. Und wer sie unterstützen will, kann hier spenden.

Im Tempo der sich ständig aktualisierenden Newsfeeds ist es zuweilen nicht einfach, den Überblick über die Ereignisse rund um die Invasion des russischen Regimes in der Ukraine zu behalten. Deshalb empfehlen wir hier ihnen ein paar Texte zur Wochenendlektüre.


Gerade in Kriegszeiten, in denen Meldungen der Behörden oft nur schwer zu verifizieren sind und deshalb mit Vorsicht zu geniessen, erhalten Reportagen, die das Geschehen aus der Nähe dokumentieren, eine noch grössere Bedeutung. Seit mehr als zwei Wochen sind die Bewohner:innen von Mariupol von der russischen Armee eingekesselt. Die AP-Reporter:innen Mstyslav Chernov und Lori Hinnant waren nach eigenen Angaben als einzige internationale Medienschaffende vor Ort, haben mit den Menschen der belagerten Stadt gesprochen und eine bedrückende Chronik der Ereignisse geschrieben. 

Zu den aktuell schwer umkämpften Orten gehört auch die Stadt Mykolajiw. Der «New York Times»-Reporter Michael Schwirtz berichtet aus einer Stadt, die heftig unter Beschuss genommen wird, deren Bewohner:innen sich aber nicht unterkriegen lassen. Mehrere Wochen im Land unterwegs war zudem Joshua Yaffa, der Russlandkorrespondent des US-Magazins «New Yorker». In seiner Reise durch ein umkämpftes Land zwischen dem Donbass, Kiew und Lwiw beschreibt er den Horror des Krieges und die Solidarität der Menschen untereinander.

Der Pariser Ökonom Thomas Piketty hat sich in einem Meinungsbeitrag für den britischen «Guardian» mit der Frage befasst, warum es so schwierig ist, einen Staat wie Russland zu sanktionieren. Piketty sieht den Fehler einmal mehr im kapitalistischen System – und im Unwillen westlicher Eliten, ihre teils engen Bande zu russischen und chinesischen Oligarchen durchleuchtet zu sehen. Die Reichen in Europa und den USA befürchteten, dass mehr Transparenz bloss zu ihrem Nachteil wäre. 

Mit linkem Internationalismus befasst sich Nelli Tügel, die auch regelmässig für die WOZ schreibt, in der deutschen Monatszeitung «Analyse & Kritik». In ihrer auch historisch erhellenden Analyse geht sie der Frage nach, wie Staaten und das Völkerrecht zum Hauptbezugspunkt linker Friedenspolitik wurden – und warum das nicht genug ist.

Das vielleicht bemerkenswerteste Gespräch der letzten Woche hat «New Yorker»-Chefredaktor David Remnick mit Stephen Kotkin geführt. Der liberale US-Historiker befasst sich seit Jahren mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion und hat unter anderem eine mehrbändige Stalin-Biografie verfasst. Was denkt er über Wladimir Putins Invasion in der Ukraine, die Reaktion der westlichen Staaten und die Perspektive der nächsten Wochen? Lesen Sie es hier.  

Für Leute mit Russischkenntnissen (oder einem guten Übersetzungsprogramm) sei zudem dieses Interview mit dem Moskauer Arbeitsmarktforscher Wladimir Gimpelson über die Folgen der harschen westlichen Sanktionen für die russischen Arbeiter:innen empfohlen, das beim unabhängigen Onlinemagazin «Meduza» erschienen ist. 

PS: Wer einen fundierten täglichen Überblick über das Kriegsgeschehen in der Ukraine sucht und Russisch spricht, dem sei der Antikriegs-Newsletter des oppositionellen Studierendenmagazins «Doxa» ans Herz gelegt, den das Team verschickt, seit ihre Website in Russland blockiert ist. Und wer sie unterstützen will, kann hier spenden.

Die Reise der mittel- und osteuropäischen Staatschefs nach Kiew diente nicht nur der Unterstützung der Ukraine. Sie haben damit auch erreicht, dass man ihre eigene Situation wahrnimmt.

Diese Woche reisten die drei Regierungschefs aus Polen, Slowenien und Tschechien ins belagerte Kiew. Begleitet wurden Mateusz Morawiecki, Janez Jansa und Petr Fiala von Jaroslaw Kaczynski, dem Chef der in Polen regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Die Fahrt mit der Eisenbahn sorgte weltweit für Schlagzeilen – und hatte mehr als nur Symbolcharakter.

Zwar schmetterte die Nato nach dem Besuch den Vorschlag Kaczynskis ab, es möge eine Nato-Friedenstruppe entstehen, die in der Ukraine agieren und für Frieden sorgen solle. Doch es ist zumindest gut, dass er im Raum steht: der Begriff Frieden. Denn die Pol:innen, die Tschech:innen, die Slowen:innen wie auch die anderen Mittel-Ost-Europäer:innen müssen zurecht eine weitere Eskalation fürchten.

Tür zur Nato verschlossen

Zwar unterstützen sie Waffenlieferungen und scharfe Sanktionen gegen Russland. Doch aufgrund ihrer geografischen Lage und der geopolitischen Situation müssen sie in erster Linie an einem Frieden zwischen der Ukraine und Russland interessiert sein: Wie schief auch immer ein solcher ausfallen könnte, so ist er einer Fortsetzung der Kämpfe vorzuziehen. Vorsichtige Anzeichen für eine Annäherung gibt es.

So hatte der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenski, schon am 9. März verkünden lassen, eine mögliche Neutralität der Ukraine nicht mehr grundsätzlich abzulehnen. Sie ist auch der wichtigste Punkt im Fünfzehn-Punkte-Plan, der am 16. März bekannt wurde, ausgearbeitet von Unterhändler:innen Russlands und der Ukraine. Bei einem virtuellen Treffen mit dem britischen Premier Boris Johnson und vor Vertreter:innen der nordeuropäischen Militärkooperation Joint Expeditionary Force sagte Selenski diese Woche: «Es ist klar, dass die Ukraine kein Nato-Mitglied ist, wir verstehen das. Jahrelang haben wir von offenen Türen gehört, aber jetzt haben wir auch gehört, dass wir dort nicht eintreten dürfen, und das müssen wir einsehen.»

Einsehen müssen das auch die engsten osteuropäischen Partner von Selenski, allen voran Polen. Sie wollten die Ukraine unbedingt in der Nato sehen. Das ist aufgrund ihrer eigenen Position verständlich. Das Lavieren des Westens ob einer künftig möglichen Nato-Zugehörigkeit der Ukraine wirkte im Verhältnis zu Russland eskalierend. Wäre die Sicherung des Friedens in der Ukraine prioritäres Ziel des Westens gewesen, hätten darüber ernsthafte Verhandlungen stattfinden müssen. Den Angriffskrieg hat aber Wladimir Putin losgetreten und zu verantworten.

Auch wenn der Vorstoss der Staatschefs keine direkten Folgen hat: Die Position der Länder, die an die Ukraine grenzen, hat er unbestritten gestärkt. Ihre Stimmen müssen gehört, ihre Bedürfnisse wahrgenommen werden. Wird der Krieg eskalieren, könnte Polen das erste und ein leichtes Opfer werden – zudem hat das Land die Aufnahme von mehr als zwei Millionen Geflüchteten zu meistern. Noch geht es gut, doch gesellschaftliche Unruhen sind programmiert, mit unabsehbaren Folgen.

Neben allem Kalkül für die eigene Situation hatte die Reise auch einen archaischen Zug. Sie offenbart die mentalen Unterschiede zwischen den politischen Kulturen in Ost und West. «Wir wissen, wie wichtig Ihr Kampf ist, denn es ist ein Kampf für uns alle, ein Kampf für unsere euroamerikanische, christliche Zivilisation», sagte der rechtsnationale Kaczynski in Kiew. In Ländern wie Polen werden solche Gesten als Mut wahrgenommen, den bestimmte Zeiten erfordern. In der Tat: Können wir uns den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Zug nach Kiew vorstellen?

Allgegenwärtig: Wahlplakat von Viktor Orban in Budapest. Foto: Klaus Petrus

Viktor Orbans Migrationspolitik stösst in der EU seit Jahren auf Kritik. Jetzt empfängt er gemeinsam mit der EU ukrainische Geflüchtete mit offenen Armen. Widerspruch oder Kalkül?

Wer sich diese Tage an der 137 Kilometer langen ungarisch-ukrainischen Grenze aufhält, kann viele helfende Hände sehen: lokale Organisationen, die für die ukrainischen Geflüchteten Essen schöpfen, Privatpersonen mit Bussen, die Fahrten nach Budapest anbieten, Gemeinden, die ihre Turnhallen zu Massenlagern umfunktionieren – und Ministerpräsident Viktor Orban, der am ungarischen Grenzort Beregsurany Geflüchtete besuchte und ihnen versicherte: «Wir werden alles tun, um euch zu helfen.»

Die Solidarität mit der Ukraine hat mit geografischer Nähe zu tun, mit der Geschichte und den Interessen Ungarns: Dass der westliche Oblast der Ukraine, Transkarpatien, fast tausend Jahre zu Ungarn gehörte und noch heute 150 000 ukrainische Ungar:innen dort leben, hebt Orban diese Tage genauso hervor, wie er an den ungarischen Aufstand gegen die sowjetische Armee 1956 erinnert.

Schon wenige Tage nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar hat Ungarn nicht bloss beschlossen, die vom Westen geplanten Sanktionen gegen Russland zu unterstützen, sondern auch den Entscheid der EU für eine schnelle und unkomplizierte Aufnahme aus der Ukraine Geflüchteter mitzutragen. Was bedeutet: Alle Geflüchteten mit einer gültigen ukrainischen Aufenthaltsbewilligung erhalten in Ungarn eine Arbeitserlaubnis, medizinische Grundversorgung, Zugang zu Schulen und zur Sozialhilfe sowie die Möglichkeit zur Familienzusammenführung – vorerst für ein Jahr, verlängerbar auf insgesamt drei Jahre.

Politische Beobachter sprachen daraufhin von einer 180-Grad-Wende, die Orban bezüglich seiner bisherigen Asylpolitik vollziehe – und das kurz vor der Parlamentswahl vom 3. April, bei der die Opposition so stark sein dürfte wie noch nie.

Tatsächlich betreibt Orban seit der sogenannten Migrationskrise im Sommer 2015 eine konsequente Abschottungspolitik, erst mit dem Bau eines 175 Kilometer und vier Meter hohen Zauns an der ungarisch-serbischen Grenze, dann mit oft gewaltsamen Rückschiebungen von Geflüchteten. Solche Pushbacks verstossen nicht bloss gegen internationale Abkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention, die auch Ungarn selbst unterzeichnet hat, sie wurden inzwischen auch vom Europäischen Gerichtshof als rechtswidrig erklärt – ein Urteil, das Orban bis heute ignoriert. Allein im letzten Jahr wurden gemäss der Menschenrechtsorganisation Hungarian Helsinki Committee an der ungarisch-serbischen Grenze 70 000 Pushbacks registriert – betroffen waren vor allem Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus den Maghrebstaaten.

Orbans offene Arme für ukrainische Geflüchtete – inzwischen haben 225 000 Menschen die ungarische Grenze überquert – dürften dieser rigiden Migrationspolitik indes keinen Abbruch tun. Für ihn ist das letztlich zweierlei: Hier die Ukrainer:innen, die vor dem Krieg flüchten müssen, dort die angeblich illegalen Migrant:innen, die Europa stürmen wollen. Oder wie er bei seinem Besuch in Beregsurany sagte: «Den Geflüchteten werden wir helfen, die Migrant:innen müssen gestoppt werden.»

Dieser Satz passt gut zu einem anderen, den Orban bereits im Herbst 2015 äusserte: «Ungarn wird migrantenfrei bleiben.» Seine darauf aufbauende Migrationspolitik bescherte ihm 2018 einen haushohen Wahlsieg.

Ein Gastbeitrag von Alexander Estis*

Der Wahnsinn hat Methode: Wer Wladimir Putin etwas entgegnen will, muss sich vertieft mit ihm beschäftigen.

«Hitler war doch echt blöd!», rief meine Mitschülerin einmal aus, nachdem unser Geschichtslehrer uns Neuntklässler:innen mit den Schrecken des «Dritten Reiches» konfrontiert hatte. Heute lese ich auf allen sozialen Medien: «Putin ist böse», «Putin ist irre», «Putin ist dämlich». Vermutlich habe ich noch mehr persönliche Gründe als die meisten westeuropäischen Mitbürger:innen, in dieses Gezeter einzustimmen. Doch moralische Entrüstung sollte Ergebnis von Einsicht sein und nicht ihr ritualisierter Ersatz.

Deshalb möchte ich alle einladen, zu Putin-Versteher:innen zu werden, bevor sie zu vollgültigen Putin-Hasser:innen avancieren. Dass wiederum Putin-Freund:innen, die auch Putin-Versteher:innen genannt werden, Putin gerade nicht verstehen, ist eine offensichtliche sprachliche Ironie. Doch auch unter den Putin-Gegner:innen finden sich hierzulande nicht wenige, die eine zwar äusserst negative, gleichwohl sehr krude Vorstellung von Putin haben.

Vom Strassenschläger zum Geheimagent

Ist Putin also böse? Wenn der Nachbarsjunge auch manchmal böse ist, dann kann dieser Begriff der Monstrosität eines Putin schwerlich gerecht werden. Eher schon liesse er sich mit einem hinterhältigen Strassenschläger vergleichen. So viel man auch mit dem Boxsack trainiert hat – der Schläger wird immer entscheidend im Vorteil sein: Er hat meist nichts zu verlieren. Er ist enthemmt. Und er ist in Strassenschlachten erfahren.

Europa hat Selbstverteidigungskurse absolviert, aber Putin ist ein Schlägertyp. Er ist dem einigermassen humanistischen Westen in gewisser Weise überlegen, weil er keine Skrupel kennt, selbst gegenüber den eigenen Leuten nicht. Nach alter russischer Sitte sind diese für ihn nichts als Kanonenfutter – was man heute daran erkennt, dass unausgebildete, ahnungslose Militärdienstleistende unter dem Vorwand angeblicher Schulungen in die Ukraine und damit in den Tod geschickt werden.

Aber Putin ist nicht nur ein Schläger, der auf St. Petersburgs Strassen aufgewachsen ist. Er ist auch durch die Schule der sowjetischen Geheimdienste gegangen. Deren Handlanger, die sogenannten Silowiki, haben das Land seit vielen Jahren fest im Griff. Wir haben es insofern nicht bloss mit einem Schurken-, sondern mehr noch mit einem Schergenstaat zu tun. Wenn diese Menschen etwas wissen, dann wie man manipuliert, zermürbt, einschüchtert und demoralisiert. Ihre Pläne halten sie tunlichst geheim, das Weltgeschehen und sich selbst inszenieren sie im jeweils nötigen Licht, in ihrem Denken lassen sie sich stets von stragischer Perfidie leiten.

Die Reputation ist ihm egal

Putins Handlungen freilich erscheinen irrational. Ist Putin also irre? Fraglos – in dem Sinne, dass er soziopathisch und also vollkommen gewissenslos genannt werden muss. Doch innerhalb seines pervertierten Wertesystems bleibt sein Vorgehen durchaus kohärent: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Spätestens mit dem Kaukasuskrieg im Jahre 2008 zeichnete sich die aggressive imperiale Expansionspolitik Putins ab, deren Zuspitzung wir in der jetzigen Invasion erleben.

«Der Verrückte ruiniert damit doch aber seine Reputation!», höre ich nun die westlichen Demokraten staunen. So können sich nur Menschen wundern, die weder von Russland noch von sonstigen autoritären Systemen eine Vorstellung haben. Ein um seine Reputation besorgter Diktator wäre ein wunderliches Novum. Fürchtete Stalin vielleicht den Gesichtsverlust?

Nun verhält sich Putin aber auch sonst widersinnig und unvorhersehbar und abstrus. Meist erklärt man dann, er existiere in einer eigenen Realität. Das mag teilweise stimmen. Doch handelt es sich vielfach auch um die Anwendung einer Art Madman-Theorie: Putin produziert kalkulierte Unberechenbarkeit. Damit schürt er Angst – und es bleibt in der Tat unklar, wozu er letztlich fähig ist. Wir sollten jedenfalls lieber nicht darauf spekulieren, dass Putin zu einem strategielosen Irrgänger wird, und für alle Fälle damit rechnen, dass seine Aktionen irgendeinem Plan folgen.

Gegen Strategie jedoch hilft nur Strategie. Im Umgang mit Putin muss – selbst im Fall militärischer Antworten – vorsichtige und vorausschauende Reflektiertheit walten. Daher wäre unter anderem dringend angeraten, dass die Schweiz russische, ukrainische und belarusische Oppositionsgruppen in Europa unterstützt. So könnten auf Grundlage einheimischer Expertise längerfristige Widerstandsformen und tragfähige Modelle einer innerstaatlichen Transformation entstehen.

* Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lebt als freier Autor in Aarau. Letztes Jahr erschien von ihm das «Handwörterbuch der russischen Seele». Mehr Infos auf www.estis.ch.

Der US-Politologe John Mearsheimer kritisiert seit Jahren die westliche Ukrainepolitik scharf. Macht ihn das zum nützlichen Idioten Moskaus?

Es kommt nicht häufig vor, dass ein politikwissenschaftlicher Vortrag zum Internethit wird, und noch seltener dürfte es so sein, dass der Referent sich plötzlich auch noch mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, eine Art Landesverräter zu sein. Genau dies aber ist jüngst dem US-Politologen John Mearsheimer von der Universität Chicago widerfahren. Mearsheimers Fachgebiet sind internationale Beziehungen, er zählt zu den prominentesten Vertreter:innen des sogenannten «Realismus». Dieser geht davon aus, dass gerade Grossmächte rigoros ihre Interessen verfolgen. Supranationale Instanzen, die die zwischenstaatlichen Verhältnisse regeln würden, spielen dagegen allenfalls eine untergeordnete Rolle, genauso wie Moral oder Ideologie.

Nun hat Mearsheimer im Juni 2015 – ein Jahr nach der Annexion der Krim durch Russland – einen Vortrag unter dem Titel «Die Ursachen und Folgen der Ukrainekrise» gehalten. Darin kritisiert der Politologe scharf den Versuch der USA und ihrer Verbündeten, das Land aus dem Einflussbereich Moskaus herauszulösen: mittels der Osterweiterung von Nato und EU, aber auch durch Unterstützung der «Orangenen Revolution» 2004. Erst diese forcierte Westintegration würde die russische Aggression provozieren, so Mearsheimer.

Wenn der Iran recht hat

Entsprechend kursiert dieser Vortrag auf Youtube unter dem Titel «Why is Ukraine the West’s Fault?» Seit Beginn der Invasion hat er sich viral verbreitet, gegenwärtig wurde er fast 21 Millionen Mal abgerufen – auch begünstigt dadurch, dass das russische Aussenministerium einen Essay Mearsheimers mit demselben Titel auf Twitter teilte.

Letzteres darf als Zeichen der Wertschätzung von zweifelhafter Seite gelten. So griff auch die neokonservative US-Historikerin Anne Applebaum den Politikwissenschaftler scharf an: Auf Twitter meinte sie, Mearsheimer hätte die Legitimation für den russischen Angriff geliefert. Tatsächlich kokettiert der Politologe in seinem Vortrag selbst damit, in Moskau und Peking mehr Gehör zu finden als in Washington, wo man parteiübergreifend seine Analysen für veralteten Kram halte. Allerdings belege das nur, so Mearsheimer, dass ausserhalb des Westens genau ein solches Grossmachtkalkül nach wie vor dominiere.

Diese Einschätzung mache ihn aber noch nicht zum Propagandisten Moskaus, schrieb das US-Newsportal «The Intercept» in Erwiderung auf Applebaum: «Aufrichtige interne Kritik» an der Aussenpolitik eines Landes klinge häufig so wie «unaufrichtige Kritik aus dem Ausland». Auch etwa der Iran habe schon US-Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo angeprangert, was zwar bigott sei, sachlich aber zutreffend.

Allerdings sei, so wiederum die Wissenschaftler Jan Smolenski und Jan Dutikiewicz im US-Magazin «The New Republic», die Fixierung auf Grossmachtinteressen grundsätzlich problematisch. «Westplainer» wie Mearsheimer würden ausblenden, dass osteuropäische Staaten selbst Akteure seien – wie auch auch die dort lebenden Menschen, von denen viele die Westintegration wollen. Tatsächlich sympathisiert Mearsheimer zwar mit dem linken Flügel der US-Demokraten. Seine geostrategischen Erläuterungen klingen aber eher nach Politikberatung für Technokrat:innen im State Departement. Soziale Kämpfe für Veränderung von unten spielen darin keine Rolle.

Der Ökonom Adam Tooze meinte im «New Statesman», dass Mearsheimers realistischer Ansatz zwar die dem Konflikt zugrundeliegenden Spannungen erkläre, nicht aber, warum Russlands Wladimir Putin tatsächlich die Invasion befahl – dafür seien die Analysen des Realismus schlicht zu schematisch. Genauso wenig würde ein blosser Hinweis auf die imperialistische Konkurrenz um 1900 erklären, warum der deutsche Kaiser Österreich-Ungarn im Juli 1914 eine Blankovollmacht erteilte. Ausserdem erinnerte Tooze an die «dunklen Ursprünge» dieser Denkschule im ausgehenden 19. Jahrhundert, als westliche Staaten die Welt unter sich aufteilten und dabei aneinandergerieten.

Moral und Menschenrechte zählten da nicht viel. Trotzdem besitze der realistische Ansatz viel Erklärungskraft, so Tooze. Nur sollte man wohl von ihm nicht Hinweise erwarten, wie ein Weltzustand zu erreichen ist, in dem nicht länger Grossmachtkalküle das Geschehen diktieren.

In Biarritz, Köln und London werden die Villen reicher Russ:innen und Immobilien des russischen Staates besetzt. Ein Beispiel für subversiven Widerstand gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine.

Die Nachricht machte am Montagmorgen die Runde: Im französischen Biarritz, einem Atlantikstädtchen und beliebten Ferienziel russischer Oligarch:innen, haben zwei Aktivisten eine prunkvolle Villa besetzt. Laut Medienberichten brachen sie aus Protest gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine ins Gebäude ein, tauschten die Schlösser aus und hissten auf der Terrasse die ukrainische Flagge. Nun wollen sie mit der Stadtverwaltung verhandeln, damit das Haus aus der Ukraine Geflüchteten als Unterkunft dienen kann. Pierre Haffner, einer der beiden Besetzer, postete auf YouTube zunächst ein Video der Aktion. Später teilte er auf Facebook mit, er und sein Mitstreiter Sergej Saweljew, ein belarusischer Aktivist, der letztes Jahr aus Russland nach Frankreich geflüchtet war, seien festgenommen worden.

Bemerkenswert ist dieser Akt, weil die Besitzverhältnisse der Villa direkt ins enge Putin-Umfeld führen. Früher soll das luxuriöse Gebäude mit acht Schlafzimmern, drei Bädern und Meersicht dem russischen Geschäftsmann Kirill Schamalow gehört haben. Schamalow ist aber nicht nur ein milliardenschwerer Oligarchenspross, sondern auch der Exmann von Putins jüngster Tochter Katerina Tichanowa. Seit der Scheidung soll die 35-Jährige im Grundbuch der Biarritzer Villa eingetragen sein.

Unterkunft für Geflüchtete

Die Idee hinter der Besetzung erklärte der russische Dissident und Menschenrechtler Wladimir Osetschkin, der den beiden Aktivisten nahesteht, auf Facebook so: «Hunderte Villen in Europa gehören Putins Familie und ihren Oligarchenkomplizen. Ihr luxuriöses bürgerliches Leben ist zu einem logischen Ende gekommen, denn Kriegsverbrechen und die Verbrechen des Regimes müssen bezahlt werden. Jetzt geht es nicht mehr um glamouröse Partys und Feste in Villen. Es ist wichtig, im 21. Jahrhundert verantwortungsvoll und fair zu sein.»

Dass Besetzungen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine ein so subversives wie erfolgreiches Protestmittel sein können, haben in den letzten Tagen auch Aktivist:innen in Deutschland und Grossbritannien demonstriert. In Köln besetzte am Samstag eine Gruppe ein Gebäude, das dem russischen Staat gehört und seit Jahren leer steht, um auf den Wohnungsnotstand in der Stadt hinzuweisen. Auch dort, so die Besetzer:innen, könne die Immobilie sinnvoll genutzt werden: als Unterkunft für ukrainische Geflüchtete. Entsprechend kreativ war auch eines der Transparente, die die Aktivist:innen an die Hausfassade hängten: «Nieder mit den Waffen – her mit den Schlüsseln». Die Polizei räumte die Besetzung, festgenommen worden soll niemand sein.

Die dritte Besetzung der letzten Tage nahm die Villa des Oligarchen Oleg Deripaska an Londons vornehmster Lage ins Visier, deren Wert fünfzig Millionen Pfund betragen soll. Deripaska, der ein Aluminium-Imperium besitzt, steht zwar auf der britischen und der US-Sanktionsliste, nicht aber auf jener der EU. Auch in London forderten die Besetzer:innen aus der anarchistischen Szene, die sich auf den ukrainischen Anarchisten Nestor Machno bezogen, die Immobilie ukrainischen und anderen Geflüchteten zur Verfügung zu stellen: «Russische Oligarchen: Ihr besetzt die Ukraine, wir besetzen euch», liessen sie in einem Statement verlauten – und riefen dazu auf, es ihnen gleichzutun.

Auch in der Schweiz besitzen übrigens diverse Oligarchen Immobilien: So kann der enge Putin-Vertraute Gennadi Timtschenko, der gegenwärtig auf der Sanktionsliste steht, eine prunkvolle Achtzehn-Millionen-Franken-Villa in Cologny am Genfersee sein Eigen nennen. Er selbst lebt zwar offenbar nicht mehr dort, seine Familie ist allerdings offenbar immer wieder zu Besuch. Am Genfersee besitzt auch ein Sohn von Wladimir Jakunin, Russlands ehemaligem Eisenbahnminister und gutem Freund Putins, Immobilien – genauso wie der Oligarch Alischer Usmanow, gegen den im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine ebenfalls Sanktionen verhängt wurden. Diese und weitere Villen reicher Russ:innen in der Schweiz dürften derzeit vermutlich ungenutzt sein.

Armenien wird zu einem wichtigen Zufluchtsort für Russ:innen. Gleichzeitig ist die ehemalige Sowjetrepublik stark von den westlichen Sanktionen betroffen.

Immer mehr Russ:innen verlassen ihr Land in Richtung Armenien. Vor allem junge Männer verstecken sich in der Republik im Südkaukasus, damit sie nicht zum militärischen Einsatz in die Ukraine geschickt werden. Rund dreissig Flüge täglich landen aus verschiedenen russischen Städten in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Wer sofort fliegen will, muss etwa zehnmal mehr als vor dem Krieg für ein Ticket zahlen – bis zu 1 500 Euro.

«In Armenien herrscht keine Russophobie», sagt Jewgeni. Auch Serbien wäre für ihn eine Option gewesen. «Ich habe mich für Armenien entschieden. Hier fühle mich willkommen und hoffe, dass ich bald einen Job finde.» Der junge Mann ist Programmierer. Wegen der westlichen Sanktionen gegen Russland haben bereits einige Dutzend russische Unternehmen ihre Geschäfte nach Armenien verlagert. Sie sind vor allem in der Techbranche tätig.

Hajk Tschobanjan ist Geschäftsführer eines Verbands von Technologieunternehmen in Jerewan. Er hilft russischen sowie ukrainischen Kolleg:innen, den geschäftlichen Umzug nach Armenien zu bewerkstelligen. «Wir arbeiten derzeit daran, ein grosses Unternehmen mit 300 Beschäftigten in Armenien zu registrieren», sagt er.

Grosse Diaspora in beiden Ländern

Die ehemalige Sowjetrepublik ist stark von Russland abhängig. Armenien ist Mitglied im Militärbündnis der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKH), das von Moskau dominiert wird. Die einzige russische Garnison im Südkaukasus mit etwa 5000 Soldat:innen befindet sich in der armenischen Stadt Gjumri. Ausserdem ist Russland Schutzmacht in Bergkarabach, seine 2000 Soldaten sollen den Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan sichern. Als Russlands Verbündeter ist Jerewan oft gezwungen, auf internationaler Ebene die russische Position zu unterstützen.

Bis zu drei Millionen Armenier:innen leben derzeit in Russland, mehr als in der Republik selbst. Viele Russlandarmenier:innen machen sich derzeit auf den Weg zurück in ihre alte Heimat. Doch es gibt noch keine Massenrückkehr. Auch in der Ukraine gibt es eine grosse Gemeinde von rund 350 000 bis 500 000 Armenier:innen. Die armenische Regierung macht keine Angaben darüber, wie viele von ihnen bereits zurückgekommen sind. Aus der Ukraine fliehen Armenier:innen aber auch in Richtung Westen. Tausende von ihnen haben einst Armenien verlassen, um Armut und Krieg zu entkommen.

Aktuell sind die Sanktionen gegen Russland in Armenien unmittelbar zu spüren, vor allem, weil der Rubel fällt. Armenien ist nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich von Russland abhängig. Russland ist Armeniens wichtigster Handelspartner. Sowohl beim Import als auch beim Export steht es an erster Stelle. Etwa achtzig Prozent der armenischen Energieversorgung sowie die Eisenbahn und viele Banken und Versicherungsunternehmen befinden sich in russischer Hand.

Bedeutend sind auch die Geldüberweisungen der rund 400 000 Arbeitsmigrant:innen aus Russland. Der allergrösste Teil sind Saisonarbeiter:innen. Ihre Einkünfte bilden die Hauptgrundlage für den Lebensunterhalt ihrer Familien. Durch die Abwertung des Rubels verlieren diese Familien fast die Hälfte ihres Einkommens. Armenische Fernsehsender zeigen, wie Menschen in den vergangenen Tagen vor den Schaltern der Banken und der Wechselstuben anstanden. Viele tauschten russische Scheine in armenische Dram um, allerdings nur für den täglichen Einkauf. Sie hoffen, dass der Rubel bald wieder steigt.

Jetzt im Frühling beginnt die Zeit der Saisonarbeit. Viele Familien, vor allem in den Dörfern, sind unsicher, ob sie sich auf den Weg nach Russland machen sollen. Allerdings haben viele keine Wahl, weil sie zu Hause keine Perspektive sehen. Sie packen ihre Sachen und gehen nach Russland – trotz des Krieges.

Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen – Waffen in die Ukraine bringen: Polen spielt im Krieg eine wichtige Brückenrolle. Doch das Land könnte ins Straucheln geraten.

Würde man die Hilfe, die bislang an die Ukrainer:innen geleistet wurde, nach Staaten klassifizieren: Polen würde unbestritten zur Spitze zählen. Die Unterstützung umfasst die Aufnahme von über 1,3 Millionen Flüchtenden, Hunderte Hilfstransporte aus Polen in die Ukraine, die Lieferung defensiver Waffen wie auch Sanktionsforderungen, die mit am schärfsten in Warschau formuliert werden.

Am Mittwoch aber ist Polens Vorschlag, der ukrainischen Luftwaffe gut zwei Dutzend Mig-29-Kampfflugzeuge aus Beständen der polnischen Streitkräfte zu überlassen, von den USA und anderen Nato-Staaten abgeschmettert worden. Der Warschauer Plan sah vor, die Flieger über die US-Basis in Ramstein an die Ukraine zu liefern; im Gegenzug würde Polen gebrauchte US-Kampfjets erwerben. Doch die USA winkten ab, da der Vorgang «zu einer erheblichen russischen Reaktion führen [könnte], die die Aussichten auf eine militärische Eskalation mit der Nato erhöhen könnte», so Pentagon-Sprecher John Kirby.

Der Vorgang um die Kampfflieger zeigt: Die polnische Gesellschaft, aber auch die polnische Regierung sind nicht nur geografisch näher an der ukrainischen Tragödie als die meisten anderen Nato-Staaten. In Polen ist auch eine geschichtliche Erfahrung präsent, die bis in die Gegenwart fortwirkt: Die im Jahr 2022 überfallene Ukraine, so die verbreitete Wahrnehmung, gleiche der 1939 angegriffenen Zweiten Polnischen Republik. Polen wurde damals von den Alliierten – Frankreich und Grossbritannien – trotz Beistandsgarantien faktisch im Stich gelassen.

Die Erinnerung daran hat sich ins kollektive polnische Bewusstsein gebrannt, als Schmach der Westallierten, die man nicht noch einmal erfahren will. Zudem herrscht in Polen die Angst vor dem Szenario, künftig an eine russisch okkupierte oder von Russland dominierte Ukraine zu grenzen. Diese Angst war auch der Grund dafür, dass Polen die Lieferung der Mig-29-Flieger als Offensivwaffen keinesfalls im Alleingang, sondern nur «einstimmig innerhalb der Nato» vollziehen wollte. Ein Drittel der Menschen im Land sagten in einer Umfrage vom 5. März, der Krieg werde nach Polen überschwappen.

Zwei Wochen nach Beginn des Krieges wird langsam deutlich, dass dessen Auswirkungen Polen ins Straucheln bringen könnten: ökonomisch und finanziell, auch wegen der Mammutaufgabe der Aufnahme der Flüchtenden. Das Land konnte die bislang knapp 1,3 Millionen Schutzsuchenden aus der Ukraine nur deshalb relativ konfliktfrei und menschenwürdig aufnehmen, weil die Leute an der Basis dies tun. Junge und alte Freiwillige, Vereine und Stiftungen, selbst Unternehmen: Sie alle organisieren Hilfe, nehmen die Flüchtenden vielfach in eigenen, privaten Unterkünften auf.

Diese beeindruckende Hilfe kaschiert dabei, wie überfordert die Zentralbehörden sind. Bislang meistern vor allem Gemeinden und Städte die Aufnahme der Flüchtenden – die einen gut, die anderen schlechter. Welches Verständnis indes die rechte PiS-Regierung von der Flüchtlingspolitik hat, zeigen jüngste Worte von Vizepremierminister Henryk Kowalczyk: «Es ist ein Verdienst der Regierung, dass es heute in Polen keine Flüchtlingslager gibt.» Tatsächlich muss die Regierung in Ermanglung entsprechender Strukturen darauf bauen, dass die Flüchtenden in Privatwohnungen von Pol:innen eine Unterkunft finden. Um dies zu unterstützen, hat sie mittels eines Sondergesetzes am Mittwoch privaten Gastgeber:innen umgerechnet 270 Franken pro Person und Monat zugesagt, wenn sie ukrainische Flüchtende aufnehmen.

Das Sondergesetz gibt ukrainischen Geflüchteten weitgehende Rechte: Sie können in Polen eine Arbeit aufnehmen, erhalten Sozialleistungen, ihr fester Aufenthalt ist für zunächst achtzehn Monate gesichert und kann bei Bedarf verlängert werden. Die Aufnahme von Geflüchteten stösst weiterhin auf eine grosse Zustimmung. Doch das wachsende Chaos, das neben funktionierender und wirklich solidarischer Hilfe sichtbar ist, macht immer mehr Pol:innen Sorgen, denn jeden Tag kamen zuletzt bis zu 140 000 Menschen über die Grenze.

Die grosse Mehrheit der Geflüchteten hat einen ukrainischen Pass, rund sechs Prozent stammen indes aus über hundert anderen Ländern. Für sie als nichtukrainische Staatsbürger:innen gilt das polnische Sondergesetz nicht – ebenso wenig wie viele andere Erleichterungen, etwa die kostenlose Nutzung von Fernzügen und Nahverkehr in vielen Städten. Das Gesetz, als solches solidarisch, notwendig und progressiv, ist also zugleich sehr diskriminierend. Doch dies geht im täglichen Strudel an Ereignissen auch in Polen unter.

Heute setzten sich in der Türkei erstmals seit Kriegsbeginn die Aussenminister der Konfliktparteien an einen Verhandlungstisch. Präsident Erdogan als Vermittler verfolgt dabei ganz eigene Interessen.

Die Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine wird für die Türkei immer mehr zu einem Drahtseilakt: Als einziges Nato-Mitglied hat die Regierung von Recep Tayyip Erdogan den eigenen Luftraum für russische Flugzeuge nicht gesperrt. Zwar verurteilt sie Russlands Vorgehen, beteiligt sich aber nicht an Sanktionen gegen das Land. Denn die Türkei unterhält enge Beziehungen sowohl zu Russland als auch zur Ukraine. Deswegen wiederholt die Regierung regelmässig, die Kontakte zu keinem der beiden Partner aufgeben zu wollen, und bemüht sich in diesem Konfliktum eine neutrale Haltung und eine Deeskalation.

In den vergangenen Monaten haben sich Erdogan und sein Aussenminister Mevlüt Cavusoglu mehrfach als Vermittler zwischen den Parteien angeboten. Auf Initiative Ankaras redeten heute im türkischen Badeort Antalya erstmals der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba und sein russischer Amtskollege Sergei Lawrow miteinander. Allerdings sind die Gespräche ergebnislos geblieben – immerhin wollen die beiden Aussenminister weiterverhandeln.

Drohnen für die Ukraine

Erdogan will die Tür weder zur Ukraine noch nach Russland zuschlagen: Denn Kiew und Ankara sind während seiner Amtszeiten zu wichtigen Handelspartnern geworden und haben Handelsabkommen und Waffenverkäufe in Milliardenhöhe unterzeichnet. So setzt die Ukraine aktuell Kampfdrohnen ein, die von der Türkei noch vor dem Ausbruch des Kriegs geliefert worden sind. Noch vor wenigen Tagen sollen erneut türkische Drohnen in die Ukraine geliefert worden sein.

Um Zurückhaltung bemüht, hat Ankara nach langem Lavieren erst vergangene Woche den Zugang von russischen Kriegsschiffen zum Schwarzen Meer eingeschränkt. Damit setzte es das Montreux-Abkommen von 1936 durch, das den Seeverkehr in den türkischen Meerengen regelt. Doch Aussenminister Cavusoglu war es wichtig zu betonen, dass diese Massnahme nicht gegen Russland gerichtet sei, sondern dass lediglich internationales Recht angewendet werde.

Denn noch engere Beziehungen pflegt Erdogan zu Wladimir Putin – beide haben sich schon mehrfach «Freunde» genannt. Vor allem aber ist die Türkei abhängig von russischen Rohstoffen: Im Jahr 2020 stammten fast 34 Prozent der Gasimporte und rund 65 Prozent der Weizenimporte vom Schwarzmeernachbarn. Der russische Staatskonzern Rosatom ist federführend beim Bau des ersten Atomkraftwerks in der Türkei, das 2023 in der Provinz Mersin seinen Betrieb aufnehmen soll. Das AKW soll mehr als zehn Prozent des türkischen Energiebedarfs abdecken.

Steigende Energie- oder Lebensmittelkosten sind das Letzte, was Erdogan jetzt noch gebrauchen kann. Im Februar sind die Konsument:innenpreise so hoch geklettert wie seit über zwanzig Jahren nicht mehr, teilte vergangene Woche das türkische Statistikamt mit. Wenn die Preise jetzt noch weiter nach oben gehen, könnte das den Unmut gegen die AKP-Regierung und Präsident Erdogan weiter befeuern – und im Sommer 2023 sind in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geplant.

Die Gespräche in Antalya geben Erdogan auch die Gelegenheit, sich als verlässlicher Partner der Nato zu beweisen. Mit dem Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 und der Ankündigung, die militärische Zusammenarbeit mit Moskau noch weiter auszubauen, hat die Türkei ihre Verbündeten verärgert. Wenn sich Erdogan jetzt als Friedensdiplomat inszeniert, dann geht es ihm um sein eigenes politisches Überleben – und sein Image in der internationalen Gemeinschaft.

In den USA ist das Ausland selten ein Thema. Warum gerade die US-Linke mehr widerständige Geschichten aus der Ukraine, Russland oder Syrien hören sollte.

Über internationale Themen rede ich in meinem US-amerikanischen Bekanntenkreis nur selten. Die USA sind bekanntlich ein Einwanderungsland mit Menschen aus aller Welt. Trotzdem ist das «Ausland» für einen Grossteil der Leute irgendwie weit weg und ziemlich vage. Die US-Medien berichten über andere Nationen auffallend oft in religiös-moralischen Begriffen wie «gut» und «böse» statt mit einer sachbezogenen politischen Analyse. Wenn die Regierung oder die Bevölkerung eines Landes überhaupt als Akteure wahrgenommen werden, geht es hauptsächlich darum, ob dieses Land eher im Interesse oder aber gegen die Interessen der USA handelt. Die Beweggründe der jeweiligen Nation bleiben unwichtige Nebensache.

Das war zu Beginn der Ukraineinvasion nicht anders. Selbst der ansonsten sorgfältig informierende öffentliche Sender National Public Radio schaltete auf patriotische Propaganda um. Es tönte im Nu wieder so wie damals im Kalten Krieg. Schliesslich ist sogar der Erzfeind im Osten derselbe geblieben. Ausserdem ist Wladimir Putin ein Russe, der sich besonders leicht dem «Reich des Bösen» (Ronald Reagan 1983 über die Sowjetunion) zuordnen lässt.

Nichts einigt so schnell wie ein gemeinsamer Feind. Der russische Einmarsch in die Ukraine schweisste jedenfalls den polarisierten US-Kongress und die ebenso polarisierte US-Bevölkerung zusammen wie seit langem nicht mehr. Bis auf eine Hand voll trumpistischer Putin-Fans. Und bis auf einen Teil der Linken. Die Demokratischen Sozialisten Amerikas (DSA) veröffentlichten am 26. Februar ein Communiqué, in dem sie die russische Invasion in die Ukraine scharf verurteilten; gleichzeitig rief die grösste sozialistische Organisation, der auch prominente Mitglieder wie Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders angehören, die USA auf, «sich von der Nato zurückzuziehen und den imperialistischen Expansionismus zu beenden, der die Voraussetzungen für diesen Konflikt geschaffen hat».

Die Idee, dass die USA für Putins Aggressionskrieg in der Ukraine (mit)verantwortlich seien, wurde von rechts bis weit in die linken Kreise hinein zurückgewiesen. Und zwar einmal mehr mit viel moralischer Empörung und wenig politischen Argumenten. Dabei gäbe es gerade auf linker Seite interessante Diskussionspunkte, vor allem, wenn man die internationale Linke miteinbezieht. Während die US-Sozialist:innen die Nato als imperialistisches Projekt kritisieren, begrüssen manche linke Aktivist:innen in Osteuropa die Nato als Schutzwall gegen den russischen Imperialismus.

«Was Russland in der Ukraine und was China in Hongkong und Taiwan tut, ist sehr verschieden. Doch haben wir mit den Ukrainer:innen gemein, dass unser Leben, unsere Proteste und unser politischer Handlungsspielraum durch eine US-Linke vermindert werden, die den Kampf gegen den US-amerikanischen Staat über alles stellt.» Dies gibt ein Vertreter des linken Kollektivs Lausan aus Hongkong in einem Beitrag der US-Journalistin Sarah Jones zu bedenken. Er fügt hinzu, dass, wenn die US-Linken andere Staaten wie Russland, China oder den Iran und nicht die Menschen selbst als wichtigstes Bollwerk gegen den US-amerikanischen Expansionismus und Imperialismus sähen, sie die Geschichten des Widerstands, der Rebellion und des sozialen Wandels ignorierten oder missachteten, die nicht mit dem Westen verbunden seien.

Ich nehme mir vor, auf diese widerständigen Geschichten aus der Ukraine und aus Russland, aus Afghanistan, Syrien und von anderswo zu achten. Und mehr darüber im Bekanntenkreis zu reden.

Auf dem Podium im «Kosmos»: Leandra Bias, Anna Jikhareva, Olha Martynyuk und Moderator Samir.

Ein Podium im Zürcher Kulturhaus Kosmos suchte nach Beschreibungen für die Kriegswirklichkeit. Und zerlegte das patriarchale Weltbild von Wladimir Putin.

Welche Perspektiven für den Frieden? Mit dieser Frage war das von der WOZ und «Kosmopolitics» organisierte Podium überschrieben, und sicher kreisten auch die Gedanken der zahlreich Anwesenden um die Hoffnung auf Frieden. Doch zuerst führt uns die ukrainische Historikerin Olha Martynyuk am Montagabend den Krieg vor Augen. Erst ein paar Tage ist es her, seit sie aus Kiew zu ihrem Freund in die Schweiz geflüchtet ist. Sie erzählt, wie sie zu Explosionen vor ihrem Fenster aufgewacht ist, schildert ihre Gefühle als Geflohene: Scham, Angst, Sorge um zurückgebliebene Freund:innen und Familienmitglieder. Mehrfach bricht ihr ungläubiges Staunen darüber durch, dass ein solcher Angriffskrieg heute wieder möglich ist. 

Auch die feministische Politikwissenschafterin Leandra Bias von der schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace beschreibt ihre «Schockstarre» – und ihre Zweifel: Was bedeutet diese brutale militärische Invasion für die (bisherige) Arbeit der Friedensförderung? Ebenso gemischte Gefühle bei der WOZ-Reporterin Anna Jikhareva: Wut und Schrecken über den Angriff, Scham als russische Bürgerin. Unter der Gesprächsleitung von Filmemacher Samir machen sich die drei daran, Logik in diesen Krieg zu bringen, der uns vielleicht auch deshalb überrascht, weil er auf den ersten Blick derart unlogisch und irrational erscheint, wie Jikhareva erklärt.

Diese tastende Sinnverleihung nimmt wohltuend andere Wendungen, da für einmal drei junge Frauen auf dem Podium sitzen: Das Publikum bleibt verschont von geopolitischen Grossentwürfen, Militärhistorie, Fachsimpeleien zu Waffensystemen. Olha Martynyuk ortet ein Hauptproblem der Wahrnehmung des Krieges darin, dass «Russland» ständig «essenzialisiert» werde. Anstatt wie bei jeder Nation Zufälle und die historische Gewordenheit zu betonen, übernehme man die Fantasie eines ewigen Kerns, was Wladimir Putin direkt in die Hände spiele.

Anna Jikhareva zeichnet nach, wie die russische Rede vom Kampf gegen die «ukrainischen Faschisten» eine Propagandaerzählung ist, die bereits gegen die ukrainische Euromaidan-Revolution von 2013/14 hervorgeholt wurde – und die nun den Vorwand für den Angriffskrieg liefert. Leandra Bias zeigt ergänzend auf, wie diese russische Propaganda einer «Back to the Future»-Logik folgt: Der Rückgriff auf den heroischen Weltkriegssieg gegen die Nazis dient als missbräuchlich eingesetzte Folie für die Zukunft eines Landes, das nur noch in der Fantasie als potentes, geeintes Grossreich dasteht.

Explizit vermieden wurden Psychologisierungen des Hobbyhistorikers Putin als starker, aber auch schrecklicher Mann, womöglich getrieben von gekränkten Gefühlen. Stattdessen wurde sein penetrantes patriarchales Weltbild fachgerecht zerlegt – und ganz konkret auch sein auf die Ukraine gemünzter Vergewaltigungswitz im Telefonat mit Emmanuel Macron.

Welche Perspektiven für den Frieden in dieser Katastrophe? Antikriegsmassnahmen müssen breit gestreut bleiben – und auch kommende Konflikte mitbedacht werden. Die Podiumsveranstaltung liefert dazu konkrete Ideen: Es gilt, den Krieg ökonomisch zu bekämpfen, etwa via Sanktionen, aber auch im Umgang mit russischen wie ukrainischen Oligarchengeldern auf Schweizer Bankkonten. Eine grosszügige unkomplizierte Aufnahme von Geflüchteten aus allen Kriegsregionen der Welt gehört ebenso dazu wie der anhaltende Kampf gegen die Klimaerhitzung – als künftiger Kriegsgrund – und gegen das Patriarchat. Und natürlich muss man gerade auch angesichts dieses brutalen Angriffskriegs weiter beharrlich über Abrüstung reden.

Das ganze Gespräch gibt es hier zum Nachschauen.

Ein Gastbeitrag von Halyna Petrosanyak*

Die russische Kultur wäre längst nicht so grossartig ohne ukrainische Beiträge. Eine kleine Kulturgeschichte von volkstümlichen Bräuchen bis zum schwarzen Quadrat.

Können Sie sich vorstellen, dass Deutschland die Schweiz für sich reklamiert, mit der Begründung, ein Teil davon gehöre zu Deutschland, weil die Bevölkerung Deutsch spreche und das Gebiet im Hochmittelalter zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehört habe? Für jeden europäischen Menschen ist das Unsinn. Wladimir Putin aber denkt genau in diesen Kategorien.

Die Ukraine hat eine eigene Kultur und eine eigene Sprache, die trotz zahlreicher Verbote im Russischen Reich überlebt hat. Auf Ukrainisch gibt es eine gewichtige und eigenständige Literatur. Das erste Werk dieser Literatur erschien nicht in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, sondern 1798. Es handelt sich um ein burleskes Epos in der volkstümlichen Sprache der damaligen Ukraine, verfasst von Iwan Kotljarewski. Das Werk ist eine Travestie, so lässt der Autor zum Beispiel griechische Götter als ukrainische Kosaken auftreten. Die Sprache dieses Werks ist zur Grundlage des heutigen Ukrainisch geworden. Präzis und meisterhaft beschreibt Kotljarewski die ukrainischen Bräuche und Traditionen.

Ob in Literatur, Musik oder Kunst

Seitdem ist die ukrainische Literatur nie verstummt, obwohl das russische Zarentum bis zu seinem Ende 1917 mehrmals strenge Verbote erliess, auf Ukrainisch zu publizieren. Einige ukrainische Schriftsteller sind ins Zentrum des Reiches, nach St. Petersburg und Moskau, gegangen und haben begonnen, auf Russisch zu publizieren. So haben sie natürlich auch eine viel breitere Leser:innenschaft bekommen. Ein Klassiker der russischen Literatur, Nikolai Gogol, wurde in der Region Poltawa in der Ukraine geboren und ist dort aufgewachsen. Mit seiner Mutter stand er lange in einem Briefwechsel, selbstverständlich auf Ukrainisch. 

Ein weiteres Beispiel ist der Autor eines sehr bekannten Liedes: «Schwarze Augen, leidenschaftliche Augen, brennende, schöne Augen, wie ich euch liebe, wie ich euch fürchte!» Das Lied ist zwar auf Russisch geschrieben – der Sprache des Imperiums –, aber sein Autor, Jewhen Hrebinka, war Ukrainer.

Auch wissen nicht alle, dass zum Beispiel Kasimir Malewitsch kein russischer, sondern ein ukrainischer Maler mit Eltern polnischer Herkunft war, in Kiew geboren und aufgewachsen. Auch Tschaikowsky, der grosse Komponist, war ukrainischer Abstammung. Sein Grossvater kam ebenfalls aus der Region Poltawa und studierte an der Kiewer Mohyla-Akademie. Diese Künstler, wie auch Dutzende andere, galten und gelten noch heute als Russen. Denn sie gingen damals nach Moskau oder St. Petersburg, und ihre Kunst wurde als russische Kunst der Welt präsentiert.

Heutige Schriftsteller:innen, die auf Deutsch schreiben und eine Migrationsgeschichte haben, gehören nicht nur der deutschen Kultur, sondern auch der Kultur ihrer ursprünglichen Heimat an. Navid Kermani ist nicht nur ein deutscher, sondern auch ein iranischer Schriftsteller, Catalin Dorian Florescu nicht nur ein Schweizer, sondern auch ein rumänischer Autor und Hans Zimmer nicht nur ein amerikanischer, sondern auch ein deutscher Komponist und so weiter. Natürlich sind sie vor allem Künstler, aber ihr biografischer und kultureller Hintergrund prägt ihre Kunst.

Was daraus folgt? Die grosse russische Kultur, wie man sie in Europa kennt, wurde von Menschen verschiedener Nationen geschaffen. Russland hat jedoch diese Künstler für sich vereinnahmt – deswegen sind sie heute ausschliesslich als russische Künstler:innen bekannt. Das ist vielen meiner deutschsprachigen Freund:innen nicht bewusst. Jetzt, wo Putin diesen Krieg führt, ist es höchste Zeit, daran zu erinnern.

* Halyna Petrosanyak ist eine der bedeutendsten Lyriker:innen der Ukraine. Seit bald sechs Jahren lebt sie in der Schweiz. Soeben ist ihr Lyrikband «Exophonien» auf Deutsch im Verlag der gesunde Menschenversand in der Reihe «essais agités» erschienen.

Mit dem Status S schafft der Bundesrat unkompliziert Schutz für Geflüchtete aus der Ukraine. Zuerst müssen sie aber auch in die Schweiz reisen können.

Ob es tatsächlich stimme, dass sie für die Zugfahrt kein Ticket brauche? Das wollte die Frau auf dem Bahnperron in St. Gallen wissen. Sie sei aus der Ukraine in die Schweiz gekommen, ihre Schwester lebe hier. Nun wolle sie nach Zürich, um rechtliche Abklärungen zu treffen. Auf der Fahrt erzählte sie die Geschichte ihrer Flucht: wie sie am Freitag nach dem russischen Angriff mit ihrem kleinen Sohn und einer Tante von ihrem Wohnort nahe Kiew an die rumänische Grenze fuhr. Die letzten Kilometer gingen sie zu Fuss, mussten stundenlang im Gedränge am Grenzübergang warten. Endlich auf der anderen Seite angekommen, konnten sie bei einer Familie übernachten. Ein Flug brachte sie nach Berlin, wo sie Verwandte mit dem Auto abholten. Nach 72 Stunden kamen sie mit ihren drei Koffern erschöpft in der Schweiz an. Nun wollen sie fürs Erste bleiben, eine Wohnung und Arbeit suchen. Sie putze auch, meinte die Dreissigjährige. Aber eigentlich arbeite sie im Finanzbereich.

Arbeit und Reisen möglich 

Am vergangengen Freitag hat der Bundesrat erstmals den Schutzstatus S in Kraft gesetzt. Damit könne man «pragmatisch und unbürokratisch» auf die grosse Zahl von Geflüchteten reagieren, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter. 1,5 Millionen Menschen haben gemäss dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Ukraine verlassen, fast zwei Drittel davon halten sich derzeit in Polen auf. Der Schutzstatus S wurde nach den Erfahrungen der Jugoslawienkriege eingeführt. Verschiedene Migrationsrechtler:innen wiesen im Vorfeld darauf hin, dass es stark auf die Umsetzung ankomme, ob der Status tatsächlich die grosszügige Wirkung entfalte, die er verspreche.

Angesichts der Ankündigung des Bundesrats kann man fürs Erste vorsichtig optimistisch sein, zumindest was die Rechte der ukrainischen Staatsbürger:innen betrifft: Sie sollen ein Jahr in der Schweiz bleiben dürfen, möglichst rasch einer Arbeit nachgehen können, die Kinder die Schule besuchen können. Sie können bei Privaten wohnen, die Reisefreiheit innerhalb Europas ist gewährleistet. Nach dem einen Jahr kann der Bundesrat jederzeit entscheiden, dass die Geflüchteten zurückmüssen – in einen Staat, dessen künftige Form völlig unklar ist. Der Status S könnte so, wie das bei der vorläufigen Aufnahme F der Fall ist, für die Betroffenen eine dauernde Unsicherheit schaffen. Dass der Aufenthalt befristet ist, erschwert den Zugang zum Arbeitsmarkt. Individuell Verfolgte – politische Aktivist:innen etwa – können immerhin ein reguläres Asylgesuch stellen.

Die Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung sei sehr gross, sagte an der Medienkonferenz Christine Schraner Burgener, die neue Leiterin des Staatssekretariats für Migration SEM. Die Kosten einer privaten Aufnahme deckt der Bund allerdings nicht. «Es ist den Kantonen freigestellt, Private in einer speziellen Situation zu entschädigen», heisst es auf der Website des SEM. Für alle Fragen hat die Migrationsbehörde eine Mailadresse eingerichtet.

Busse und Züge nötig

Einen Vorteil hat die Ausrufung des Status S auf jeden Fall. Die Zivilgesellschaft, lange aus der Asylpolitik herausgedrängt, kann sich wieder stärker einbringen. Und ihr Druck wird durchaus nötig sein, damit auch jene, die nicht über einen ukrainischen Pass verfügen, aber ebenfalls aus dem Land fliehen, Schutz erhalten. Zumindest bei Personen, die schon in der Ukraine Asyl suchten, soll das laut Keller-Sutter möglich sein. Drittstaatler:innen sollen hingegen in ihre Herkunftsländer zurück.

Entscheidend wird letzlich sein, dass auch Flüchtende in die Schweiz gelangen können, die hier keine Verwandten haben. Eine Petition, die bereits 30 000 Personen unterzeichnet haben, fordert den Bundesrat auf, Busse und Extrazüge zur Verfügung zu stellen. Nur wenn aktiv Fluchthilfe geleistet wird, kann der Schutz auch gewährt werden. Die Gratisfahrt innerhalb der Schweiz ist auf jeden Fall gewährleistet. Auf der Fahrt nach Zürich akzeptierte der Zugbegleiter den Pass der jungen Ukrainerin mit einem freundlichen Lächeln als Ticket.

Der Brand im AKW Saporischschja in einer VIdeoaufnahme vom 4. März. Screenshot: Zaporizhzhia Power Plant via Getty

Nicht nur ein militärischer Angriff auf AKWs kann eine atomare Katastrophe auslösen. Warum das ukrainische Stromnetz unbedingt funktionstüchtig bleiben muss.

Donnerstagnacht attackierten russische Truppen das AKW Saporischschja und nahmen das Kraftwerk danach ein. Anfänglich wirkte es, als ob sie die Reaktoren direkt beschossen hätten. Dem ist aber nicht so: Am nächsten Tag war klar, dass ein Projektil ein 400 Meter entferntes Trainingsgebäude getroffen hatte.

Saporischschja ist mit seinen sechs Reaktoren das grösste AKW Europas und deckt etwa ein Viertel des ukrainischen Strombedarfs. Die russischen Truppen wollen offensichtlich die Stromversorgung im Land schwächen, um das ukrainische Netz zu destabilisieren. Das Land ist aktuell im Inselbetrieb. Das bedeutet, dass das Stromnetz nicht mit ausländischen Netzen verbunden ist. Bricht das ukrainische Stromnetz zusammen, ist das Land mit einem Blackout konfrontiert, der die Kommunikation und die Grundversorgung fundamental bedroht.

Bereits am 28. Februar bat der ukrainische Energieversorger Ukrenergo den Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber, das ukrainische Netz notfallmässig mit dem europäischen zu verbinden, um einen solchen Blackout zu verhindern. Das ist aber technisch gar nicht so rasch umsetzbar, da der ukrainische Netzbetrieb nicht europäischen Standards entspricht und auch die entsprechenden Verbindungsleitungen fehlen.

Ein funktionierendes Netz ist aber auch für AKWs relevant. Rafael Grossi, der Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), appellierte am Freitag an der Pressekonferenz zu Saporischschja eindringlich, dass die Anbindung des AKW ans Netz gewährleistet bleiben müsse. Fünf Reaktoren sind aktuell heruntergefahren, der vierte soll noch mit verminderter Leistung laufen. Wenn dieser ebenfalls abgeschaltet ist, produziert die Anlage keinen Strom mehr. Im Ruhezustand entwickelt ein Reaktor aber immer noch sogenannte Nachzerfallswärme. Für die Kühlung braucht es Pumpen, die ohne Strom nicht laufen. Wird der Reaktor nicht weiter gekühlt, droht eine Kernschmelze wie in Fukushima.

Die Crews sind am Anschlag

Ist ein AKW vom Stromnetz abgekoppelt, sollten Notstromgeneratoren einspringen. Jedes AKW muss Diesel vorrätig haben, um die Notstromgeneratoren einige Tage betreiben zu können. Danach braucht es Nachschub – oder das AKW müsste wieder von aussen Strom erhalten. Ein Reaktor muss im abgeschalteten Zustand monatelang gekühlt werden.

Unklar ist, wo die Notstromgeneratoren in Saporischschja genau platziert sind. In einem modernen Atomkraftwerk sollten sie sicher gebunkert sein. Ob das bei den ukrainischen Anlagen auch so ist, das ist höchst ungewiss. Information dazu sind – vermutlich auch aus sicherheitstechnischen Gründen – zurzeit nicht erhältlich. Würden sie bei einem Angriff beschädigt, könnte dies verheerende Folgen haben, weil das Notkühlsystem nicht mehr funktionieren würde. In Fukushima waren diese Generatoren so ungeschickt platziert, dass sie durch den Tsunami absoffen und keinen Strom liefern konnten, weshalb es dann zur Dreifachkernschmelze kam.

Eine extreme Herausforderung stellt die gegenwärtige Situation auch für die Belegschaft dar. In Tschernobyl, das schon ganz zu Beginn des Krieges von den russischen Streitkräften eingenommen wurde, ist dieselbe Crew seit über zehn Tagen im Einsatz und total erschöpft. Auch sollen ihnen die Lebensmittel ausgehen, wie der Bürgermeister von Slawutisch – wo die meisten Tschernobyl-Angestellten leben – der «Ukrainska Prawda» berichtete. Dasselbe dürfte in Saporischschja passieren, weil es keinen geordneten Schichtwechsel gibt.

Die oppositionellen Medien ausgeschaltet, die sozialen Kanäle blockiert: Vor Russland schliesst sich gerade ein digitaler Vorhang.

Der Weg in die Diktatur dauerte in Russland bloss wenige Tage. Nicht, dass es vorher besonders demokratisch zugegangen wäre; gerade im letzten Jahr hatte etwa die Repression gegen Kritiker:innen des Putin-Regimes ein neues Ausmass angenommen, mit der Inhaftierung des Oppositionellen Alexei Nawalny ebenso wie mit dem Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial. Rückblickend betrachtet, scheint dies die Vorbereitung auf die aktuellen Ereignisse gewesen zu sein. In Russland ist endgültig die Angst zurück. Vor dem Land schliesst sich erneut ein Vorhang – diesmal kein eiserner, sondern ein digitaler.

Am Freitag hat das Parlament diskussionslos ein Gesetz verabschiedet, wonach die Verbreitung angeblicher Fake News über die Streitkräfte mit hohen Geldbussen oder bis zu fünfzehn Jahren Haft geahndet wird. Was «Falschnachrichten» genau sind, bestimmt dabei selbstredend der Kreml. Weil für ihn der Angriff auf die Ukraine bloss eine «militärische Spezialoperation» ist, dürfen Medien seit Tagen das Wort «Krieg» nicht mehr verwenden. Mit dem neuen Gesetz, das im Grunde militärischer Zensur gleichkommt, ist nun alles verboten, was damit in Zusammenhang steht, Protestschilder an Demos ebenso wie Posts auf Social Media. Wer Putins Angriffskrieg beim Namen nennt, zahlt inskünftig einen hohen Preis.

In den letzten Tagen musste man dabei zusehen, wie auch die letzten Reste unabhängiger Berichterstattung beseitigt wurden. Zuerst wurde der oppositionelle TV-Sender Doschd verboten. Im Anschluss an die allerletzte Sendung zeigte der Kanal Tschaikowskys «Schwanensee» – eine Referenz auf das Jahr 1991, als während des Putschversuchs in Moskau das Stück im Fernsehen in Dauerschleife lief. Auch der Radiosender Echo Moskwy, der seit über dreissig Jahren eine Instanz kritischer Einordnung war, gab seine Auflösung bekannt.

Nun ziehen das SRF und die BBC, das deutsche Fernsehen und die meisten anderen ausländischen Medien ihre Korrespondent:innen ab; russische Publikationen wie das Kulturportal «Colta» pausieren, die «Nowaja Gaseta» löschte alle Berichte über den Krieg im Nachbarland und stellte die Arbeit am Newsdesk ein, gab aber immerhin bekannt, weitermachen zu wollen. «Es gibt auch eine gute Nachricht: Das Wort ‹Frieden› haben sie noch nicht verboten», hatte die Redaktion bereits am Donnerstag voll bitterem Sarkasmus verkündet.

Auch der Zugang zu anderen kremlkritischen Medien, zu Facebook, YouTube und Twitter ist in Russland mehrheitlich blockiert und nur noch über VPN möglich. Alexei Nawalny hat auf Twitter ein eigenes Medium angekündigt, das «keine Angst vor Zensur und sowieso vor nichts Angst» hat. Für heute ruft der Oppositionelle weltweit zu Protestkundgebungen auf – wie viele Menschen sich unter der Androhung drakonischer Strafen auf Russlands Strassen trauen, ist allerdings schwer zu sagen.

Klar ist: Die Repression gegen Andersdenkende wird in Zukunft nur noch mehr zunehmen. Entsprechend versuchen Tausende gerade, das Land zu verlassen; Freund:innen und Bekannte bitten verzweifelt um Hilfe und Informationen. Viele befürchten, dass Putins Regime das Kriegsrecht verhängt, was unter anderem die Schliessung der Grenzen zur Folge haben könnte. Was das für die Menschen bedeutet, wird niemand mehr dokumentieren können.

Die Entwicklung erinnert an die dystopische Satire «Tag des Opritschniks» von Wladimir Sorokin. Darin wird Russland im Jahr 2027 beschrieben: abgeschottet von den Ländern des Westens, Kontakte nur noch mit China, regiert von einem brutalen Diktator, zurückgefallen in eine hoch technologisierte, aber dunkle Zeit. Was in Russland seit dem Einmarsch in die Ukraine vor zehn Tagen passiert, scheint dystopischer als alles, was sich Sorokin in seinem Buch ausgemalt hat.

Eine Glosse von Florian Keller

Wäre es bei diesem ersten Mal geblieben, man hätte es vielleicht als Bagatelle abtun können. Bundespräsident Ignazio Cassis über den Krieg in der Ukraine am 28. Februar an der Medienkonferenz des Bundesrats: «Schauen Sie, das ist die grösste Verletzung des Völkerrechts seit dem Zweiten Weltkrieg.» Wie war das? Sprach hier ein Insulaner, der sich, gerade erst aus seiner luftdichten Wohlstandsnarkose aufgewacht, auf die grosse historische Bühne verirrt hatte? Oder war das wirklich nur ein momentanes Versehen, ein kurzer Aussetzer der weltpolitischen Erinnerung?

Die weiteren Indizien sprechen dagegen. Zwei Tage später nämlich doppelte Bundesrätin Viola Amherd im Tagesgespräch bei «SRF News» nach, wobei sie den geopolitischen Rahmen einiges enger zog als Cassis: «Wir haben seit achtzig Jahren in Europa keine kriegerische Auseinandersetzung mehr gehabt.» Krieg? Doch nicht in Europa! Und tags darauf ihre Amtskollegin Karin Keller-Sutter bei «10 vor 10», mit nur leicht verschobenen Nuancen, nachdem sie gerade noch den Jugoslawienkrieg erwähnt hatte: «Wir haben den ersten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg, der alle berührt und alle sehr besorgt. Es sind Europäerinnen und Europäer, die praktisch [unsere] Nachbarn sind.»

Nun könnte es natürlich sein, dass das bloss rhetorisches Kalkül ist, um eigene Aufrüstungspläne zu legitimieren. Oder ist tatsächlich fast der halbe Bundesrat von kollektiver Amnesie befallen? Wenn dem so sein sollte, hätten wir ja wirklich Grund zur Sorge. Aber auch jenseits solcher Ferndiagnosen ist es bedenklich genug, was uns dieser kleine Reigen der Geschichtsvergessenheit zu verstehen gibt: Der Balkan mit Exjugoslawien gehört offenbar schlicht nicht zu Europa (die Krim und die Ostukraine sowieso nicht).

Oder aber, was kein bisschen besser wäre, die Regierung spricht allen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, hier in der Schweiz und auch anderswo, einfach mal kollektiv deren Kriegserfahrung ab. Und falls das damals doch ein Krieg gewesen sein sollte, dann höchstens einer, der, in den Worten von Keller-Sutter, halt längst nicht alle «berührt und besorgt» hatte.

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